• Gerade entdeckt: Michael Gielens Erinnerungen "Unbedingt Musik" sind für den April 2012 angekündigt: als Taschenbuch-Neuauflage:

    Ich kenne das Buch noch nicht und merke es mir vor (auch wenn der Autor jemand ist, den nicht jeder kennen mag, vgl. #11 ;+) ).

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Hallo zusammen!

    Ich bin ihm zu allergrößtem DANK verpflichtet, was ich in 10 Jahren M.Gielen in Frankfurt mit ihm erleben durfte ist kaum in Worte zufassen !
    Vorallem der Ring ! :juhu:

    Wenn ich nur an sein letztes Dirigat denke , Die Götterdämmerung, was da nach der Vorstellung los war ist unbeschreiblich, er wurde in Frankfurt sehr geliebt .
    Ein menschlich , sehr angenehmer Zeitgenosse , er hatte immer Zeit für ein kurzes Gespräch !

    Ich wünsche Ihm alles Gute !

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Mit Michael Gielen verbinde ich eigentlich gar nichts. Natürlich habe ich ihn nie live gesehen und gehört, aber auch eine Aufnahme von ihm kenne ich, wenn ich mich jetzt nicht ganz vertue, nicht. Vor seiner Lebensleistung habe ich großen Respekt und ich finde es gut, wenn jemand mit 87 Ruhe und Zeit mit seiner Familie gönnt, statt sich das anstrengende Reise-Leben eines Starkünstlers zuzumuten bis der Körper überhaupt nicht mehr mitspielt. Eigentlich habe ich zu Michael Gielen also nichts zu sagen, als das ich ihm einen gesegneten und angenehmen Lebensabend wünsche.

    Aber eine Sache verbinde ich dann doch mit Michael Gielen. Von 1950 bis 1960 war er als junger Dirigent Kapellmeister an der Wiener Staatsoper. Dort gab es - und gibt es glaube ich heute noch - den "Merker", eine von den Zuschauern selbst verfasste Zeitschrift mit Aufführungsbesprechungen. Die entsprechenden Rezensionen der Jahre 1956 bis 1964 sind im Internet veröffentlicht worden und aus der heutigen Perspektive ein interessanter Zeitzeugenbericht aus der Oper vor fünfzig Jahren, in dem ich immer wieder mal ganz gerne lese. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Kapellmeister Gielen dort durchweg sehr, sehr schlecht beurteilt wird, dieser Quelle nach war er ein regelrechtes Hassobjekt der Habtués der Wiener Oper. Ich habe vor dem Schreiben dieses Beitrages die Berichte der letzten drei Spielzeiten Gielens in wien nach seinem Namen durchsucht und da liest man dann beispielsweise:

    "Dasselbe gilt von der musikalischen Leitung Michael Gielens – nur muß man sagen, daß seine Leistung der Wiener Staatsoper nicht würdig ist und wohl nie werden wird, wenn er sich einbildet, seine Dirigierübungen ausgerechnet an jenem Pult absolvieren zu können, an dem immerhin Karl Böhm, André Cluytens, Herbert von Karajan, Joseph Keilberth, Hans Knappertsbusch und Dimitri Mitropoulos wirken. Trotz guter Presse sollte Michael Gielen in seinem eigenen Interesse und unter Verzicht auf seine guten Beziehungen einen anderen und ehrlicheren Weg zur Dirigentenkarriere suchen. Es soll auch so etwas geben"!
    "Diese Aufführung war fast unverzeihlich. Michael Gielen wurde dieses Stück wieder einmal für seine Dirigier-Lernstunden zur Verfügung gestellt. Wir haben im Laufe der Jahre schon einige katastrophale Dirigentenleistungen miterlebt, aber wir sagen es frei heraus: Niemals noch haben wir einen so absoluten Tiefpunkt einer Dirigentenleistung erlebt wie den Auftritt des Bacchus, der auf ganz grauenhafte Weise vernebelt wurde. Im Vorspiel ließen sich die Sänger durch die Einwirkung des Herrn Gielen nicht sehr stören. Aber die Oper! Gielen kennt kein goldenes Mittelmaß. Sogar bescheidenes Sängerbegleiten, auf das die Dirigiertätigkeit von Nicht-Persönlichkeiten doch meistens hinausläuft, ist ihm absolut fremd. Entweder er hetzt die Sänger zu Tode oder er schleppt, daß den Armen ebenfalls die Luft ausgeht".
    "Diese Aufführung dirigierte Michael Gielen. Der junge Musiker, der bestimmt sehr gescheit und sehr fleißig ist, erinnert uns immer an einen eben ausgelernten Chirurgen, dem man einen Blinddarmdurchbruch auf den Tisch legt und zu dem man sagt: Schneiden Sie zu! Selbst das größte Chirurgentalent muß jahrelang an Leichen üben und wahrscheinlich dann noch jahrelang Beine eingipsen oder Rißwunden nähen, bevor man ihn über ein Magengeschwür läßt. Bei Dirigenten ist die Lehrzeit genau so lang – doch man nimmt das nicht zur Kenntnis. Ein junger Dirigent hat in der Provinz zu lernen und nicht an der Wiener Staatsoper. Und wenn er keine Stelle in der Provinz bekäme (wie dies offenbar bei Michael Gielen der Fall ist) dann hat er erst recht nichts an der Wiener Oper verloren".
    "Was Vater Josef Gielen inszeniert, muß offenbar Sohn Michael Gielen dirigieren. Das war bei Johanna auf dem Scheiterhaufen der Fall, bei Ariadne auf Naxos und nun auch bei Ein Maskenball. Wir flehen zum Himmel, daß uns allfällige Rosenkavaliere oder Carmen und Tannhäuser erspart bleiben mögen. Das einzige Stück auf das Michael Gielen an der Staatsoper einigermaßen wirksam Einfluß nehmen könnte, nämlich Carl Orffs Trionfi, gibt man ihm intelligenterweise nicht. Dabei könnte man ihm füglich nur dieses Stück anvertrauen, weil hier hartes, maschinenmäßiges Taktschlagen genügt, und sich in diesem Falle der Effekt von selbst einstellen würde. Aber nach einem „Meister“ gleich der „Zauberlehrling“, nach einem Mitropoulos gleich den Michael Gielen – das geht denn doch nicht".
    "Das Übel nahm seinen Ausgang vom Pult her, an dem Michael Gielen wie ein musikalischer Buchhalter waltete, ohne jede innere Beziehung zur Musik. Kein Wunder, daß die Professoren im Orchester lieb- und lustlos, mit wahrhaft chinesischem Gleichmut ihre Parts herunterspielten. Auch großes Pressegeschrei macht eben noch keinen Dirigenten"!
    "Feinheiten verlangt man von Michael Gielen sowieso nicht mehr, aber auch mit seiner von manchen Kritikern so hervorgehobenen Korrektheit war es diesmal nicht weit her".
    "Am Pult stand Michael Gielen, in dessen Brust angeblich zwei Seelen wohnen – die des Dirigenten und die des Komponisten. Wenn er sich nach der Ära des Taktschlagens für den zweiten Beruf entschiede, wäre der Oper und dem Publikum geholfen. Vielleicht auch ihm".

    Ich habe noch eine ganze Reihe ähnlicher Beispiele gefunden, aber das zeigt sicher ganz gut, was ich meine. Das ist ja schon ziemlich harte Ablehnung, die Gielen da entgegenschlug. Das würde mich aber noch nicht weiter wundern, dass es unbeliebte Künstler geben kann ist völlig klar und dass es untalentierte Dirigenten gibt, die durch gute Beziehungen trotzdem an einem großen Haus unterkommen, auch.
    Nein, was mich so erstaunt, ist die Karriere, die Michael Gielen danach gemacht hat. Palestrina schreibt hier einen Beitrag höher: "Ich bin ihm zu allergrößtem DANK verpflichtet, was ich in 10 Jahren M.Gielen in Frankfurt mit ihm erleben durfte ist kaum in Worte zufassen" und berichtet, dass Gielen in Frankfurt sehr geliebt worden sei.
    Gielen ist eine Institution, hier im Forum wird von ihm in den höchsten Tönen geschwärmt, kein schlechtes Wort ist über ihn zu lesen. Und dass ist es, was mich erstaunt: Gielen polarisiert offensichtlich sehr stark, bzw. sein Ruf hat sich verändert. So extrem habe ich das, glaube ich, bei keinem anderen Künstler erlebt, diese vehemente Ablehung in jungen Jahren und diese überströmende Verehrung des alten Meisters.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Gielens Stern ging langsam auf!

    Hallo,
    ich empfehle jedem, die Biografie Gielens zu lesen. Da lernt man, dass er sich sein Handwerk mühsam erarbeiten musste. Und dass er in Wien nicht geliebt wurde, beschreibt er auch.
    Man darf ja nicht vergessen, er war in Wien knapp 30 Jahre alt!
    Sein Durchbruch kam wohl in den 60iger Jahren, als er als "legitimer Nachfolger" von Rosbaud, Scherchen und Co. gehandelt wurde.
    Seit dieser Zeit, als er die Moderne dirigierte und so was wie der deutsche "Boulez" werden konnte, wurde sein Stil prägnant.
    Das kann man mögen oder nicht. Sein Beethoven ist frisch und rasch, Mahler, manchmal etwas zu didaktisch, ist klar strukturiert und da die Aufnahmen relativ neu sind, ist die Aufnahmetechnik ausgezeichnet. Ein Höhepunkt für mich sein später Schumann.
    Ihn Live zu erleben war für immer ein Ereignis! Klare Disposition und niemals "Schaum vorm Mund", dafür immer mit großer Übersicht.
    Die 6. von Mahler und die 4. habe ich als ganz große Ereignisse in Erinnerung.
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Gielen ist eine Institution, hier im Forum wird von ihm in den höchsten Tönen geschwärmt, kein schlechtes Wort ist über ihn zu lesen.

    So ganz stimmt das nicht. Wenn Du, lieber Cherubino, die Beiträge dieses Fadens durchgehst, wirst Du auch kritische Töne finden. Selbst habe ich meine etwas ambivalente Haltung in # 9 formuliert. Das war vor 4 Jahren. Inzwischen aber sehe ich Gielen wieder positiver, weil ich mich wieder verstärkt mit Interpretationswegen anfreunde, die, anstatt unmittelbar auf die Emotionalität, auf den Ausdruck im Detail zu zielen (z. B. Bernstein), mehr die Strukturen der Musik hörbar machen, durch Transparenz im Klang und Herausarbeiten von Nebenstimmen. Das Ergebnis muß dann keineswegs kühl und distanziert ausfallen.

    Herausragende Beispiele in diesem Sinn sind in meinen Ohren Gielens Einspielungen von Mahlers Neunter und Zehnter:

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ein Höhepunkt für mich sein später Schumann.


    Lieber Doc, Du meinst vermutlich dieses:

    ?

    Die kenne ich noch nicht. Gibt es eigentlich auch Schumanns Nr. 1 und 4 mit Gielen?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • ich empfehle jedem, die Biografie Gielens zu lesen

    Dem kann ich mich in jedem Falle anschliessen. Ich habe sie sogar schon 2 Mal gelesen, und würde das wohl bei nächster Gelegenheit nochmals tun. Gielen ist so ein Typ der mir auf Anhieb sympathisch war, und er beschreibt die Widrigkeiten des Kapellmeisterberufes auch sehr anschaulich. Das so jemand sich auch einer Horde missgünstiger oder egomaner "Kritiker" aussetzen muß liegt leider in der Natur der Sache. 50 Jahre früher hat man gleiches auch mit Mahler gemacht. Ich gebe auf die Ergüsse von selbsternannten Experten ohnehin nicht viel. Selber anhören ist allemal besser.
    Mein stärkstes Erlebnis mit Gielen war eine Aufführung der Gurrelieder von Schönberg in Essen. In der selben Besetzung gibt es auch eine Studioaufnahme. Nicht nur das er durch die gewaltigen Tonmassen sicher hindurchnavigiert hat, er konnte mit seinem vorzüglichen letzten Stammorchester auch eine ausgesprochen präzise und klanglich ausdifferenzierte Musik aufführen. Leider musste er ein mit dem NDR Sinfonieorchester geplantes Konzert mit der 7. Mahler Sinfonie absagen. Das hätte ich gerne noch mal gehört. Ich kann Palestrina nur beneiden um seine Erfahrungen. Ich kam erst 1992 nach Frankfurt und da war er schon 5 Jahre wieder weg.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Meine letzte Begegnung mit Michael Gielen - oft habe ich ihn in Konzerten nicht erlebt, in der Oper nie - liegt auch schon mehr als zwei Jahre zurück. Im Juni 2012 dirigierte er in Strasbourg das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg; am Programm stand "Thema und Variationen für Orchester" von Arnold Schönberg (op. 43b), die Rückert-Lieder von Gustav Mahler (mit Elisabeth Kulman) und die 3.Symphonie von Brahms. Mit sparsamer Gestik führte Gielen das Orchester zu einem mehr als bloß hörenswerten Abend. Unvergesslich, wie er mit einem (nicht wirklich freundlichen) Blick einen störenden Zuhörer zur Ruhe brachte. Sollte es von diesem Konzert einen Mitschnitt geben, wäre ich für eine Kopie dankbar.

    Cherubino: Den "Merker" gibt es immer noch und er berichtet wie seinerzeit über jede (!) Aufführung der Wiener Staatsoper; seit ei paar Jahren gibt es auch - administrativ und organisatorisch getrennt - eine Online-Ausgabe, in der ich ab und zu auch mitschreibe ("http://www.der-neue-merker.eu"). Damals wie heute sind die meisten Rezensenten des "Merker" - in der Regel Musikfreunde und Opernfreaks, die alle (!) ohne Honorar tätig sind - von ihrem Geschmack her sehr konservativ und auf Stars ausgerichtet. Es ist daher kein Wunder, wenn ein damals junger Dirigent schlecht kritisiert wird. Für eine realistische Beurteilung müsste man auch professionelle Kritiken zum Vergleich heranziehen. Ich war damals altersbedingt noch kein Opernbesucher und kann daher aus eigenem Erleben nichts über seine Operndirigate sagen. Aber die von Dir ausgewählten Zitate könnten mit anderen Namen auch aus aktuellen Kritiken im "Merker" stammen.

    Michael

  • Wer Gielens Mahler mag , sollte dieses Buch unbedingt lesen ....

    Und was mir noch ganz stark in Erinnerung geblieben ist, ist die Berghaus Inszenierung der Troyaner, das war der Oberhammer ! Lt.meinem Programmheft war ich 7x drin.
    Einmal habe ich die silberne Ehrennadel bekommen :D für 25 x Maskenball , Insz.Kirchner sensationell!
    Oh jeh, da kommen Erinnerungen hoch !

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • In Gielens lesenswerter Autobiographie finden sich auch einige weitere Hinweise darauf, mit welchen Widerständen er in den 50ern in Wien zu kämpfen hatte. In Interviews ist er auch zuweilen darauf eingegangen. War ja auch unerhört. Da hatte man 'solche', angepeilt auf tausend Jahre, vertrieben und Schlimmeres und dann wird einem so ein Jungspund aus dem Exil vorgesetzt. Da muß man sich doch mal im Merker Luft machen dürfen.

    Wer aus dem Exil zurückkam, traf, mit wenigen Ausnahmen von vor 33 bereits sehr Etablierten und Beliebten, meistenorts auf eine Breitwand von Ablehnung in Westdeutschland und Österreich, oft ganz direkt, öfter 'versachlicht'. Da könnte ich stundenlang die unglaublichsten Erzählungen von Freunden und Verwandten wiedergeben, z.B. von Profs, die vor gefülltem großen Hörsaal unter dem zustimmenden Johlen der meisten erklären, "Vaterlandverrätern" nehme man keine Prüfung ab, oder Amts'kollegen', die wichtige Akten verschwinden lassen und alles tun, um den von den Bestzungsmächten Wiedereingesetzten fertig zu machen ... -Sicher, es gab einige Orte, an denen das nicht so war, aber das waren die Ausnahmen.

    Der junge Gielen hatte nicht nur mit 'gesäuberten' Orchestern und einem stark 'bereinigten' Publikum zu tun, sondern kam auch noch mit bereits modernistischen Vorstellungen, von Erich Kleiber, René Leibowitz, Adorno geprägt. Die Moderne-Befürworter dürften aber in Wien besonders 'dezimiert' worden sein.

    Es wäre sicherlich interessant, mal zu schauen, ob man auch etwas in der Volksstimme oder der Arbeiterpresse, für die damals zuweilen noch auch ganz kompetente Kritiker aus der alten Pro-Mahler-Partei schrieben, zu Gielen aus dieser Zeit findet.

    :wink: Matthias

  • So ganz stimmt das nicht. Wenn Du, lieber Cherubino, die Beiträge dieses Fadens durchgehst, wirst Du auch kritische Töne finden. Selbst habe ich meine etwas ambivalente Haltung in # 9 formuliert. Das war vor 4 Jahren. Inzwischen aber sehe ich Gielen wieder positiver


    Siehst du! :P Und in der einzigen wirklich negativen Bemerkung hier im Thread, die Knulp vor über vier Jahren geäußert hat, fällt dann auch gleich die rede von den "Vorschusslorbeeren" auf, die der Live-Eindruck dann doch nicht ganz eingelöst habe. Seit über vier Jahren kein schlechtes Wort mehr über Gielen und wenn, dann mit ungläubiger Verwunderung geäußert ob der Wunderdinge, die man von diesem Dirigenten zuvor schon gehört hat. Nein, ich bleibe dabei: Eine so einhellig positive Presse wie Gielen hat hier kein anderer Dirigent.

    Damals wie heute sind die meisten Rezensenten des "Merker" - in der Regel Musikfreunde und Opernfreaks, die alle (!) ohne Honorar tätig sind - von ihrem Geschmack her sehr konservativ und auf Stars ausgerichtet. Es ist daher kein Wunder, wenn ein damals junger Dirigent schlecht kritisiert wird.


    Das glaube ich sofort und es entspricht meiner Opernlebenserfahrung, dass das nicht nur auf diese Musikfreunde zutrifft. Aber es werden ja nicht alle jungen Dirigenten kritisiert, schon gar nicht so scharf und so einhellig. Ich habe eher den Eindruck, die Leute, die da geschrieben hatten sowohl bei den alten als auch bei den jungen Künstlern ihre Lieblinge und ihre Hassobjekte, wiederum sowohl bei den Dirigenten als auch bei den Sängern. Anders gesagt: Natürlich kommt in den Kritiken über Gielen immer wieder die Klage vor, ein junger Dirigent solle in der Provinz lernen und nicht am größten Opernhaus des Landes. Dazu kommt der Vorwurf, Gielen habe diesen Posten nur wegen seiner guten Beziehungen erreicht, nicht wegen seiner Kompetenz. Das sind Vorwürfe, die sich natürlich nur gegen einen jungen Künstler richten lassen. Aber zwanzig oder dreißig Jahre ältere Künstler werden unter Umständen genauso negativ beurteilt.

    Für eine realistische Beurteilung müsste man auch professionelle Kritiken zum Vergleich heranziehen.

    Es wäre sicherlich interessant, mal zu schauen, ob man auch etwas in der Volksstimme oder der Arbeiterpresse, für die damals zuweilen noch auch ganz kompetente Kritiker aus der alten Pro-Mahler-Partei schrieben, zu Gielen aus dieser Zeit findet.


    Da stimme ich euch natürlich völlig zu! In den Texten des "Merkers" finden sich immer wieder Anspielungen auf die professionellen kritiker der großen Wiener Zeitungen, die ebenso ihre Liblinge und ihre Hassobkejte hätten. Gielen scheint bei denen sehr beliebt gewesen zu sein, man wird also sicher in anderen Medien ein anderes Stimmungsbild finden. Diese Anspielungen sind aus der zeitlichen und räumlichen Distanz heraus natürlich nur schwer nachzuvollziehen.
    Aber auch heute ist es ja oft so, dass man den Kopf schüttelt über eine Zeitungskritik, weil man selbst es ganz anders gehört hat. Und insofern finde ich den Blick auf eine ganz bestimmte Quelle, auf die Berichte zeitgenössischer Opernfreaks, durchaus sehr interessant. Aber erwartet irgendjemand von dem isolierten Blick auf eine Quelle ein ausgewogenes Bild?
    Den Rest von Matthias´ Beitrag halte ich mit Verlaub gesagt für ziemlich gemein: Wenn einem die Kritik nicht gefällt den Kritiker zu desavouiren, das funktioniert zwar fast immer, sagt aber wenig aus, weder über die Kritik noch über ihr Objekt.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • War ja auch unerhört. Da hatte man 'solche', angepeilt auf tausend Jahre, vertrieben und Schlimmeres und dann wird einem so ein Jungspund aus dem Exil vorgesetzt.

    Gemein oder nicht gemein: Hier lese ich einen Antisemitismusvorwurf heraus. Das würde mich näher interessieren: War es bei Michael Gielen so, lieber Matthias, weißt Du da Näheres? Selbst erlaube ich mir hier keine Meinung, da ich hierüber zu wenig weiß.

    Was ich allerdings noch aus eigener Erfahrung gut in Erinnerung habe (aus Diskussionen Ende der 1960er, die ich als Schüler, der sich für Politik zu interessieren begann), ist, daß in der NS-Zeit Emigrierte nicht selten als "Vaterlandsverräter" und "Nestbeschmutzer" abgestempelt wurden. Dies traf allerdings nicht nur Juden. Das prominenteste Beispiel ist Willy Brandt, aber es gab wohl auch Künstler, die damit konfrontiert wurden.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Unter Gielens musikalischer Leitung und der Regie von Ruth Berghaus wurde zu Beginn der 80ziger in Frankurt Mozarts Entführung aufgeführt. Die Konstanze gestaltete die Sopranistin Faye Robinson. Von einer glaubwürdigen Quelle wurde mir berichtet, dass Besucher sich damals empörten, dass in Frankfurt Juden, Kommunisten und Neger sich erfrechen, Mozart zu verschandeln.

    Als Ende der 70ziger Jahre Gielen Beethovens 9. Sinfonie mit Schönbergs Überlebenden montierte, bedauerte ein Kritiker der FAZ, dass das Publikum den Dirigenten nur mit kühlem Applaus davonkommen ließ, statt von seinem Recht gebrauch zu machen, ihn zu köpfen.
    (nachzulesen im - leider - vergriffenem Buch: Paul Fiebig: „Michael Gielen - Dirigent, Komponist und Zeitgenosse“.)

    Wem wundert’s ...

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • nachzulesen im - leider - vergriffenem Buch: Paul Fiebig: „Michael Gielen - Dirigent, Komponist und Zeitgenosse“.

    bei amazon u.a. teils sehr preiswert antiquarisch:

    "http://www.amazon.de/gp/product/347…ils?ie=UTF8&me="

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Hallo, wer daran interessiert ist es gibt auch noch 1 Neues für 5€ !

    [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/215NMZH73EL._SY400_.jpg] ohne Link

    Habe mal eben das Programm gesucht zu Beethoven und Schönberg ....

    1.Teil :
    Adagio aus der 9.Sinfonie von Berthoven
    Schönberg, "Ein Überlebender aus Warschau"
    Rezitativ des Baritons "O Freunde , nicht diese Töne"
    (alles ohne Unterbrechung attacca gespielt)
    und nach dem Satz des Baritons zwei kadenzierende Akkorde

    Pause

    2.Teil
    Beethovens 9.Sinfonie (im Gesammtablauf)

    Das Publikum war schon sehr verstört danach ! Aber es war sehr Eindrucksvoll , auch weil ich den Schönberg nicht kannte!

    Bei der Entführung wurde damals der gesammte gesprochene Text dargeboten und dauerte fast 21/2 Stunden .
    Die Berghaus machte nicht nur die Inszenierung sondern war auch für das Bühnenbild verantwortlich , große Klasse !

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Gemein oder nicht gemein: Hier lese ich einen Antisemitismusvorwurf heraus. Das würde mich näher interessieren: War es bei Michael Gielen so, lieber Matthias, weißt Du da Näheres? Selbst erlaube ich mir hier keine Meinung, da ich hierüber zu wenig weiß.

    Was ich allerdings noch aus eigener Erfahrung gut in Erinnerung habe (aus Diskussionen Ende der 1960er, die ich als Schüler, der sich für Politik zu interessieren begann), ist, daß in der NS-Zeit Emigrierte nicht selten als "Vaterlandsverräter" und "Nestbeschmutzer" abgestempelt wurden. Dies traf allerdings nicht nur Juden. Das prominenteste Beispiel ist Willy Brandt, aber es gab wohl auch Künstler, die damit konfrontiert wurden.

    Es betraf und betrifft auch nicht nur Juden, massiv kritisiert zu werden (zumal in Wien!). Natürlich wurden viele Remigranten angegriffen und verleumdet, und es ist richtig, dass Matthias daran erinnert. Nur kann man leider aus der Kritik (z.B. aus den "Merker-Zitaten") kaum ableiten, welche Motivation die Kritiker im einzelnen bewogen hat. Ich bekenne z.B.: Ich konnte mit Gielens Dirigat noch nie etwas anfangen. Er war und ist für mich das Musterbeispiel eines langweiligen Geradeausschlägers. Dass er Jude ist, wusste ich bis zu diesem Thread nicht. Es hat mich auch nicht interessiert.

    Christian

  • Zitat

    Ich konnte mit Gielens Dirigat noch nie etwas anfangen. Er war und ist für mich das Musterbeispiel eines langweiligen Geradeausschlägers.

    Puh, endlich hat es jemand ausgesprochen.....

    Jetzt traue ich mich und erkläre, dass ich das ganz genauso sehe (und höre)!

    Zitat

    Dass er Jude ist, wusste ich bis zu diesem Thread nicht. Es hat mich auch nicht interessiert.

    Dito!

    Viele Grüße

    Bernd

  • einmal eher kaum, einmal echt offtopic

    1. Gielen habe ich nur in einer Generalprobe mit den Bamberger Symphonikern und einem Brahms-/Reger-Programm (mit Chor) live erlebt. Er war wohl schon an die achtzig. Ruhig erschien er mir, zurückhaltend, präzise. Gielen gilt wohl als analytischer und intellektueller Geist. In meiner Sammlung finde ich eine LP mit dem Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester und Mahlers Fünfter (die ich endlich einmal komplett hören sollte - mit Gielen ...) sowie einige CDs. Wenn Gielen ein "Geradeausschläger" ist, so stört mich das möglicherweise nicht. Ich stehe nicht sonderlich auf die Pultstarschau und denke doch, dass ein Orchesterleiter im Vorfeld prägt. (Wobei mir schon klar ist, dass arundo donax und Michael Köhn ihre Aussagen nicht wirklich so intendieren, wie es jetzt bei mir wirkt.)
    (Das braune Stoffjäckchen, das er bei der Probe trug, ist mir auch aufgefallen. Ich hatte beinahe das gleiche an. Man fühlt sich doch gleich als Existenzialist vom eher ruralen Typus ...)

    2. Amfortas, Nonoist und Hofnarr, ist zurück. Weiter so!

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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