Ich empfinde die Erstfassungen als wesentlich kühner, während die Zweitfassungen stets etwas von den Verrücktheiten zurücknehmen.
Das ist zweifellos richtig. Aber bei der Achten gibt es eine Stelle,die ich in der Zweitfassung nicht nur überzeugender, sondern auch "kühner" finde: den verlöschenden Totenuhr-Schluss des ersten Satzes, der so vollständig aus dem von Bruckner in den anderen Sinfonien konsequent beibehaltenen Schema herausfällt. Und gibt's jemanden, der das Trio der Erstfassung lieber hört als das später komponierte, das zudem so schön auf den dritten Satz vorausweist? Bestimmt, aber ich gehöre nicht dazu... (Bei der dritten Fassung der Dritten, die ja nicht nur im Finale äußerst problematisch ist, hat Bruckner im Kopfsatz der Durchführung eine dissonante Passage im Stil der neunten Sinfonie hinzugefügt, die ich auch sehr ungern misse...)
Das Problem der verschiedenen Fassungen (insb. bei 3, 4 und 8, auch bei 1) ist bei mir, und wahrscheinlich nicht nur bei mir ein seltsames Phänomen der "Hörbiographie": Ich habe diese Werke alle in den Letztfassungen kennengelernt, so sind sie mir vertraut geworden. Klar, die Partituren der Erstfassungen gab es und spätestens seit Anfang der 80er lagen sie auch auf Tonträgern (Inbal) vor. Das wurde von mir lange ignoriert, erst Ende der 90er habe ich mich dann um die Erstfassungen bemüht. Und ich kann bis heute nicht die Erstfassungen hören, ohne fast permanent mit der Letztfassung zu vergleichen - umgekehrt dagegen schon. Am besten gelingt mir das inzwischen bei der Dritten. Aber wie gesagt, ich bemühe mich. Heute gibt es ja wahrscheinlich nicht wenige, die die genannten Werke zuerst in den Erstfassungen kennenlernen.
Viele Grüße
Bernd