Wagner: Parsifal - Bayreuther Festspiele, 7.8.2010
Mein erster Parsifal in Bayreuth. Verantwortliche und Mitwirkende:
Musikalische Leitung: Daniele Gatti
Regie: Stefan Herheim
Bühnenbild: Heike Scheele
Kostüme: Gesine Völlm
Amfortas: Detlef Roth
Titurel: Diógenes Randes
Gurnemanz: Kwangchul Youn
Parsifal: Christopher Ventris
Klingsor: Thomas Jesatko
Kundry: Susan MacLean
Diese Produktion läuft das dritte Jahr, Dirigat und Besetzung sind mit Ausnahme der Kundry unverändert. Herheim hat die Wiederaufnahme wieder selbst einstudiert und wohl auch einige Details verändert.
Äußerst gespannt war ich auf die "authentische" Parsifal-Akustik. Und diese war tatsächlich ein Erlebnis: Der abgeblendete Klang, das Verschwinden aller Geräusche, die mit der Produktion von Tönen zu tun haben (bei den Bläsern), die Verschmelzung des Klangs, der aber nichts an Transparenz einbüßt, die Schonung der Sänger, die weniger forcieren müssen als in anderen Häusern. Man kann (wie ich) durchaus eine schärfere und direktere Parsifal-Akustik schätzen, was aber nichts an der Faszinationskraft dieses speziellen Klangs ändert. Das Orchester spielte fantastisch, auf der klanglichen Ebene gelang Dirigent Gatti vieles: wunderbar sanfte, aber z.T. auch auffällig geschärfte Mischungen. Problematisch an Gattis Dirigat sind nach wie vor die Tempi. Die Premiere vor zwei Jahren habe ich am Radio mitverfolgt - Gatti braucht für den ersten Akt inzwischen zum Glück nicht mehr zwei Stunden wie damals, sondern etwas weniger als 1:50. Dabei kommen manche rezitativischen Passagen der Gurnemanz-Erzählung überraschend flüssig daher. Anderes wird enorm verbreitert, z.B. das O wunden-wundervoller heil'ger Speer! oder die Verwandlungsmusik. Auch im zweiten Akt sehr divergierende, flexible Tempi - im dritten Akt ist dann aber die Energie erschöpft und Gatti schleppt, was das Zeug hält (die Totenklage Amfortas' um seinen Vater kam schier gar nicht vom Fleck). Schade, denn Dirigent und Orchester hatten auch hier viele bemerkenswerte Details zu bieten. Überhaupt war das die bisher erste Aufführung, bei der ich bei der von Streichern und Holzbläsern auratisch umspielten Version des Abendmahlsthemas (im Vorspiel, aber noch mehr bei der Gralsszene des ersten Akts) wirklich die Holzbläser gehört habe - das mag auch mit der spezifischen Akustik zu tun haben (die Holzbläser, insb. die Klarinetten, haben einen merkwürdig präsenten und zugleich leicht verfremdeten Ton).
Die Inszenierung bietet, wie bei Herheim nicht anders zu erwarten, enorm viel. Zudem ist sie in Presse und Netz schon oft genug durchgekaut worden, so dass ich hier auf ausführliche Deskription verzichte. Bühnenbild ist über größere Strecken Villa Wahnfried in Bayreuth, mal der große Saal von innen, mal von außen aus der Perspektive des Grabes des Ehepaars Wagner, das zu einer Art Altar wird. Technisch und visuell ungemein eindrucksvoll die zahlreichen Verwandlungen auf offener Bühne - Heike Scheele leistet wie beim Essener Don Giovanni Großartiges. Man kann vielleicht drei Ebenen unterscheiden, die Herheim auf die Bühne bringt:
a) die historische Ebene als auffälligste und meistbesprochene: der erste Akt spielt in der Kaiserzeit (wilhelminisches Bürgertum flaniert, Burschenschaftler bedrohen Kundry), am Ende marschieren die Gralsritter gestärkt in den Ersten Weltkrieg (Videoprojektionen). Im zweiten Akt sind wir zunächst im Lazarett, die Kriegsversehrten werden abwechselnd gepflegt und sexuell bedient, anschließend konkurrieren (Weimarer Republik) weiße Krankenschwestern und bunte Revuetänzerinnen als Blumenmädchen um Parsifal, bei Kundrys Klage versammeln sich anscheinend kurz vor der Deportation stehende Juden, am Ende lässt Klingsor die SS einmarschieren, Hakenkreuzflaggen werden entrollt, schließlich fällt auf Parsifals Worte In Trauer und Trümmer stürz er die trügende Welt! tatsächlich alles in Trümmer, Wahnfried brennt, die SS-Männer werden erschossen. Der dritte Akt spielt zunächst auf diesem Trümmerfeld, vor der zerstörten Villa und Projektionen von zerbombten Ruinen, nach der Verwandlungsmusik sind wir dann im Bonner Parlament. Neuenfels hatte ja schon einmal 1994 in Stuttgart die Meistersinger als Spaziergang durch die deutsche Geschichte von den 50er Jahren bis zur Wiedervereinigung inszeniert, Herheim spannt den Bogen viel weiter. Das ist alles suggestiv gemacht und bei weitem nicht so platt, wie es sich in meiner kurzen Schilderung anhören mag, aber m.E. trotzdem der problematischste Teil der Regie.
b) die aufführungsgeschichtliche Ebene: in das Konzept spielen von Anfang an Bilder herein, die an die Uraufführung 1882 erinnern: in der Gralsszene des ersten Aktes wird die Exedra von Villa Wahnfried zu dem originalen Joukowsky-Gralstempel von 1882 ergänzt. Immer wieder gibt es Anspielungen auf die bekannten Bilder der Uraufführung, extrem im dritten Akt: Hier sieht man zwar Gurnemanz noch als geschlagenen Landser in entsprechender Uniform, aber Parsifal erscheint bereits originalgetreu in Ritterrüstung und trägt später ein weißes Wallegewand. Gurnemanz, Parsifal und Kundry scheinen dann wirklich (soweit möglich) die Bilder der Uraufführung nachzustellen, was nach den überaus bewegten ersten beiden Akten extrem karg wirkt, im Zusammenklang mit Gattis Tempi auch überaus statisch. Zur Verwandlungsmusik des dritten Aktes wird dann die Aufforderung der Gebrüder Wagner zu den ersten Bayreuther Nachkriegsfestspielen 1951 projiziert, politische Gespräche zu meiden (Hier gilt's der Kunst!). Durch Spiegeleffekte wird jetzt auch das Publikum in das Bühnenbild integriert. Die Anspielungen sind unmissverständlich, wenn auch nicht eindeutig.
c) eine eher librettobezogene, psychologisch-erotische Ebene: das Vorspiel ist ausinszeniert, die in Wahnfried sterbende Herzeleide versucht sich zum Abendmahlsthema von ihrem kleinen Sohn Parsifal (im Matrosenanzug) zu verabschieden, dieser weigert sich. Später bei der Verarbeitung des Abendmahlsthemas findet dann im Zeichen der Rose der Inzest zwischen Herzeleide und Parsifal statt. Daraus entwickelt Herheim vor allem im ersten Akt ein enorm dichtes Beziehungsgeflecht: Die Figur von Herzeleide wird mit Kundry, aber auch mit Amfortas und später sogar Parsifal selbst visuell analogisiert und "überblendet", Parsifal ist in mehreren Altersstufen auf der Bühne vertreten, oft auch gleichzeitig.
Die drei Ebenen sind natürlich nicht streng geteilt, sondern korrelieren ständig miteinander. In ihren besten Passagen - vor allem im ersten Akt - entwickelt die Inszenierung gleichzeitig eine Vielfalt von Sinnangeboten und eine enorme theatralische Präsenz, so dass man schier überwältigt ist. Zur Verwandlungsmusik im ersten Akt wird die Zeit parallel vorwärts und rückwärts gedreht: Herzeleide/Kundry gebiert einen Sohn (Parsifal), der Neugeborene wird geweiht und beschnitten (!), gleichzeitig schreit Amfortas auf vor Schmerz. Kundry spielt viele Rollen - das Dienstmädchen im bürgerlichen Haushalt, die Doppelgängerin von Herzeleide und Amfortas, die Verführerin. Zur Gralsenthüllung erscheint sie nicht als Madonna wie bei Konwitschny, sondern als Verführerin: hier findet der Geschlechtsverkehr zwischen ihr und Parsifal statt, der später im zweiten Akt scheitert. Der zweite Akt ist problematischer, nicht nur wegen der historischen Parallelisierungen, sondern auch, weil die Kundry-Parsifal-Szene eher konventionell inszeniert ist. Schließlich das intendiert Verfremdende und Befremdliche des dritten Akts. (Interessanterweise fanden wir ja übereinstimmend auch beim Stuttgarter Bieito-Parsifal den ersten Akt am gelungensten - es gibt überhaupt so manche Bezüge und Gegensätze zwischen beiden Inszenierungen).
Insgesamt zeigt sich Herheim im Verbund mit seiner großartigen Bühnenbildnerin wieder als der vielleicht z.Zt. faszinierendste Schöpfer von Bildern auf der Opernbühne, weniger als "Personenregisseur". Die Figuren entwickeln zumindest kein Profil im Sinne einer konventionell-psychologischen Inszenierung, was kein Fehler sein muss. Die Sänger hatten es schwer, sich gegen die Präsenz der Bilder zu behaupten: Kwangchul Youn als Gurnemanz sang aber großartig, mit exzellenter Diktion, erinnerte bei manchen verinnerlichten Piano-Stellen an Kurt Moll. Positiv überrascht war ich von Christopher Ventris in der Titelrolle: wie er die Ausbrüche im zweiten Akt meisterte, ohne in Geschrei zu verfallen oder den Text zu vernachlässigen, hat mich sehr überzeugt. Stimmlich sicher, mit hellem und etwas farblosem Bariton Detlef Roth als Amfortas. Solide Thomas Jesatko als Klingsor. Susan MacLean schlug sich als Kundry wacker, konnte aber Defizite in der Höhe und bei der Intonation nicht verleugnen.
Vieles habe ich bei dieser Schilderung weggelassen, manches möglicherweise auch durcheinandergebracht. Ich wäre also für andere Meinungen und Ergänzungen dankbar, zumal ich weiß, dass ich nicht das einzige Capriccio-Mitglied bin, das diese Produktion gesehen hat/noch sehen wird...
Viele Grüße
Bernd