Christoph Schlingensief (1960 - 2010)
Die Berliner Staatsoper hat für ihre erste Saison in der Ausweichspielstätte „Schillertheater“ am 03.10.2010 eine Uraufführung angesetzt: die Oper „Metanoia“ von Jens Joneleit auf einen Text von René Pollesch sollte von Daniel Barenboim dirigiert und von Christoph Schlingensief inszeniert werden. Christoph Schlingensief kann diese Produktion nicht mehr betreuen, er verstarb am heutigen Samstag im Alter von 49 Jahren. Schlingensief wurde ein Opfer seiner seit längerem bekannten Lungenkrebserkrankung.
Geboren wurde Christoph Schlingensief am 24.10.1960 in Oberhausen. Schlingensief, der in München Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik studierte, machte sich zuerst einen Namen als Filmemacher. So schildert bsplsw. das „Deutsche Kettensägenmassaker“ aus dem Jahr 1990, wie eine Metzgersfamilie aus DDR-Bürgern in einer reichlich skurrilen Geschichte Wurst produziert.
Meine erste Begegnung mit einer Theaterproduktion von Schlingensief war im Jahr 1993 „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ an der „Volksbühne“ in Berlin. Ich wusste nicht so genau, was mich erwartete, aber eines war für mich sehr schnell klar: Vergleichbares hatte ich auf der Bühne nie gesehen. Frei improvisierte Passagen standen neben zumindest dem Grunde nach festgelegten Abläufen, das Publikum wurde nicht nur angespielt, sondern auch mit einbezogen, unter einer geradezu aberwitzigen Spielfreude schien der Abend immer wieder aus den Fugen zu geraten - und trotzdem machte das alles irgendwie Sinn. Absolut faszinierend, Geschmacksgrenzen überschreitend, polarisierend – ein Theater von einer unglaublichen Kraft: verstörend, fordernd, tief ernst und immer wieder auch heiter.
Es folgten an der Volksbühne „Kühnen 94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ und „Rocky Dutschke 68“ (die Hörspielfassung dieses Stückes wurde mit Preisen bedacht). Das Publikum mochte Schlingensief nicht bedingungslos folgen, man rieb sich an seinen nicht leicht zu fassenden Produktionen.
Schon in dieser Zeit arbeitete Schlingensief mit Behinderten und provozierte die Frage, ob man dies denn in der Form machen darf, wie Schlingensief es tat, in einem Züricher „Hamlet“ arbeitete er mit aussteigewilligen Neonazis, auch hier wurde gleich die Frage gestellt, ob man das denn machen darf. Schlingensief war immer überzeugt von dem, was er tat, für ihn stellten sich solche Fragen nicht.
Wer Schlingensief live erleben konnte, sah immer einen Mann, der sich verausgabte. Ich erinnere mich an einen Abend seiner Produktion „Quiz 3000“, wo ein immer stimmloser werdender Schlingensief den Abend an den Rand des Abbruchs brachte – die heisere Stimmlosigkeit lies sich auch beim „Pfahlsitzen“ an der Frankfurter Hauptwache beobachten, eine Aktion, die Schlingensief mit Begeisterung selbst betreute.
Zwischenzeitlich war Schlingensief selbst den grösseren Theatern nicht mehr wirklich unheimlich genug, um ihn nicht zu engagieren: am Burgtheater in Wien inszenierte er „Bambiland“ von Elfriede Jelinek, in Bayreuth war er der Regisseur von Wagners „Parsifal“. Die Produktion der Wagner-Oper war erstaunlich erfolgreich – auch wenn Titelrollentenor Endrik Wottrich sich als eigentlich grösseres Problem als der Festspielleiter Wolfgang Wagner erweisen sollte. Katharina Wagner hat nach eigener Aussage Schlingensief in ihrer „Meistersinger“-Inszenierung in der Figur des Stolzing ein kleines Denkmal gesetzt.
Einen Eklat gab es in Bonn als Schlingensief in der Uraufführung der Oper „Freax“ von Moritz Eggert statt richtiger Opernsänger/innen lieber jene Behinderte auftreten lassen wollte, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitete, der Komponist weigerte sich, die Uraufführung konnte nur halbszenisch stattfinden. Freax
Eine Produktion der „Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels an der „Deutschen Oper“ konnte Schlingensief wegen seiner damals ausgebrochenen Krebserkrankung nicht mehr selbst betreuen, sein Produktionsteam übernahm diese Aufgabe und zeigte einen bildstarken, fulminanten Opernabend, der mit normalen Massstäben kaum zu messen ist. hl. Johanna
Neben Kunstaktionen wie der „Kirche der Angst“ – oder auch einer Parteigründung – engagierte sich Schlingensief für ein „Festspielhaus für Afrika“, inszenierte schon mal Wagner im Urwald und ging sehr offensiv und berührend mit seiner Krebserkrankung um.
Mit Christoph Schlingensief verliert das deutsche Theater einen seiner radikalsten, vielleicht auch unbequemsten und sicher am schwersten einzuordnenden Regisseure. Er war jemand, der eine unglaubliche Energie zu besitzen schien. Dass er jetzt, im Alter von nur 49 Jahren verstarb, ist trotz seiner bekannten Krankheit noch schwer begreifbar.