Unsere Gedenktafel: Aufklären durch Erinnern oder Verschweigen durch Vergessen?
Hallo,
am Rande und doch zentral:
im "Spiegel" Nr. 30 vom 26.07.2010 Seite 124-127 ist ein Interview mit dem renommierten Historiker Prof. Dr. Christian Meier („Caesar“, „Athen - Ein Neubeginn der Weltgeschichte“) über sein neues Buch „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ (München 2010) abgedruckt.
In diesem Interview vertritt Meier Hypothesen zur Thematik ‚Vergessen als Heilmittel’:
„Wenn sich Teile der Gesellschaft an erlittenes Unrecht erinnern, kann das den Lebensnerv des Gemeinwesens treffen. Die Dinge können sich auf die Alternative Gerechtigkeit oder Frieden zuspitzen.“
„...Nein, denn die Erinnerung an Schlimmes erzeugt gern den Drang zur Rache und Widerrache.“
„Wenn manches sich so liest wie ein Plädoyer für das Vergessen, dann hat das seinen Grund darin, dass ich etwas in Frage stellen wollte. Nämlich diese heute allgemeingültige Annahme: Erinnern, erinnern und nicht vergessen! Dahinter möchte ich ein dickes Fragezeichen setzen. Man muss differenzieren.“
„…Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Aber man macht selten Gebrauch davon. Wille und Wunsch sind, aufs Ganze gesehen, stärker als die Einsicht.“
Auf die Frage: „Vergessen kann eine zweite Verletzung und Demütigung der Opfer sein?“ antwortet Meier: „Sicher. Aber es gibt Fälle, wo man ihnen das zumuten muss, so leid es einem tut.“
Im letzten Teil erfahren wir vom 1929 geborenen Meier wohlbekannte empathische Relativierungen (Kann er persönlich noch nicht vergessen?):
„Die Generation meiner Eltern konnte ja nichts dafür, dass sie in dieser Zeit geboren wurde. Sie ist da hineingeschlittert, zum Teil.“
Aber er sagt auch:
„…Die Erinnerung an Auschwitz ist unabweisbar. Sie muss wach bleiben. Aber sie leidet darunter, dass sie zum Ritual zu erstarren droht…“ und: „Ich gehörte zu denen, die meinten, man müsste ein Denkmal für alle Opfer errichten. Nicht nur für die deutschen Juden.“
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Dazu meine Meinung:
Diese Einstellung ist von der Substanz vollständig unwissenschaftlich, es sei denn Meier möchte „das Vergessen“ vornehmlich als „Schwamm drüber“ definiert wissen, wovon man nicht ausgehen kann. Oder er möchte „das Vergessen“ für das gemeine Volk als Friedensgrundlage oder Friedensbeschleuniger verstanden wissen und dazu parallel die Wissenschaftselite aufgrund ihrer Forschungstätigkeit vom Vergessen befreit sehen? Hierauf (der Frage nach dem Vergessen im Zusammenhang mit einem „Fachmann des Erinnerns“ - Zitat "Spiegel") geht Meier ein: "Zum Beispiel, indem er [der Historiker; Anmerkung des Verfassers] den Wunsch zu vergessen zum Gegenstand seiner Forschung macht." Dieses erinnert ein wenig an I. Kant: „Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.“
Einen Belebungsversuch der Historikerdebatte (Historikerstreit) unterstelle ich Meier nicht; die Ansichten könnten diese aber zumindest unfreiwillig aufblühen lassen und falsche Adressaten zu Dumpfheiten befruchten.
Seine These ist anmerkungswert, aber nicht stringent - wie der Interviewverlauf zeigt - und widernatürlich. Was soll man ggf. verzeihen oder bewältigen, wer trägt die Verantwortung oder warum sollte Frieden geschlossen werden, wenn man vergessen hat? Er selbst sagt abschließend im Interview: „Ich wäre jedenfalls froh, wenn wir dieses Erinnern nicht nötig hätten. Das hieße aber, dass Auschwitz nicht geschehen wäre…“
Diese Art von „Vergessen“ trägt die Vorstellung eines - wenn auch im größeren Zeithorizont gesehenen - Kollektivvergessens in sich. Wie soll dieses vonstattengehen, wenn nicht als politisches, volkserzieherisches Programm von oben diktiert? Wer tilgt die persönlichen Erinnerungen? Wer tilgt die Geschichtsschreibung? Wer bestimmt was und wann vergessen wird? Für Meier eine „pragmatische Frage“ des Politikers.
Wie sollte mannigfaltig individuelles Vergessen vom öffentlichen Vergessen getrennt werden. Geht es um Vergessen oder um angeordnetes institutionalisiertes Verschweigen? (siehe "Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit")?
Seine These, dass die Einsicht schwächer ist als die Möglichkeit des Vergessens, bleibt unbewiesen; im Grunde ist sie unbeweisbar, denn sonst müsste man sich Erinnern.
Meier suggeriert, dass Erinnerungsrituale durch Erstarrung ungut seien. Ggf. sollte er seine Thesen mit der Forschung über kulturelle Trauerrituale und deren Funktionen abgleichen.
Es könnte sich allerdings bei Meiers 'Erinnerung an das Vergessen' (siehe oben) durch die Buchveröffentlichung und das Interview um ein gewolltes Paradoxon handeln?
Oder um es einmal boshaft und überpolemisch auszudrücken: Die Möglichkeit einer Vorabklärung künftiger, individueller Vergesslichkeit des 81-jährigen ist nicht auszuschließen.
Bis dann.