Giuseppe Sinopoli - manierierter Schönklang oder detailgenaue Sound-Analyse?
Giuseppe Sinopoli, geb. am 2. November 1946 in Venedig, studierte zugleich Musik und Medizin mit den Schwerpunkten Psychiatrie und Anthropologie, lernte Dirigieren bei Hans Swarowsky in Wien und Komponieren bei Maderna und Donatoni und war zunächst vor allem als Komponist (Oper "Lou Salomé", UA 1981 in München) und als Dirigent neuer und neuester Musik aktiv. Bekannt wurde er aber als Operndirigent. In den 80er Jahren Music Director des Philharmonia Orchestra London und Exklusivvertrag mit der DGG, ab 1992 bis zu seinem plötzlichen Tod 2001 Chefdirigent der Staatskapelle Dresden. Abgesehen von der neuen Musik widmete sich Sinopoli fast ausschließlich der Spätromantik, v.a. Bruckner, Mahler und Strauss. Als Operndirigent galt Sinopoli zunächst als Verdispezialist, setzte sich dann intensiv mit den Opern Richard Strauss' auseinander und dirigierte schließlich kurz vor seinem Tod den "Ring" in Bayreuth. Nebenbei studierte er in seinen letzten Lebensjahren Archäologie und bereitete seine Promotion in diesem Fach vor.
Erst seit einigen Monaten ist der Dirigent Sinopoli mir näher ins Blickfeld gerückt. Auslöser war seine Aufnahme von Bruckners Fünfter, die mir eher zufällig unterkam (dazu weiter unten), inzwischen ist vieles dazu gekommen. Sinopolis Aufnahmen spätromantischen Repertoires faszinieren mich wegen ihrer wunderbar klaren Durchhörbarkeit, wegen ungewohnter sinnlicher Klangerlebnisse und wegen einem gelegentlichen Hang zu überraschend und gleichwohl überzeugend langsamen tempi.
Zum Beispiel, zur Durchhörbarkeit:
Strausssche sinfonische Tondichtung gehört nicht zu meinen ganz großen Favoriten. In der Regel türmt mit das zu sehr. Zwei Aufnahmen bilden die großen Ausnahmen von der Regel: Carlos Kleiber mit dem "Heldenleben" und diese hier. Bei Sinopoli geht keine Instrumentengruppe verloren im Großorchesterwust, auch in den tuttigsten Tuttistellen entsteht kein Klangbrei, sondern lassen sich Stimmen mühelos verfolgen. Und plötzlich höre ich, dass die Sache viel klarer, viel weniger bombastisch und viel intelligenter komponiert ist, als ich bisher glaubte. Bei Sinopoli gibt es keine Nebenstimmen mehr, jeder Stimme wird ihre Bedeutung zugestanden, und so höre ich aufregende polyphone Strukturen bei Strauss, von denen ich bisher nichts wusste.
Zum Beispiel, zu den langsamen tempi:
Dazu steht schon einiges hier.
Sinopolis Langsamkeit hat nichts mit vorgetäuschter Gedankentiefe zu tun, mit schwülstig-süßlichem Erhabenheitskitsch. Er dirigiert langsam, weil er es kann, er lässt sich Zeit, weil er sie hat. Das Ergebnis sind, nicht nur bei Bruckners langsamen Sätzen, Klangerlebnisse, die sonst in der Geschwindigkeit untergehen, rhythmische Vertracktheiten, über die sonst gerne hinweggehudelt wird. Sinopoli kann es sich leisten, Einzelnes auszukosten, weil er eine klare Vorstellung vom Ganzen hat, und den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen eines Werkes keinen Moment außer acht lässt. Das ist eben das Gegenteil von effekthascherischer Originalitätssucht. Sinopoli dirigiert nicht etwa, wie mancher es gerne tut, die langsamen Sätze besonders langsam und die schnellen besonders schnell, um seine Interpretation durch scharfe Kontraste interessant zu machen, sondern er wählt tempi, die den Klängen und den Stimmen Raum geben, in denen sie sich entfalten können. Manchmal sind diese tempi, wie im Adagio der Fünften Bruckner, geradezu aufreizend langsam. Aber ich habe nie das Gefühl, dass sie innerhalb seiner Konzeption nicht "stimmen", dass die Musik dadurch auseinanderfällt.
Zum Beispiel, zur Klangsinnlichkeit:
Über Sinopolis Mahler haben wir in den letzten Tagen in "Eben gehört" einige Worte verloren (ab S. 23). Ähnlich sinnliche Klangerlebnisse habe ich, mit ganz anderem Repertoire, bisher nur bei Aufnahmen von Ansermet gehabt. Sinopoli lotet wirklich alles aus, was die Mahlerschen Partituren an klanglichen Möglichkeiten bieten, aber wie gesagt: das ist nicht Selbstzweck. Vielmehr scheinen mir bestimmte Klänge (z.B. das Streichertremolo zu Beginn des Kopfsatzes der Siebten, das hier nicht, wie sonst üblich, verwuschelt-flokatihaft klangteppicht, sondern klar und fast zackig in deutlich voneinander abgesetzten 32teln ausgeführt wird) geradezu emblematisch den Charakter der Interpretation vorzugeben.
Sinopolis mächtiger, monumentaler Schubert ist ein klingender Nachweis, wie viel Bruckner schon in Schubert steckte - und dass die Erscheinung Bruckners doch so singulär und voraussetzungslos nicht war, wie es einem oft vorkommen mag. Mir scheint es, als unterlaufe diese Aufnahme gleichwohl Sinopolis eigenes Brucknerverständnis: sein Schubert ist "brucknerischer" im landläufigen Sinne als sein Bruckner...
Sind Sinopolis Aufnahmen des spätromantischen Repertoires klangverliebt? Zwanghaft originell? Manieristisch? Mir kommt das nicht so vor. Vielmehr scheint mir Sinopoli ein Werk von seinem je eigenen sound her zu denken, diesen kenntlich machen zu wollen und von diesem Ausgangspunkt her auch Entscheidungen zum Beispiel zur Tempowahl zu treffen. Das finde ich ebenso respektabel wie beispielsweise einen formanalytisch fundierten Interpretationsansatz. Dabei erscheint mir Sinopoli als ein ausgesprochen moderner Dirigent: mehr noch als selbst ein Gielen entwickelt er seinen Bruckner- oder Mahler-sound aus den Erfahrungen der klanglichen Erweiterungen, die das 20. Jahrhundert gebracht hat. Dass etwa Bruckner sich beispielsweise gelegentlich deutlich mit Maderna oder spätem Nono kurzschließt, höre ich in Sinopolis dem Klang Raum gebenden, das teleologisch Vorwärtsdrängende bewusst ausbremsenden Brucknerinterpretationen.
Ein letztes Bild noch:
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Ich finde dieses Cover immer wieder großartig - sich gerade anlässlich der Musik Madernas als später 19.-Jahrhundert-Dandy im Samtjackett vor venezianischer Kulisse zu inszenieren zeugt von einer herrlichen Selbstironie und zugleich von einem Zugang zu neuer Musik, der deren Herkunft und Traditionen nie verleugnet. So ist auch diese Aufnahme ein wundervoll sinnliches Erlebnis und sicherlich einer der besten Zugänge zur Musik des einzigartigen Bruno Maderna.
Grüße
vom Don