Komponisten als Interpreten eigener Werke
Hallo,
den Anlass zu dieser Threaderöffnung bietet George Enescus dritte Violinsonate, die er selbst zusammen mit Dinu Lipatti aufgenommen hat: Die Partitur ist mit dynamischen, klanglichen, artikulatorischen Zeichen geradezu übersäht, selbst kleinste Temposchwankungen werden präzise mit Metronomangaben angezeigt. Die dynamische Skala ist mit ihren zahlreichen Zwischenstufen fast verwirrend: fff, ff, bf (ben forte), f, mf, pf (poco forte), mp, poco p, p, bp (ben piano), pp, ppp; ich habe mir beim Einstudieren einen Spickzettel mit der korrekten Reihenfolge aufs Notenbrett gelegt ;+) . Die Pointe könnt Ihr schon ahnen: Der Komponist und sein Klavierpartner scheren sich bei ihrer eigenen Aufnahme um einen Großteil dieser Anweisungen überhaupt nicht. Vor allem sind die Tempi zum Teil erheblich schneller als vorgeschrieben, vom verlangten "tranquillo"-Charakter keine Spur. Über die komplexen Rhythmen im zweiten Satz wird schlampig hinweggespielt. Die ganze Aufnahme wirkt auf mich trotz großartiger Momente merkwürdig unausgereift, spannungsarm und vor allem viel zu eilig. Ich kann mir das auf verschiedene Arten erklären: Eine Möglichkeit wäre, dass Enescu und Lipatti die Aufnahme tatsächlich mal eben im Vorbeigehen gemacht haben, im Klartext: nicht richtig vorbereitet waren. Eine andere Erklärung - vor allem für die zu schnellen Tempi - wäre, dass der Komponist selbst sein eigenes Stück anders, "selbstverständlicher", weniger spannungsvoll erlebt als ein fremder Interpret, dass er sozusagen das "eigentliche" Werk innerlich hört, und dass deshalb selbst eine erhebliche Differenz zur erklingenden Darbietung für ihn ohne Relevanz ist. Die theoretische Möglichkeit, dass Enescu durch seine Einspielung nachträglich seine Partitur - z.B. deren Metronomzahlen - korrigiert hat, fällt hier m.E. weg, weil auch die zusätzlichen Charakterisierungen (wie z.B. das besagte "tranquillo") in die gleiche Richtung weisen wie die Metronomzahlen, und weil die Zahl der Abweichungen und Ungenauigkeiten dafür einfach zu groß ist. Von Bartok ist ja bekannt, dass er seinen Werken Metronomzahlen und zum Teil sekundengenaue Spieldauern zugeordnet hat, sich bei seinen eigenen Aufnahmen aber an beides nicht hielt (und sich dennoch bitter über Interpreten beschwerte, die seine Vorschriften nicht präzise ausführten). Welche Beispiele für - gelungene, irritierende, texttreue, schlampige, inspirierte, langweilige - Interpretationen eigener Werke gibt es noch? Sind Komponisten häufiger gute oder doch eher problematische Interpreten in eigener Sache? Wovon hängt das ab?
Viele Grüße,
Christian