Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur – Eine verdächtige Idylle


  • Dieser hochinteressante Thread hat mich dann auch angeregt, mich nach langer Zeit mal wieder mit der Vierten zu beschäftigen. Neben einigen Hörsessions hab ich gestern auch das entsprechende Interview mit Gielen aus dem Sammelband "Mahler im Gespräch" zu dieser Sinfonie gelesen und da sagt er u.a.:

    "Die Hauptschwierigkeit für den Dirigenten ist die Flexibilität des Tempos, also die Realisierung der ganz kleinen Nuancen"

    ...
    Schon die ersten Takte klingen, beispielweise bei Abbado 1978, für mich keineswegs nach lustiger Schlittenfahrtidylle, sondern eher nach schauriger Parallelwelt. Die Variation der Instrumentierung dieser Stelle in den Wiederholungen verstärkt den Eindruck. Und dann dieser Auftakt mit dem merkwürdigen Ritardando...für mich mittlerweile alles andere, als unbeschwerter Rückgriff auf eine klassische Form.

    Ich will erstmal noch ein paar Interpretationen hören, vielleicht kann ich noch was sinnvolles beitragen.
    Abschließend: Unvergessen, als Liveerlebnis, Christine Schäfer im 4. Satz. Vom Stimmtypus für mich eine Idealbesetzung.

    Auch ich werde gleich bei der Fahrt zur Arbeit die 4. hören - übrigens auch mit Gielen, dessen Mahler ich schätze. Mal sehen, wie er jetzt bei mir wirkt. Die Einspielung mit Kegel kenne ich nicht, was Gurnemanz schrieb, klingt einleuchtend und macht neugierig. Ich bin gespannt.

    Apropos "schaurige Parallelwelt" und unvergessenes Live-Erlebnis: Bei mir Die Berliner Philharmoniker unter Rattle mit Magdalena Kozena; komplett entrückt, nicht mehr von dieser Welt - sehr beeindruckend. Für mich wurde da auch deutlich, dass der Ansatz, einen Sängerknaben für den 4. Satz zu wählen (kenne ich von Bernstein), bezüglich der erforderlichen Dramatik/Tiefe nur sehr schwer mit befriedigendem Ergebnis umzusetzen sein dürfte.

    :wink:

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Kegel/Casapietra

    Auch ich werde gleich bei der Fahrt zur Arbeit die 4. hören - übrigens auch mit Gielen, dessen Mahler ich schätze. Mal sehen, wie er jetzt bei mir wirkt. Die Einspielung mit Kegel kenne ich nicht, was Gurnemanz schrieb, klingt einleuchtend und macht neugierig. Ich bin gespannt.

    Danke - und ich bin gespannt, wie Kegel bei Dir ankommt (wobei übrigens Gielen als Mahler-Dirigent bei mir nach wiederholtem Hören gewinnt, wie ich es gerade mit der Siebten erlebe, seine auf Klarheit und Durchhörbarkeit gerichtete Interpretation Mahlers lerne ich zunehmend wertzuschätzen).

    Um Deine Neugier noch etwas anzustacheln, erlaube ich mir ein Selbstzitat aus Tamino vor über einem Jahr, als ich die Kegel-Einspielung gerade erst kennengelernt hatte:

    Zitat

    Eine Aufnahme, bei der für mich alles, aber auch wirklich alles stimmt: Kegel trifft den Ton, die besondere Naivität Mahlers, die eigentlich keine Naivität ist (oder doch? gerade diese Ungewißheit und Widersprüchlichkeit, das ist der "Ton", die oft beschworene "Gebrochenheit" Mahlers): vielleicht die unstillbare Sehnsucht des erwachsenen Menschen, sich wieder in ein Kind zurückwandeln zu können.

    Als ich gestern die bombastische Steigerung am Ende des 3. Satzes ("Ruhevoll") hörte, mit dem sanften Ausklingen danach - da spürte ich ein Glücksgefühl, wie ich es beim Musikhören nicht so oft erlebe (die Stelle wird oft "verhunzt"). Und wenn am Ende die Sopranstimme anhebt, die "himmlischen Freuden" zu besingen, dann habe ich nicht den Eindruck, daß eine Frau singt - es scheint eine Knabenstimme zu sein, das "Kind", das nun endlich sprechen kann (Edwin: "eine 'gefälschte' Kinderstimme" - natürlich singt kein Knabe, sondern die erwachsene Sopranistin Celestina Casapietra, mit Kegel verheiratet).

    Wer die große Kunst dieses so unterschätzten Meisters würdigen möchte, sollte an dieser Aufnahme nicht vorübergehen. Wie Kegel Mahler versteht, wirklich versteht (auch seine Einspielung der Ersten finde ich grandios) - das kann nicht hoch genug gepriesen werden.

    An meiner damaligen Begeisterung hat sich bis heute nichts geändert.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ich besitze seit 1987 eine DENON-Aufnahme mit Eliahu Inbal, Orchester fällt mir jetzt gerade nicht ein - ist aber schon mal aufnahmetechnisch so gut, dass ich bisher keinen Bedarf für eine andere Interpretation habe.

    Ist wohl das Radio Sinfonie Orchester Frankfurt. Komisch, die 4. gibt's davon auf Amazon nicht, aber 1-3, 5-10 sind da da, und die 4. gibt's dort nur als MP3 download...

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Hallo Matthias,

    Aquarius hat sicherlich die Denon Gesamtaufnahme in einer schönen Box.
    Und er hat, so fürchte ich, den gleichen horrenden Preis bezahlt wie ich seinerzeit.

    Heute würde ich natürlich bei Brilliant zuschlagen zum Preis einer Einzel-CD.

    Grüße

  • ... Aquarius hat sicherlich die Denon Gesamtaufnahme in einer schönen Box.
    Und er hat, so fürchte ich, den gleichen horrenden Preis bezahlt wie ich seinerzeit...

    ... genau!

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Tja, und ich hatte mir damals nur die 5. gekauft... ;)

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Nachdem ich hier soviel gutes darüber gehört habe werde ich mir mal den Kegel holen ... passt dann ja auch sehr gut zu meiner Beethoven Box, sehe ich in Mahlers Symphonien doch die logische Fortsetzung des von Beethoven geprägten musikalischen Gedankens.

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Im Radio gehört

    Dreimal Mahlers Vierte, persönliche Höreindrücke...

    ROTZBUB IM HIMMEL

    3sat war am 11.7.2010 live dabei, das ARD Radiofestival (SWR 2, hr 2, NDR Kultur, MDR Figaro) brachte die Aufzeichnung am 18.7.2010, und BR-Klassik, dem der Abend am Odeonsplatz auch im Radio naturgemäß wichtiger war, setzte am Tag danach, am 19.7.2010, dieses Konzert aufs Programm. Christoph Eschenbach und das NDR Sinfonieorchester eröffneten das Schleswig-Holstein Musik Festival 2010 jubiläumsgerecht (25 Jahre Festival, 70 Jahre Eschenbach, 150 Jahre Mahler, 200 Jahre Schumann) mit Robert Schumanns Symphonie Nr. 3 Es-Dur, der "Rheinischen", und mit Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 G-Dur. Solistin war hier Christiane Oelze, Sopran. Der Schumann klingt kontrolliert, frisch und souverän. Vor allem im vorletzten Satz, dem emotionalen Zentrum der Symphonie, erreicht die Interpretation eine großartig verinnerlichte Ausdrucksdichte. Auch beim Mahler spürt man sofort: Dieses Orchester ist in dieser Musik zu Hause, man weiß alle Nuancen auszukosten und Pointen auf den Punkt genau zu setzen. Die ganz besonderen Farben fehlen hier wie dort, aber die Substanz der Musik wird kongenial herausgearbeitet. Das bedeutet bei Mahler: Der Schalk ist fast immer dabei. Markant die absichtlich verstimmte Geige im zweiten Satz! Freund Hein hat seine Freude. Phantastisch schön, wirklich ergreifend gelingt der große langsame Satz. Und der Höhepunkt darin: Die ganz große Befreiung! Christiane Oelze hat einen etwas vulgär klingenden Gesangsduktus im Finale, das ist eher ein Rotzbub als ein Engel, der da vom himmlischen Leben berichtet. Auch nicht schlecht!

    BESUCH IM SPUKKÄSTCHEN

    BR-Klassik lockte zum Vergleich: 20.7.2010, am Vormittag nach der Aufzeichnung vom Schleswig-Holstein Musikfestival konnte man noch einmal Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 G-Dur hören, diesmal aber in einer Bearbeitung für Kammerorchester. Es dirigierte Peter Selwyn, es spielten Jörg Krämer, Flöte; Michael O'Donnell, Oboe; Eberhard Knobloch, Klarinette; Vesna Stankovic, Fiona McCapra, Violine; Nicholas Barr, Viola; Sally Pendlebury, Violoncello; Tae-bun Park, Kontrabass; Andrew West, Klavier; Rita Kaufmann, Harmonium; Claire Hasted, Kevin Hathway, Schlagzeug; und das Sopransolo im Finale sang Ruby Hughes. Eine sehr reizvolle Angelegenheit, weil die Orchesterschattierungen natürlich noch viel transparenter zur Geltung kommen. Dieses Werk eignet sich hervorragend für diese Besetzung. Die Eulenspiegeleien entfalten sich noch viel deutlicher in der Auslage, viele Details werden hörbar, die sonst im Orchester-Allerlei untergehen. Wir werden Zeugen einer geistreichen, vielfach skurrilen Unterhaltung im Spukkästchen. Die „Apokalypse“ im großen, hier wunderbar poetischen dritten Satz ist viel mehr „ein Sprühregen aus dem Paradies auf eine grüne Wiese“ als das Öffnen des himmlischen Tors. Man ist ja schon drin im Himmel. Beherzt schildert uns Ruby Hughes, wie es dort zugeht. Der Himmel ist offenbar auch ein Spukkästchen. Die Aufnahme entstand im September 2009 im Neuen Museum in Nürnberg.

    SCHALK UND CHARME

    In BR-Klassik konnte man in der Nacht vom 2. auf den 3.8.2010 zwischen 2 Uhr und 4 Uhr im Rahmen des ARD Nachtkonzerts (diesmal vom rbb kommend) unter anderem Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 G-Dur mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Hugh Wolff hören. Das Sopransolo im Finalsatz sang in dieser Liveaufnahme vom Dezember 2008 aus dem Berliner Konzerthaus Lisa Milne. Wolff hat Sinn für den Schalk und Charme der Musik, er muss sich nicht vordrängen und mutwillig den Fluß der Musik über die ohnedies reichhaltig angebotenen Überraschungen hinaus aufbrechen. Sehr schön kommt zur Geltung, wie feingliedrig Mahler hier komponiert hat. Auch Sehnsucht und Sentiment kommen alles andere als zu kurz, ohne überzogen zu wirken. Lisa Milnes ausdrucksvolle Schilderung des himmlischen Lebens im Finale geht sehr zu Herzen. Es wäre schade gewesen, für diese Aufnahme nicht so lange durchgehalten zu haben.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Habe dann jetzt mal Versäumtes nachgeholt - und mir nun auch noch schnell aus dem Netz die Kegel-Aufnahme geholt.

    Beim ersten Durchhören stimme ich Dir, Gurnemanz, insofern gern zu, als dass der Kegel schroffer als Gielen (und damit weitweit schroffer als Boulez) ist. Die Pauken sind zum Ende des dritten Satzes auch für mein Empfinden bei Kegel weniger "groß". Mit scheint aber das Klangbild an dieser Stelle bei Kegel ohnehin etwas mulmiger zu sein. Pompös-triumphal erscheint es mir bei Gielen aber auch nicht. Für mein Empfinden geben sich da beide nicht allzu viel. Bei Kegel habe ich ab und an den Eindruck, das manche Stimmen stärker nach vorne geholt werden; Gielen blättert/fächert dagegen mehr auf.

    Ebenfalls ein erster Eindruck zum 4. Satz, vornehmlich der Stimme: Bei Gielen nicht überzeugend (also Christine Whittlesey), mehr flatternd-flach als entrückt (und ich bevorzuge entrückt eindeutig); Celestina Casapietra bei Kegel finde ich da weit besser.

    Nun muss ich mal los. Aber nachher hole ich mir dann auch noch meinen Abbado vor.
    Interessant. Vor allem: was für eine beeindruckende Symphonie!

    :wink:

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Willem Mengelberg von 1939

    Mahlers 4. lief einst bei mir in heavy rotations. Allerdings war das damals eine Aufnahme "traumschönen Klangkosmos'" (Solti & Kawana). Da kam mir das Idyll nie verdächtig vor.

    Ein Aha-Erlebnis hatte ich erst viel Jahre später dank der sensationellen Aufnahme durch Willem Mengelberg von 1939 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra und der unübertroffenen Jo Vincent. (Seither kann ich eigentlich kaum mehr eine andere Aufnahme mit Genuss anhören, weil alle so weichspülend harmlos sind.) Bei Megelberg ist nichts traumschön, sondern alles voll Gefahr und Grausamkeit (im besten Sinne). Das erst hat mir erlaubt, Mahler wirklich verstehen zu lerne, wie man so sagt. Außerdem ist das ein Lehrbeispiel freier und extremer Agogik, die dennoch in sich stimmig ist. Dies ist eine Aufnahme, die muss man kennen!
    :hide:

    By the way (jnd off topic): Das zweite große Lehrstück in Sachen Mahlerverständis verpasste mir Mahlers Eigeneinspielungen der Welte Mignon-Klavier-Aufnahmen von 1905/06, wo man u.a. den Schlusssatz seiner 5. Sinfonie anhören kann. Derartige Linienführung, Freiheit und Zuspitzung verschafft einen ganz neuen Eindruck. Auch das anzuhören ist ein Muss. (Neu etwa auf Steinway D bei Tacet)

    Gruß a.b.

    ----

    In der Musik geht es nicht um Perfektion, sondern um die Freiheit, zu zeigen, wer man wirklich ist.

  • Jetzt also noch den Mengelberg dazu. Na gut.

    Bei mir läuft derzeit der Boulez, der mich reichlich ratlos lässt. Nehme ich die ersten Takte der Symphonie, dann ist da wenig verdächtiges an der Idylle, welche die 4. bietet. Die Glöckchen niedlich, die Klarinette lustig, die tiefen Streicher freundlich-brummig. Eine Art "Wohlfühl-4."

    Bei Bernstein höre ich da wenigstens mehr an Zerrissenheit, vor allem an Sehnen heraus. Die Eisnpielung, die ich habe, krankt jedoch für mein Empfinden daran, dass dort tatsächlich ein Knabe singt; dadurch fehlt es mir an Tiefe (der Empfindung - das Naiv-Entrückte ist eben nicht wirklich kindlich).

    Bei Abbado (mit den BPhil) singt Renee Fleming, die in meinen Ohren wiederum etwas zu glatt klingt. Da bleibt die Casapietra die Referenz. Abbado ist ansonsnten für mein Empfinden schon wieder abgründiger als Boulez und Bernstein, aber merkwürdig geschlossen. Es gibt eine große Linie, die aber nicht weiter in Details verästelt. Das ist stimmig, aber auch etwas unbefriedigend - im Vergleich mit Gielen, da dieser weit mehr zeigt, und im Vergleich mit Kegel, der einfach intensiver ist.

    So höre ich derzeit Gielen und Kegel mit dem größten Gewinn.

    :wink:

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Die Pauken sind zum Ende des dritten Satzes auch für mein Empfinden bei Kegel weniger "groß". Mit scheint aber das Klangbild an dieser Stelle bei Kegel ohnehin etwas mulmiger zu sein. Pompös-triumphal erscheint es mir bei Gielen aber auch nicht. Für mein Empfinden geben sich da beide nicht allzu viel. Bei Kegel habe ich ab und an den Eindruck, das manche Stimmen stärker nach vorne geholt werden; Gielen blättert/fächert dagegen mehr auf.

    Daß die Pauken bei Kegel (am Ende des 3. Satzes) nicht so "groß" herauskommen, höre ich auch so, wobei ich gerade ihre Einbettung in den Gesamtklang so überzeugend finde, weil das den überraschend richtig heikel finde - ganz schwer zu realisieren, ohne daß es flach und plakativ wirkt!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • RE: Willem Mengelberg von 1939

    Mahlers 4. lief einst bei mir in heavy rotations. Allerdings war das damals eine Aufnahme "traumschönen Klangkosmos'" (Solti & Kawana). Da kam mir das Idyll nie verdächtig vor.

    Ein Aha-Erlebnis hatte ich erst viel Jahre später dank der sensationellen Aufnahme durch Willem Mengelberg von 1939 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra und der unübertroffenen Jo Vincent. (Seither kann ich eigentlich kaum mehr eine andere Aufnahme mit Genuss anhören, weil alle so weichspülend harmlos sind.) Bei Megelberg ist nichts traumschön, sondern alles voll Gefahr und Grausamkeit (im besten Sinne). Das erst hat mir erlaubt, Mahler wirklich verstehen zu lerne, wie man so sagt. Außerdem ist das ein Lehrbeispiel freier und extremer Agogik, die dennoch in sich stimmig ist. Dies ist eine Aufnahme, die muss man kennen!
    :hide:

    Wer die Einzel-Aufnahme nicht mehr findet, kann sich die 10 CD Box von Documents kaufen.
    Allerlei Historisches wird hier geboten:


    Ausführliches Tracklisting.

  • Im Zusammenhang mit der Vierten finde ich die Ausführungen in Natalie Bauer-Lechners Buch Erinnerungen an Gustav Mahler (1923) erwähnenswert.

    Zitat 1

    „Mahler erzählte: ‚Heute hat sich mir etwas Merkwürdiges ereignet. Durch die zwingende Logik einer Stelle, die ich umwandeln mußte, verkehrte sich mir alles darauffolgende derart, daß ich plötzlich zu meinem Erstaunen gewahrte, ich befinde mich in einem völlig anderen Reiche: wie wenn Du meinst, in blumigen elysischen Gefilden zu wandeln, und siehst dich mitten in die nächtlichen Schrecken des Tartaros versetzt, daß dir das Blut in den Adern gerinnt.“

    Zitat 2

    „Trotz dem gleichbleibenden Tenor des Ganzen herrsche die größte Beweglichkeit der Rhythmen und Harmonien – und erst welche Polyphonie! – in diesem Werke. Ja, oft wechseln kaleidoskopartig die tausenderlei Steinchen des Gemäldes, daß wir es in nichts wieder zu erkennen vermögen. Wie wenn uns ein Regenbogen plötzlich in die Milliarden seiner tanzenden, immer wechselnden Tropfen zerfiele und damit sein ganzer Bau zu schwanken und sich aufzulösen schiene.“

    Zitat 3

    „In Bezug auf die drei vorhergehenden Symphonien betonte Mahler den engen Zusammenhang der Vierten mit jenen, die erst durch diese ihren Abschluß erhalten.“

    Vorausgesetzt wir trauen dem Bericht der Bauer-Lechner, dann weist Mahler selbst auf die in dieser Symphonie herrschende Amibalenz hin und bewertet eine auf „Idylle“ gerichtete Rezeptionshaltung dem Werk gegenüber demnach von Anfang an als in die falsche Richtung gehend. Er verweist darauf, dass in seiner Symphonie nichts festgelegt, nichts sicher ist. Eben noch Elysium, jetzt Tartaros. Das musikalische Geschehen konfrontiert den Hörer mit permanenter Unsicherheit und beständigem Changieren bis hin zum Gefühl des Zusammenbruchs des „gesamten Baus“. Man weiß also nicht, woran man bei diesem Werk ist. Das Bild der Idylle erscheint mir vor diesem Hintergrund als Chimäre. Hinzu kommt, dass die Vierte auch eine Abschiedssymphonie ist. Mahler beendet mit ihr die Zeit des Wunderhorns. Bruno Walter schreibt in Bezug auf die Vierte hierzu an Ludwig Schiedermair:

    „Mahler, der vor Jahren das Lied ‚Das himmlische Leben’ komponiert hatte, fühlte sich, durch die ergötzliche kindliche Darstellung dieses Lebens angeregt, in solch’ eine, überaus heitere, ferne, sonderbare Sphäre hineinversetzt, und das Thematische, das ihm aus dieser ganz eigenen Empfindungswelt entstand, verbereitete er Symphonisch. Da dies freilich eine eigene Welt war, in der er lebte, [deren Luft wohl noch nie ein Anderer geathmet hatte,] so bot auch ihr musikalischer Niederschlag viel des Neuen und Überraschenden.“

    Ich habe immer das Gefühl, dass die Vierte auch Ausdruck des Umstandes ist, dass Mahler dabei ist, sich von der Welt des Wunderhorns zu trennen. Mir ist, als sei hier zum einen viel von Abschied von der „ganz eigenen Welt“ die Rede. Zum anderen ist mir so, als zeige die Symphonie einen zunehmenden Zweifel daran, dass die Welt der Wunderhorn-Romantik für den Komponisten weiterhin Bestand haben kann. Irgendwie sehe ich die Vierte zunehmend so, wie Blake die kranke Rose beschreibt: schön, aber den sie verschlingenden Wurm mitten in ihrer Blüte. Dass schon eine andere Musik in Mahlers Blickwinkel ragt, wird auch deutlich daran, dass er das eingangs für die Vierte geplante Scherzo, das in einem frühen Stadium noch den Titel „Die Welt ohne Schwere“ tragen sollte, in die Fünfte übernahm. Es war also schon zum Zeitpunkt des Entwurfs der Vierten etwas anderes da, das in der Vierten keinen Platz mehr hatte.

    Ich persönlich höre auch bei der Vierten – neben der exquisiten Kegel-Einspielung – gern Sinopoli, wobei mir bei seiner Londoner Einspielung die Gruberova nicht als ideal erscheint. Darum habe ich jetzt seine Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden und Juliane Banse bestellt.

    Richard Osborne lobte die Einspielung einst sehr, ich bin gespannt, ob ich mich anschließen kann.

    :wink: Agravain

  • Ich möchte, angeregt durch die Diskussion hier mal die versammelten Mahler-Experten fragen, was Ihr von diesen Aufnahmen haltet:

     

    Leider sind mir die hier beschworenen Kegel oder Gielen-Aufnahmen nicht bekannt. Mir persönlich sagt die Aufnahme von Solti mit dem Chicago Symphony Orchestra (gegenüber der von Lorin Maazel) mehr zu. Ich finde den darin beschriebenen Klangkosmos klarer... nun ja, das sind meine Vorlieben. Sollte ich mir noch eine weitere Aufnahme besorgen?

    ma(h)lerische Grüße

    corda vuota

  • Ich möchte, angeregt durch die Diskussion hier mal die versammelten Mahler-Experten fragen, was Ihr von diesen Aufnahmen haltet:

     

    Leider sind mir die hier beschworenen Kegel oder Gielen-Aufnahmen nicht bekannt. Mir persönlich sagt die Aufnahme von Solti mit dem Chicago Symphony Orchestra (gegenüber der von Lorin Maazel) mehr zu. Ich finde den darin beschriebenen Klangkosmos klarer... nun ja, das sind meine Vorlieben. Sollte ich mir noch eine weitere Aufnahme besorgen?

    ma(h)lerische Grüße

    corda vuota

    Hallo corda vuota,

    beide Aufnahmen sind grundsätzlich nicht schlecht, wobei in meinen Ohren keine der beiden so recht der Doppelbödigkeit wirklich gerecht wird. Wenn man eine weitere Aufnahmen anschaffen will, so würde ich - wie die meisten meiner Vorredner und nicht zuletzt der Threadstarter - zu Kegels Einspielung raten, deren Cover ich - obschon oben schon zu sehen - für Dich noch einmal poste:

    :wink: Agravain

  • unter Maazel mit dem S.O. des Bayerischen Rundfunks kann ich nur mit M08 etwas anfangen, ansonsten ist mir Maazel eher fremd, was Mahler betrifft.

    Zitat

    Leider sind mir die hier beschworenen Kegel oder Gielen-Aufnahmen nicht bekannt.

    Gielen bringt die Doppelbödigkeit von M04 (mit den NDRlern live !!) sehr gut rüber, vor allem der letzte Satz bekommt am Ende etwas Gespenstisches, nichts von Idylle; auch Livemitschnitte mit den Wienern + den Mailändern unter Lenny 80ziger, oder auch ein Livemitschnitt unter Gatti aus München kann ich empfehlen ..bin auf den letzten M04-Livemitschnitt mit den NDRlern unter Gielen gespannt.... auch Mengelberg ist sehr überzeugend...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Peter fragte im Thread "Eben gehört":

    Hier Mahler 4 mit Leonard Bernstein und Helmut Wittek. Gibt es eigentlich noch andere Aufnahmen mit Knabensopran?


    LG, Peter.

    Das hat mich jetzt auch interessiert. Unter http://gustavmahler.net.free.fr/symph4.html findet man eine auf Vollständigkeit zielende Diskographie. Ergebnis:

    Neben der Aufnahme aus Amsterdam mit Helmut Wittek (Tölzer Knabenchor) gibt es mit Bernstein noch einen Livemitschnitt von 1984, mit den Wiener Philharmonikern und dem Tölzer Knabensopran Allan Bergius.

    Gleichzeitig mit der Amsterdamer Aufnahme, also 1987, entstand folgende Einspielung mit dem Sinfonieorchester von Ljubljana unter Anton Nanut und dem damaligen Wiener Sängerknaben (und heutigen Countertenor) Max Emanuel Cencic:

    [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/510h1eufqQL._SL500_AA300_.jpg]


    Außerdem existiert von 1999 noch eine Aufnahme der Kammerorchesterfassung von Erwin Stein, mit der Northern Sinfonia unter Howard Griffiths und dem Zürcher Sängerknaben Daniel Hellmann:


    Demgegenüber stehen mehr als 160 Aufnahmen, in denen glücklicherweise eine Sopranistin mitwirkt. :D


    Viele Grüße

    Bernd

    .

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!