"Mein größtes Werk ist eine große Messe" - Beethovens Missa solemnis
Das Werk – die Aufnahmen.
Beethovens „solenne“ Messe steht neben Bachs Messe in h-moll und Mozarts Fragment gebliebener c-moll-Messe als Monolith in jener weiten kirchenmusikalischen Landschaft, die durch die Legion der Vertonungen des Mess-Ordinariums seit Guillaume de Machauts Messe de Nostre Dame geformt wurde. Ähnlich wie Bachs Missa, so sprengt auch Beethovens „größtes Werk“ den liturgischen Rahmen und ist für eine gottesdienstliche Verwendung kaum nutzbar.
Folgt man E.T.A. Hoffmanns Einschätzung in seinem Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik“, so ist das im Grunde auch überhaupt nicht nötig, denn „diese Musik ist ja der Kultus selbst, und daher eine Missa im Konzert, eine Predigt im Theater.“
Doch was ist das Thema der Predigt? Liest man die von Sven Hiemke gründlich aufgearbeiteten Zeugnisse, so ist die Missa nicht als Beethovensches Bekenntnis zum Katholizismus zu verstehen, denn zwar war Beethoven seit der Kindheit mit den katholischen Konventionen aufs engste vertraut, der erwachsene Komponist jedoch machte seiner Abneigung gegen den institutionalisierten katholischen Glauben keinen Hehl: „Ein Kirchgänger war Beethoven nie. Keine organisierte Religion. Kaum noch der bloßen Form genügen: [...].“ (Hiemke, 21) Doch war er auch mitnichten ein, wie Haydn einmal bissig bemerkte, „Atheist“, denn die „Existenz Gottes als solche zu hinterfragen war Beethovens Sache nicht.“ (Hiemke, 22)
Vielmehr war auch Beethovens Glaubensverständnis vom freiheitlichen Denken der Aufklärung bestimmt. Besonders die „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“ aus der Feder des protestantischen Theologen Christoph Christian Sturm hatten es Beethoven angetan, deren wesentliche These es ist, dass es „für ein unmittelbares Verhältnis zwischen Mensch und Gott durchaus keiner Intervention von Klerus bedurfte.“ (Hiemke, 24). So erklärt sich beispielsweise auch die Einfügung des emphatischen „o“ im Abschnitt Qui tollis peccata mundi, miserere nobis, denn dieses entspricht nicht mehr dem ritualisierten Text, es geht über ihn hinaus und lässt ihn zu einem individuellen Flehen werden. Der rein institutionelle Charakter des Ordinarium Missae löst sich auf, das Individuum tritt aus dem Ritus heraus und kommuniziert direkt mit dem Göttlichen.
Doch worauf zielt das Flehen des sich nun in der Messe selbst wahrnehmenden Individuums?
Man geht zum einen davon aus, dass wir es hier bis zu einem gewissen Grad mit dem Flehen des Individuums Beethoven zu tun haben, ein Flehen das Ausduck seiner Suche nach Gott zu sein scheint:
„Dem aber standen Phasen einer verstärkten Suche nach Gott gegenüber. Religiöse Fragen beschäftigten Beethoven, je älter er wurde, mit zunehmender Intensität. [...] Menschliches Leid – der Verlust des Gehörs, wirtschaftliche Nöte, die aufreibende Auseinandersetzung um die Vormundschaft für den Neffen, die Beethoven nach der Entsagung von der ‚unsterblichen Geliebten’ fast zwanghaft als Kampf um eine zwischenmenschliche Beziehung betrieb: all das gehört zum biographischen Hintergrund dieser Jahre.“ (Reiber, 14)
Hinzu tritt aber auch eine überpersönliche Komponente:
„Auch in Beethovens Umfeld trat damals eine Phase der Neuorientierung ein: Die Umwälzungen der Französischen Revolution und der Befreiungskriege hatten das aufklärerische Menschenbild bedenklich ins Wanken gebracht. Wo war die idealistische Emphase der Emanzipation geblieben? Wohin hatte der ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’, den das 18. Jahrhundert so siegessicher proklamierte, tatsächlich geführt? In der Gestalt Napoleons trat dem zu Ende gehenden Zeitalter das Zerrbild seiner hochgesteckten Ideale entgegen: eine Figur, die den Anspruch auf menschliche Autonomie erschreckend in Hybris verkeht hatte. Orientierung tat not.“ (Reiber, 14)
Lück sieht vor diesem Hintergrund in der Missa solemnis im Wesentlichen den Appell an den Menschen, das Göttliche im Diesseits durch die aktive Gestaltung einer menschlichen Welt zu verwirklichen.
„Wo die Neunte Sinfonie ein musikalisches Weltbild entwirft und ihren großen Appell ‚Alle Menschen werden Brüder ...Diesen Kuss der ganzen Welt’ formuliert, da äußert Beethoven in seiner Missa solemnis den einzig subjektiv bestimmten Glauben, den persönlichen, direkten Bezug zu einem wie auch immer vorgestellten himmlischen Vater, dem Lob, Preis und Verehrung gebührt, aber immer aus der Situation heraus, in einer gebrechlichen, bedrohten Welt zu leben, deren Verhältnisse erheblicher Anstrengungen bedürfen, um menschenwürdig zu werden. Diese Anstrengung ist gleichsam die inhärente Bedingung des Glaubens: Gott wird verehrt, wenn er für ein menschenwürdiges Dasein im Diesseits steht. [...] Man gewinnt in einzelnen Passagen der Missa solemnis den Eindruck, dass Beethoven um diesen Glauben immer wieder kämpft, dass er in den Wiederholungen von Worten oder musikalischen Figuren gleichsam gegen seine eigenen Zweifel ankomponiert, sich selbst überredet; zwar formuliert er in den überlieferten, standardisierten Worten Kyrie eleison (‚Herr, erbarme Dich unser’) oder Gloria in excelsis Deo (‚Ehre sei Gott in der Höhe’) die innige Bitte um das Erbarmen ebenso wie die hymnsiche Preisung, aber seine Musik gewinnt erst ihre richtige expressive Tiefe, wenn es um die Situation auf der Erde selbst geht, um das Leben der Menschen [...].“ (Lück, 63)
Doch das Leben der Menschen ist ein angstvolles, von innerem und äußeren Unfrieden geprägtes. Darum auch der Verweis darauf, dass das Dona nobis als eine „Bitte um inneren und äußeren Frieden“ zu verstehen sei, darum die Militärmusik, die die Unmöglichkeit der Erreichung dieses Zustandes zum gegenwärtigen Zeitpunkt betont, es sei denn – und mir scheint, dass man hier die Widmung „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen“ mitdenken muss –, der Mensch erkennt mit Beethoven über das Gefühl die unbedingte Notwendigkeit einer Auflösung des von Augustinus formulierten Gegensatzes von civitas dei und civitas terrana: Die Welt muss gereinigt werden von der Tyrannei der weltlichen Ordung zugunsten der Erschaffung einer gottgefälligen, ja göttlichen Welt voller freier Menschen und freier Geister.
Soviel ganz knapp und in vollem Bewusstsein, sehr vieles nicht gesagt zu haben. Aber das könnt ihr dann ja!
Noch wenige Stichpunkte zur Entstehung, übernommen von Markus Kiefer:
1819
- 10. Januar: Der Erzbischof der Stadt Olmütz Graf Maria Thassäus von Trautmannsdorff-Weinsberg stirbt. Als sein Nachfolger wird Erzherzog Rudolf, der jüngste Bruder von Kaiser Franz I., ein Schüler und Mäzen Beethovens designiert.
- 3. März: Beethoven benachrichtigt den Erzherzog über seine Absicht, eine Messe für die Bischofsweihe zu schreiben.
- April: Beethoven beginnt mit Skizzen zum Kyrie und Gloria.
- 30.August: Beethoven hat Zweifel, die Messe rechtzeitig fertig stellen zu können, in einem Brief an den zukünftigen Bischof nennt er dafür gesundheitliche Gründe.
- Im Oktober: Beethoven versichert dem Erzherzog, die Messe sei bald vollendet.
- Im Winter: Der Komponist räumt gegenüber dem Erzherzog ein, das Werk nicht fristgerecht fertig stellen zu können.
1820
- Januar bis März: Kyrie und Anfang Gloria im Autograph, Entwürfe zum Credo
- 9. März: Inthronisationsgottesdienst von Erzherzog Rudolf
- Juni/Juli: Vollendung der Skizzen zum Credo, sporadische Arbeit an der Missa
- November: Beginn mit Skizzen zum Benedictus bis Februar
1821
- März bis August: Entwürfe zum Agnus Dei
1822
- März bis August: Arbeit am Agnus Dei
- 3. August: Die Messkomposition ist abgeschlossen.
1823
- Januar: Das Autograph der Messe ist fertig.
- 19. März: Beethoven überreicht dem Erzherzog dieWidmungspartitur der Missa solemnis.
1824
- 7. April: UA der Missa solemnis in St. Petersburg
- 7. Mai: Teilaufführung des Werkes in Wien zusammen mit der UA der 9. Symphonie
1827
- 26. März: Beethoven stirbt.
- April:Veröffentlichung der Missa solemnis bei Schott
Literatur:
Finscher, Ludwig (Hg.): Ludwig van Beethoven (Wege der Forschung. Bd. 428). Darmstadt 1983.
Hiemke, Sven: Ludwig van Beethoven. Missa solemnis. Kassel 2003.
Reiber, Joachim: Die Quadratur des Kreises. Zu Beethovens Missa solemnis. Begleittext zur Einspielung: Ludwig van Beethoven - Missa solemnis. Roger Norrington. Hänssler 1999. S. 13 - 16.
Themenheft Ludwig van Beethoven: Missa solemnis. Hg. v. EuropaChorAkademie/Erlebnis Musik (Selbstvertrieb). Mainz 2005 [darin besonders:Lück, Hartmut: Suche nach Sinn im irdischen Leben. Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven. S. 61 - 65; sowie: Kiefer, Markus: Beethovens Missa solemnis - eine Herausforderung. S. 151 - 161]
Aufnahmen
Folgende Aufnahmen der Missa solemnis stehen bei mir im Schrank:
Toscanini 1939, 78:11
Klemperer 1965, 79:31
Karajan 1966, 83:10
Masur 1972, 72:53
Böhm 1975, 87:33
Giulini 1975, 86:52
Davis 1977, 85.05
Gardiner 1989, 71:39
Solti 1994, 74:45
Herreweghe 1995, 76:20
Norrington 1999, 72:58
Zinman 2001, 65:57
Ich versuche hier nacheinander kurze Einschätzungen und freue mich natürlich noch mehr um Beiträge von Eurer Seite! Vielleicht entspannt sich ja eine interessante Diskussion!
Agravain