STANDARDS - John Frederick Coots: You go to my head

  • STANDARDS - John Frederick Coots: You go to my head

    You Go To My Head ist eine Ballade in der Form AABAC. Jeder Teil entspricht einer achttaktigen Phrase. Zunächst der Text, ein Meisterwerk für sich (Dichter: Haven Gillespie):

    You go to my head
    and you linger like a haunting refrain,
    and I find you spinning ´round in my brain
    like the bubbles in a glass of champagne.

    You go to my head
    like a sip of sparkling burgundy brew
    and I find the very mention of you
    like the kicker in a julep or two.

    The thrill of the thought
    that you might give a thought
    to my plea casts a spell over me.
    Still I say to myself,
    “Get a hold of yourself,
    can´t you see that it never can be.”

    You go to my head
    with a smile that makes my temp´rature rise,
    like a summer with a thousand Julys,
    you intoxicate my soul with your eyes.

    Tho´ I´m certain that this heart of mine
    hasn´t a ghost of a chance in this crazy romance,
    you go to my head.

    Der mit dem Titel startende A-Teil fährt regelmäßig mit Parallelismen fort (die sich auch im Reimschema wieder finden): die Betörung des lyrischen Ichs wird mit der Wirkung diverser alkoholischer Getränke verglichen. Schon hier wird deutlich, wie der Song interpretiert werden muss: sehnsüchtig, aber auch beschwippst, trunken vor Liebe eben.
    Der textlastigere B-Teil enthält zunächst eine Selbstbeobachtung und dann die Selbstermahnung sich keinen falschen Illusionen hinzugeben (der reflektierende, nüchterne Moment also).
    Aber nach einem weiteren schwärmerischen A-Teil bleibt für den abschließenden C-Teil nur noch die Feststellung der Vergeblichkeit jeglicher Vernunft: die Liebestrunkenheit bleibt. Besonders schön ist, wie der ansonsten am Strophenbeginn stehende Titel hier fazitartig ans Ende rückt.

    Zur Musik:

    Die Melodie zeichnet die Syntax des Textes präzise nach: Im A-Teil beginnt die Ausgangsthese mit einem auftaktigen Oktavsprung aufwärts zum höchsten Ton des A-Teils, dann folgen Tonwiederholungen. Die Verse 2 – 4 bestehen aus drei ähnlichen, wieder absteigenden Phrasen, von denen die letzte auf dem Grundton endet. Ein paar Blue-Notes verstärken die betörende Stimmung.
    Der B-Teil klingt gegenüber dem A-Teil intensiviert: durch den höheren Textgehalt entfallen die im A-Teil wirksamen Ruhepunkte und machen einem stetigen Fluss Platz. Die Tonhöhe wird in zwei Stufen schrittweise erweitert. Die Verse 12 – 14 (die Selbstermahnung) enthalten eine einzige Tonwiederholung auf dem Spitzenton des Songs, der allerdings am Ende für die fatale Aussage „see that it never can be“ nach unten oktaviert wird. Außergewohnlich ist darüber hinaus, dass diese Tonwiederholung in Vierteltriolen stattfindet.
    Der C-Teil enthält nach einem frühen Oktavsprung abwärts eine steigende Melodie. Im vorletzten Vers kehren die Triolen zurück, diesmal allerdings in Gestalt bogenförmiger, sich aufschwingender Terzen. Die Schlusspointe in Form der Ausgangsthese verharrt auf einer repetierenden Quinte, was der Gesangslinie einen offenen, schwebenden Abschluss verleiht.

    Das Stück steht in Dur, die Harmonik enthält aber einige überraschende Akkorde und Wendungen, die sich vorzugsweise an den Versenden befinden und an eine Molltonika gemahnen (Vers 2 endet auf der Parallele der Molltonika Vers 3 steuert die Molltonika selbst an. Im B-Teil wird über eine Tritonus-Substitution zur dritten Stufe in Dur moduliert, für den Beginn des C-Teils wird zur vierten Stufe moduliert, bevor im vorletzten Vers wieder zur Ausgangstonart zurückgekehrt wird. Wer will, kann in den ungewöhnlichen Akkorden eine Beziehung zum Text herstellen: die Harmonik schwankt ähnlich wie die bzw. der trunkene Liebende.

    Tharon.

  • Eine der ersten Aufnahmen des Songs ist aus dem Jahre 1938 und stammt von Billy Holiday (mit siebenköpfiger Begleitband, am Bass John Kirby). Lady Days brüchige Stimme ist geradezu prädestiniert für diesen Song. Sie singt leicht laid back und ebnet die Oktavsprünge ein, was einen Eindruck persönlicher Betroffenheit vermittelt: ist die Frau am Ende? Man achte darauf, wie sie „bubbles“ singt: für einen winzig kleinen Moment scheint es, als habe sie Artikulationsprobleme… doch dann hat sie sich wieder gefangen. Nur damit man mich nicht falsch versteht: das alles ist natürlich große Kunst. Nach einem Intro und einem Gesamtdurchlauf mit leicht verlängertem Schluss schließt sich ein relativ schlichtes aber funktionierendes Tenorsolo (Babe Russin) über den B-Teil an worauf Billie Holiday den C-Teil wiederholt. Der Bruch durch den hier fehlenden Verbindung stiftenden A-Teil ist etwas unangenehm, ansonsten eine eindrucksvolle, traditionelle Interpretation.

    Tharon.

  • Die abgebildete CD ist eine hörenswerte Compilation. Sarah Vaughans hierauf enthaltenes "You go to my head" ist von 1948 und erschien ursprünglich auf der Riverside LP "Sarah Vaughan with the John Kirby and his Orchestra". Sie wird von einer sechsköpfigen Begleitband unterstützt, die sich sehr dezent zurück hält. Wieder ist John Kirby am Bass. Im Vergleich zu Billie Holiday hat Sassy die klarere Stimme und ein schönes Vibrato. Sie singt nicht durchgängig laid back aber mit relativ starker Agogik. Nach hübschem Intro wird der Song einfach nur einmal komplett dargeboten, am Ende wird der C-Teil wiederholt. Nach der um Fassung ringenden Billie Holiday ist das hier eher die gepflegte Klassiker-Aufnahme.

    Tharon.

  • Von 1949 stammt die Trioaufnahme des Songs von Bud Powell. Intro und Outro bestreitet das Klavier weitgehend allein, dazwischen liegt ein einziger von Bass und Schlagzeug begleiteter Chorus, der gleich von Anfang an relativ stark improvisatorisch geprägt ist, nach wenigen Takten geht Bud zu einer freien Improvisation über, bei der die Harmonik beibehalten wird, die Melodie aber nur noch hin und wieder für kurze Momente durchscheint. Rasante Läufe, eigenwillige Rhythmen und immer wieder neue Ideen bilden einen faszinierenden Kontrast zum prinzipiell sehr langsam gehaltenen Grundtempo der beiden Begleiter. Trotz aller Spontaneität sitzt jeder Ton, eine wie ich finde tolle Einspielung.

    Tharon.

  • Auf der angegebenen Lennie-Tristano-Box (4 CD´s) sind gleich drei Versionen der Nummer enthalten. Die erste ist eine Liveaufnahme von 1949. Den ersten Chorus übernehmen Lee Konitz und Warne Marsh in polyphoner, dissonanzlastiger Zweistimmigkeit, begleitet von Gitarre, Bass und Schlagzeug, den zweiten Chorus übernimmt Lennie Tristano am Klavier, der hier für mein Empfinden nicht ganz so progressiv agiert wie die Saxophonisten. Ein etwas aufgesetztes. längeres, pompöses Outro lässt mich etwas ratlos zurück. Die zweite ist als „Passtime“ betitelt und ist eine Studioaufnahme in Triobesetzung, bei der Tristano seltsamerweise einen zweiten Klavierpart im Overdub-Verfahren über seine beiden Ursprungschorusse eingespielt hat. Das Ergebnis klingt irgendwie nach „Wohltemperiertem Klavier“ und funktioniert nicht so ganz, denn bei der ganzen Aktion geht die Dramaturgie eines Solos etwas verloren. Ärgerlich ist auch, dass das Stück kurz vor Schluss ausgeblendet wird. Die dritte Aufnahme ist eine Liveaufnahme von 1952 und ähnelt der ersten. Diese Version wird leider eingeblendet, die Saxophonisten befinden sich im dritten oder vierten Takt des ersten Chorusses. Den zweiten Chorus übernimmt wieder Tristano, der hier auch noch einen dritten folgen lässt. Im letzten C-Teil stoßen die Saxophonisten wieder dazu. Streckenweise improvisiert Tristano hier akkordlastiger, was mir besser gefällt. Dennoch nicht ganz mein Fall – Bläser und Klavier wirken etwas heterogen.

    Tharon

  • Meine letzte Einspielung ist auf dem legendären Stan-Kenton-Album „New concepts of artistry in rhythm“. Die CD-Hülle verrät, dass das ursprüngliche Album die Nummer nicht enthielt, die CD aber die komplette Session enthält, bei der das Stück auch gespielt wurde. Es ist nicht leicht zu beschreiben was hier geschieht. Die Melodie wird in zunehmendem Maße aufgeteilt und von Instrument zu Instrument weitergegeben, die Rhythmusgruppe begleitet die Melodie halbwegs konventionell, ein paar bizarre Fill-Ins erklingen an fast zufällig wirkenden Stellen, die entscheidenden Backings der Bläser sind aber seltsame sich hin und her bewegende Patterns, die in sich bewegte Klangschichten ergeben und in unterschiedlicher Dichte über den konventionellen Comboklang geschichtet werden. Da sich die Harmonien des Songs fortentwickeln, die Klangschichten in der Regel aber nur aus zwei unveränderlich sich abwechselnden Akkorden bestehen, ergibt sich ein dissonanzlastiger, manchmal bitonal klingender Eindruck. Das „concept“ ist sicherlich ziemlich verkopft, aber die Klangwirkung stellt eine verrückte, vielleicht die am betrunkensten klingende Version der Nummer dar. Ich mag sie ganz gern.

    Tharon.

  • Lieber Tharon,

    tolle Einführung - du bist ja völlig irre! :juhu:

    Und das Erstaunliche: Ich dachte, im Laufe der Zeit findet man in einer seit 25 Jahren wachsenden Jazz-Sammlung irgendwann so ziemlich jeden Standard mindestens einmal. You go to my Head habe ich in keiner einzigen Einspielung, wenn ich gerade richtig nachgeschaut habe. Danke also auch für den Tipp, diese Lücke mal schließen zu müssen.

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Hallo Tharon,

    die Versionen von Stan Kanton, Bud Powell, Billie Holiday und Sarah Vaughan habe ich inzwischen auch nachgehört: Volle Zustimmung zu deinen Charakterisierungen. Vor allem die ersten drei sind großartig gemacht.

    Sehr gut gefällt mir auch die Aufnahme von 1954 von Dinah Washington mit der etwas verstärkten Gruppe von Clifford Brown & Max Roach, bei mir aus dieser Box:

    Auch hier drauf erschienen:

    Dinah Washington, die ich mit ihrem eher Blues-orientierten kräftigen Gesang durchaus auch sehr mag, hat jedoch nicht diese enorme Ausdrucks- und Gestaltungskraft wie eine Billie Holiday oder auch eine Sarah Vaughan in Bestform. Sie singt hier überwiegend eher wie vom Champagner beschwingt, leicht euphorisiert, dennoch läßt sie das "hasn´t a ghost of a chance in this crazy romance" schön anklingen im Intro nur zu Klavierbegleitung, um dann um so kräftiger zum Beschwingten, Euphorisierten zurückzukehren. Diese Interpretation finde ich in ihrer Art auch sehr gelungen.

    Diese fast 12-Minuten-Version beginnt zunächst damit, dass sie als eine Art Intro den kompletten Song zunächst, etwas melancholische Blues-Stimmung anklingen lassend, nur zur balladenhaften Klavierbegleitung von Junior Mance durchsingt. Hier wird sie gegen Ende kräftiger, wie um sich selbst zu verdeutlichen, dass diese Romanze doch gar keine Chance hat, doch dennoch steigt sie ihr zu Kopf wie Champagner, das Wegwischen gelingt nicht, in fast Double Time kommen jetzt Bass und Max Roach mit eine Art Samba zum Klavier dazu und sie singt beschwingt, wie leicht euphorisiert, den ganzen Song noch einmal durch, aber jetzt, im Kontrast zum ersten Intro-Durchgang am Ende weniger bekräftigend, dass es doch keine Chance gibt. Dann geht die Rhythmusgruppe das Tempo haltend mit einem Walking-Bass zum Bob über und es folgen sehr schöne, sich direkt ablösende Soli von dem zu Unrecht etwas vergessenen Herb Geller am Alt-Sax, Mance am Piano, Clark Terry an der Trompete, Harold Land am Tenor-Sax, Clifford Brown an der Trompete und Keter Betts oder George Morrow am Bass, wer von beiden hier das wunderbare Bass-Solo spielt, kann ich leider nicht identifizieren. Alle Bläser-Solisten schaffen es jedenfalls wieder etwas Blues-Traurigkeit einfliessen zu lassen, besonders Harold Land und Brown, und liefern großartige Soli über jeweils den ganzen Song ab, nur das von Mance am Piano bleibt etwas belanglos. Nach dem Bass-Solo setzt, wieder verlangsamt auf Half-Time, Dinah Washington ab "The thrill of the thought..." nur mit Call and Response Piano-Akzentuierung ein, um dann bei "You got to my head" wieder schnell und beschwingt zu werden zur nun wieder der Samba-Begleitung der Rhythmusgruppe, was mündet im kräftigen Schluß-Call and Response zwischen Dinah und den Big-Band-artigen Trompeten, jetzt noch verstärkt um Maynard Ferguson.

    :wink: Matthias

  • Bei den diversen Tristano-Reissues durchzublicken, ist so eine Sache. Irgendwo habe ich wahrscheinlich auch die drei von Tharon schon erwähnten Aufnahmen in anderen Ausgaben. Aber ich habe jetzt erst einmal eine Live-Aufnahme von 1955 gehört, von dieser Atlantic-CD, die insgesamt besonders gut ist:

    Zunächst spielt den ganzen Song etwas spröde, hingehaucht, sehr melancholisch mehrmals Lee Konitz am Alt-Sax, insgesamt 2.30 Minuten,Tristano begleitet mit Akkorden, die sich immer weiter vom Original lösen, immer mehr ungewöhnliche Synkopierungen einbauen, der Rest des 5.19 langen Stücks gehört Tristanos Solo, der überwiegend akkordisch spielt, die ungewöhnlichen Akkordprogressionen, die sich vom Original entfernen noch ausbaut und, wo er mit der rechten Hand Solo-Linien dazu entwickelt, dann eher wie ein Bebob-Saxophonist, stark an Charlie Parkers Spiel erinnernd, aber viel ungewöhnlicher synkopiert. Hier stimmt die Dramaturgie und auch Konitz und Tristano passen sehr gut zusammen. Auf etwas Bach oder Hindemith abgeschauter Kontrapunktik, wie sie Tristano zeitweilig manchmal einzubauen pflegte, verzichtet er hier völlig. Obwohl man das Stück hier auf Anhieb kaum wiedererkennt, wirkt es straight und kein bisschen überladen. Gene Ramey am Bass und Art Taylor on Drums begleiten dezent, kommen jedoch mit Tristanos diffizilen Synkopierungen gut zurecht. Dies ist eine sehr gelungene Aufnahme.

    Aber oft ist bei Tristano das Problem, das man nur verschiedene Stadien des Experiments, ursprünglich oft mehr zum Eigengebrauch und etwas zufällig aufgenommen, auch mehr experimentweise hinterher bearbeitet, wo dies geschehen ist, bekommt. So entstanden nur ganz wenige Einspielungen, die im Studio ein vorläufiges Resultat vorstellen sollten. Das meiste ist mehr oder weniger zufällig mitgeschnitten, sogar auch diese Aufnahme, und sehr heterogen bearbeitet. Es sind Momentaufnahmen einer einzigartigen Labor-Schule des Jazz, die sich um Publikum und Nachruhm überhaupt nicht gekümmert hat, sondern Musikern neue Anregungen geben wollte.

    :wink: Matthias

  • Am meisten berührt mich Billie Holiday mit diesem Song. Sie hat ihn ja nicht nur 1938 aufgenommen, sondern auch noch mehrfach in den 50ern, z. B. 1958, als sie schon am Ende war und ihre Stimme völlig brüchig und unkontrolliert klang. Diese Aufnahme jedoch zeigt sie noch in sehr guter Verfassung:

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    Und dann wären da noch folgende schöne Einspielungen zu ergänzen:

    Die großartige Shirley Horn (auf "The Main Ingredients")

    Satchmo mit Oscar Peterson "

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    Lee Morgan (auf "The Gigolo") "

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    Cheers,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

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