Johann Sebastian Bach als Opernkomponist

  • Ab der Weimarer Zeit jedoch übernimmt Bach mit Rezitativ und Arie musikalische Formen aus der Oper. Rezitativ und Arie, wie wir sie bei Bach finden, finden wir in der musikalischen Struktur ebenso in der zeitgenössischen Oper - wobei Bach insbesonder die Dacapo-Arie sehr variabel handhabt und so gesehen ein sehr erfindungsreicher "Opern"-komponist ist. Nicht nur bei Bach, sondern in der Kirchenmusik allgemein war umstritten, ob Rezitativ und Arie, also die Musikformen aus der Oper, in der (protestantischen) Kirchenmusik verwendet werden dürfen. Heute ist das vergleichbar mit der Diskussion, ob im Gottesdienst die Musik von einer Band mit Gitarre usw. gespielt werden darf oder ob nur die Orgel zuständig ist.

    Will man denn den Kantaten aus Bachs Weimarer und Mühlhausener Zeit einen rhetorisch-opernhaften Stil beimessen, liegt es doch nicht fern, eine Parallele zu Buxtehude und dessen Abendmusiken zu schlagen, also zu Werken, die in Kirchen außerhalb des Gottesdienstes aufgeführt worden sind. Bei Wikipedia heißt es insoweit:


    Zitat

    "Die Veranstaltungen können vom Ablauf her nicht mit heutigen Konzertveranstaltungen verglichen werden. Wegen der Finanzierung durch den Rat, die Kaufmannskorporationen, die Zünfte und Spenden der Familien des Patriziats hatten die Veranstaltungen einen außerordentlichen Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten, nahmen nach den Berichten durchaus einen tumultartigen Verlauf und erforderten den ganzen Einsatz des Sicherungspersonals, das in Form der Ratswache von der Stadt ohne Kosten zur Durchführung der Abendmusiken abgestellt wurde. Die Sponsorensaßen erhöht auf dem Lettner und hatten so zweifelsfrei einen verbesserten Kunstgenuss bei gleichzeitigem Überblick über das turbulente Geschehen im Kirchenschiff. Anlässlich seines Besuchs bei Buxtehude in Lübeck im Jahr 1705 wird auch Johann Sebastian Bach an den Abendmusiken dieses Jahres teilgenommen haben, aus diesem Jahr hat sich auch das einzige dervon Buxtehude jährlich herausgegebenen Textbücher (Programmhefte) der Abendmusiken in der Stadtbibliothek erhalten."


    Daß Bach, wie vorstehend behauptet, diese Art der kirchenoperhaften musikalischen Darbietung gekannt hat, würde mich jedenfalls nicht erstaunen, wenn ich allein an seine Kantate "Gott ist mein König" - oder vielleicht auch noch an "Christ lag in Todesbanden" - denke, die nach meiner Auffassung einen Bach zeigen, der vereinzelt auch einen ausgeprägten Sinn für das Theatralische in der Musik gezeigt hat.

  • Mich wundert, dass der Begriff "Dramma per musica" hier noch nicht aufgetaucht ist (oder hab ich's überlesen?). Bach hat ihn auf eine Reihe seiner weltlichen Kantaten angewandt (BWV 201, BWV 205, BWV 206, BWV 207, BWV 213, BWV 214, BWV 216) und er ist mithin bei der Frage danach, wie Bach die Position zumindest einiger seiner weltlichen Kantaten sah, nicht unerheblich, stand der Begriff doch im 17. und 18. Jahrhundert synonym für den im Entstehen begriffenen und zeitgenössisch wohl eher selten genutzten Begriff "Opera seria". Bach selbst hat also bei besagten Drammi per musica zumindest eine gewisse Nähe zur Oper hervorheben wollen. Wolff hierzu:

    "Als Form wählten Bach und seine Librettisten bei diesen weltlichen Kantaten mit Vorlieben das Dramma per musica - ein Begriff der auch dien Oper mit einschloß. Und tatsächlich bestand hinsichtlich der Textdramaturgie und des musikalischen Aufbaus kein Unterschied zwischen den beiden Gattungen; die Kantaten waren lediglich kürzer und nicht inszeniert. Und wie in der Opera seria entstammten Themen und Personen meistens der klassischen Mythologie. [...] Das Leipziger Publikum, dem seit 1720 ein eigenes Opernhaus fehlte, konnte in Bachs Drammi per musica ein wenig von dem erleben, was die Königliche Oper in Dresden bot. Doch handelte es sich bei Bachs Stücken keineswegs um unzureichenden Ersatz für wirkliche Opern. Wie die Werke an jeder beliebigen Stelle erkennen lassen, beherrscht Bach die dramatische Gattung vollkommen, und seine Dialoge zeigen stets das richtige innere und äußere Zeitmaß." (Wolff 2005.S. 391)

    :wink: Agravain

  • Hm. Ich weiß nicht. Instrumentalbegleiteten Sologesang hat es auch schon vor und ausserhalb der Oper gegeben. Und das Rezitativ ist genaugenommen die Entdeckung des (kirchlichen) Psamodierens für dramatische ausserkirchliche Werke, vulgo: die Oper, also eher anders herum...:

    Ja, selbstverständlich hat es auch vor der Übernahme von Arie und Rezitativ aus der Oper in die Kirchenmusik intrumentalbegleiteten Sologesang gegeben. Dieser war bisweilen auch (secco)rezitativisch (d. h. er erfüllte die Merkmale, die später das Rezitativ ausmachten). Opernspezifisch ist jedoch der Wechsel zwischen Rezitativ und Arie, welche mit unterschiedlichen Merkmalen unterschiedliche Aufgaben erfüllten. In die Kirchenkantate übernommen wurde eben gerade nicht nur das Rezitativ als irgendein instrumentalbegleiteter Sologesang neben anderen, sondern übernommen wurde der opernspezifische Wechsel zwischen Rezitativ und Arie (wobei Bach, wie oben bereits bemerkt, sich nicht streng an die Formschemata hielt, also z. B. die Arie nicht immer ABA komponierte.

    Daß Bach, wie vorstehend behauptet, diese Art der kirchenoperhaften musikalischen Darbietung gekannt hat, würde mich jedenfalls nicht erstaunen, wenn ich allein an seine Kantate "Gott ist mein König" - oder vielleicht auch noch an "Christ lag in Todesbanden" - denke, die nach meiner Auffassung einen Bach zeigen, der vereinzelt auch einen ausgeprägten Sinn für das Theatralische in der Musik gezeigt hat.

    Der Begriff „Theatralisch“ ist unscharf. Im Bach-Handbuch (Hrsg.: Konrad Küster) finde ich auf S. 105 folgendes Zitat:

    „Als Bach 1723 zum Leipziger Thomaskantor gewählt wurde, verlangte ein Ratsherr, dass Bachs „Compositiones […] nicht theatralisch wären; …“

    Dort wie hier stellt sich die Frage, was mit theatralisch gemeint ist. Offensichtlich nicht gemeint ist die szenische Darbietung der Musik. Vielmehr dürfte die oben vor allem von bustopher angesprochene Problematik bei der Gestaltung der Figuralmusik (welche Instrumente? welche musikalische Form?) gemeint sein. Traditionelle Musikfreunde - bei Dürr findet sich dafür regelmäßig: Die Pietisten - benutzten "theatralisch" als Kampfbegriff gegen das weltliche, der Kirche Fremde, wozu insbesondere alles rund um die Oper (= dem Theater) gehörte.

    Wenn ich mir nun die Kantate „Christ lag in Todesbanden“ anschaue und sie auf Theatralisches in dieser Hinsicht untersuche, finde ich nichts derartiges.

    Zitate von Dürr (a.a.O., S. 304):

    „Den Text bildet durchgängig Martin Luthers Osterlied von 1524.“

    „Was uns beim Vergleich mit späteren Kantaten Bachs auffällt, ist das gänzliche Fehlen aller Stilelemente aus der Neapolitanischen Schule und dem Instrumentalkonzert, also von Rezitativen, Dacapo-Arien, thematischen Ritornellen, konzertanten Einleitungssinfonien, kurz allen seit Erdmann Neumeister eingeführten Satztypen. Formal repräsentiert Bachs Kantate das Choralkonzert, wie es sich am Ende des 17. Jahrhunderts herausgebildet hatte.“

    D. h. wir haben in textlicher Hinsicht gerade keine freie Nachdichtung, sondern eine traditionelle Kantate und auch in musikalischer Hinsicht eine Kantate der guten alten Schule. Mithin haben wir genau das Gegenteil von dem, was in unserem Zusammenhang als theatralisch bezeichnet wird. Der Ratsherr war zufrieden. Nebenbei gefragt: BWV 71 (Gott ist mein König) ist eine von zwei Ratswechselkantaten. Ist es nur dem frühen Datum oder auch diesem Ereignis geschuldet, dass auch diese nicht modern ist?

    Womöglich wird dein Eindruck des Theatralischen bei BWV 4, lieber Yukon, von der Vorrangstellung des Chorals erzeugt, welche die Kantate besonders prächtig und strahlend erscheinen lassen mag. Das jedoch ist aber wie gesagt etwas anderes als das Theatralische im hiesigen Zusammenhang.

    Mich wundert, dass der Begriff "Dramma per musica" hier noch nicht aufgetaucht ist

    Bachs Begriffsgebrauch hilft uns nicht weiter, denke ich. Im genannten Bach-Handbuch findet sich ein kurzer Abschnitt „Kirchenkantate in der zeitgenössischen Terminologie“ (S. 106). Dort ist zu lesen, dass Bach die Kirchenkantaten, die er im Rahmen seiner Tätigkeiten als Figuralmusik zum Gottesdienst komponierte, mit „Concerto“ überschrieben habe, während er, wenn er von Kantatenaufführungen gesprochen habe, den Begriff „Music“ benutzt habe. Bach selbst habe nie von Kantaten gesprochen. Überdies ging es Yukon gerade nicht um die weltlichen Kantaten.

    :wink: Thomas

  • Überdies ging es Yukon gerade nicht um die weltlichen Kantaten.

    Potzstern, das hatte ich schlicht überlesen... :D

    Bachs Begriffsgebrauch hilft uns nicht weiter, denke ich.

    Dem kann ich mich nicht so recht anschließen. Es ist zwar tatsächlich so, dass Bach eine Reihe anderer Begriffe für die geistliche Kantate genutzt hat. Tatsache ist jedoch auch, dass er die von mir angesprochenen weltlichen Kantaten mit augenfälliger Deutlichkeit eben nicht mal mit "Music", mal mit "Concerto", sondern ganz konsequent mit "Dramma per musica" bezeichnet hat. Damit scheint mir durchaus Raum für die Hypothse, dass Bach - zumindest für einige der weltlichen Kantaten - die Nähe zur Oper (man beachte auch die Ähnlichkeiten in der Stoffwahl) akzentuierte. Aber da die weltlichen Kantaten hier außen vor sind, ist das für die weitere Diskussion unerheblich.

    :wink: Agravain

  • Aber da die weltlichen Kantaten hier außen vor sind, ist das für die weitere Diskussion unerheblich.


    Wieso sollen die außen vor sein?

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Kinders :D,


    Yukon schrieb:

    wobei ich nicht ausdrücklich das weltliche Kantatenwerk meine

    und nicht:

    Zitat

    wobei ich ausdrücklich nicht das weltliche Kantatenwerk meine


    Was ich so interpretiere, dass das weltliche Kantatenwerk nicht in erster Linie gemeint ist (weil eh jeder drauf kommt), aber selbstverständlich auch.

    Yukon möge mich korrigieren, falls ich falsch liege.


    Außerdem haben/hätten wir hier selbstverständlich das Recht, solche Prämissen des Threadstarters zu negieren, falls wir sie für falsch erachten. Früher nannte man das mal "Threaddynamik" :D.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ja, da habe ich mich wohl verlesen. Tatsächlich lese ich es auch gern, wenn ihr euch hier über weltliche Kantaten austauscht. Allerdings finde ich persönlich die gestellte Frage nur bei den geistlichen Kantaten interessant, weil es nur dort quängelige Pietisten und Ratsherren gibt. Aber, wie gesagt, macht nur!

    Zur Threaddynamik:

    Mit Buxtehude kenne ich mich gar nicht aus. Wenn es nicht diese vorzügliche Aufnahme von geistlichen Kantaten von Junghänel gäbe, die ich jedem zum Kauf ans Herz legen möchte, müsste ich immer noch bei Buxtehude an Petrosilius Zwackelmann denken.

  • Was ich so interpretiere, dass das weltliche Kantatenwerk nicht in erster Linie gemeint ist (weil eh jeder drauf kommt), aber selbstverständlich auch.

    Yukon möge mich korrigieren, falls ich falsch liege.

    ;+) zwar nicht in erster aber in zweiter Linie.

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