Brian, Havergal - der alte Mann mit der jungen Musik
30. Oktober 1966, Royal Albert Hall, London: Der leise Schluß des gigantomanischen Werks verklingt. Der Dirigent Adrian Boult erzwingt noch einen Moment der Stille. Dann brechen die Ovationen los. Der Komponist betritt das Podium. Der Anblick ist rührend und grotesk zugleich. Der gebrechlich wirkende Neunzigjährige dankt den Sängern und Musikern eines Riesenapparats - der größten Besetzung, die jemals ein Komponist vorgeschrieben hat: Havergal Brian hat die professionelle Aufführung seiner Symphonie "The Gothic" entgegen seinen Erwartungen doch noch erlebt. Havergal Brian, der Gigantomane? Der Schamane für einen verschworenen Kreis von Verehrern? Oder doch ein Komponist, den man auf breiter Basis entdecken müßte?
Biografisches
Havergal Brian wird am 29. Januar 1876 in Dresden, Staffordshire in eine Arbeiterfamilie geboren. Sein Name ist William Brian, den Vornamen Havergal" findet er später bei einem Prediger, er ist so fasziniert von dem altertümlich und ungewöhnlich klingenden Namen, daß er ihn als seinen eigenen Vornamen wählt.
Brian besucht die Grundschule, nach deren Abschluß er mit diversen Jobs, u.a. als Kohlenarbeiter, seinen Lebenunterhalt verdient. Er interessiert sich für Musik und bringt sich die Grundlagen im Selbststudium bei. Eine Probe zu Edward Elgars Oratorium "King Olaf" ist für Brian die Initialzündung: Er beginnt sich nicht nur für die zeitgenössische Musik zu interessieren, er will selbst an ihr teilhaben - und zwar als Komponist. Brian besucht die diversen Festspiele und freundet sich mit dem englischen Komponisten Granville Bantock an, in dem er einen ersten Fürsprecher findet.
1898 heiratet Brian Isabel Priestley, mit der er fünf Kinder hat.
1907 wird der Dirigent Henry Wood, ein förderer neuer englischer Komponisten, auf die (erste) "English Suite" Brians aufmerksam und dirigiert sie bei den Proms. Damit beginnt die kurze Zeit Brians als Erfolgskomponist. Seine Orchesterwerke werden viel und von prominenten Dirigenten und Orchestern gespielt. Allerdings schlägt sich Brian mit seiner ruppig-linkischen Art in den vornehmen Kreisen, in denen er nun verkehren muß, auch viele Türen zu. Schließlich bleibt ihm nichts Anderes übrig als von den jährlich 500 Pfund zu leben, die ihm der Geschäftsmann Herbert Minton Robinson jährlich zahlt.
Robinson hat den Hintergedanken, als Mäzen eines bedeutenden Komponisten in die Musikgeschichte einzugehen. Doch bald sieht es so aus, als habe Brian gar nicht vor, ein zu Lebzeiten bedeutender Komponist zu sein. Zuerst zieht er nach London um. Dann arbeitet er an riesigen Projekten fern der Realisierbarkeit. Das Geld fließt in Reisen und teure Essen.
1913 kommt auch noch ein Skandal hinzu: Brian beginnt eine Affäre mit seinem jungen Dienstmädchen, Hilda Maria Hayward. Brians Frau zieht aus, die Ehe ist am Ende. Robinson ist entsetzt, setzt die finanzielle Unterstützung jedoch nicht aus - nur fließt sie jetzt zum großen Teil in die Tasche von Brians getrennt lebender Ehefrau. Bis 1933 leben Brian und Hilda Hayward zusammen, dann erst heiraten sie. Mittlerweile haben sie fünf gemeinsame Kinder.
Im ersten Weltkrieg wird Brian eingezogen, aber wegen einer Handverletzung ausgemustert, ehe er zum Einsatz kommt. Die Stimmung liefert ihm den Stoff für seine Oper "The Tigers", die keine lineare Handlung hat und im Aufbau entfernt an Karl Kraus' "Letzte Tage der Menschheit" erinnert.
Bis 1954 wird kein einziges Werk Brians aufgeführt. Dennoch arbeitet der Komponist - langsam, aber unermüdlich - weiter. Anfang der Fünfzigerjahre wird Robert Simpson auf Brian aufmerksam. Simpson ist selbst Komponist, hat sich wissenschaftlich mit Bruckner und Sibelius auseinandergesetzt und sieht in Brian weniger einen stilistischen verwandten als einen Verwandten im Geiste dieser Komponisten: Eigenbrötlerisch und ohne Rücksicht auf Erfolg oder Mißerfolg den eigenen Weg beschreitend. Simpson ist Musikproduzent bei der BBC und kann dadurch für Brian agieren. 1954 überredet er Sir Adran Boult, die 8. Sinfonie Brians ins Programm zu nehmen. Brian ist zu diesem Zeitpunkt 78 Jahre alt.
Die Erfahrung, von einem erstklassigen Dirigenten an der Spitze eines erstklassigen Orchesters aufgeführt zu werden, löst in Brian einen Schaffensschub aus. Er komponiert bis zu seinem Tod 22 Sinfonien und etliche andere Orchesterwerke.
1961 wird Brians Erste Sinfonie, "Gothic Symphony" von einem semiprofessionellen Ensemble uraufgeführt. 1966 dirigiert Boult dann die erste rein professionelle Aufführung. Simpson schafft es, daß die BBC alle Sinfonien Brians zumindest ein Mal spielt, teilweise freilich nach Brians Tod.
Eine der berührendsten Aufführungen wird wohl die der 28. Sinfonie unter Leopold Stokowski im Jahr 1973 gewesen sein: Brian war 91 Jahre alt, als er sie komponierte, Stokowski war 91 Jahre alt, als er sie dirigierte. Allerdings erlebte Brian die Aufführung nicht mehr. Er war im Jahr zuvor im Alter von fast 97 Jahren am 28. November in seinem Haus in Shoreham-by-Sea gestorben.
Das Werk
Havergal Brians hauptsächliches Schaffen umfaßt 32 Sinfonien, 33 Orchesterwerke inklusive einem Konzert für Cello und einem Konzert für Violine, sowie die Opern "The Tigers" (eigenes Libretto), "Turandot" (Schiller nach Gozzi), "The Cenci" (nach Percy Bysshe Shelley), "Faust" (nach Goethes Faust 1) und "Agamemnon" (Brian nach Aeschylus, gedacht als Vorspiel zu Richard Strauss "Elektra"),
Brian war modern in seinem Denken: Er schätzte die Musik von Komponisten wie Arnold Schönberg, Edgar Varèse und Paul Hindemith. Sein eigenes Werk stand anfangs unter dem Einfluß von Granville Bantock und Edward Elgar: Wie sie, so neigte auch Brian zu allzu großer Gestik, zu übertriebener Feierllichkeit. Sein Werk ist damit ein Kind des Viktorianismus. Vielleicht wäre Brian, hätte er ein weltmännischeres Auftreten gehabt und sich besser verkaufen können, ein in Großbritannien hin und wieder gerne gespielter Produzent nationalstolzer Musikergüsse geblieben. Doch als die Aufführungen zurückgingen und schließlich ganz ausblieben, hatte Brian keinen Grund mehr, auf ein potentielles Zielpublikum und seine nationalen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Er komponierte, wie er wollte. Und das war teilweise doch recht absonderlich.
Die abendfüllende "Gothic Symphony" , ein Monstrum, das etwa 190 Musiker im Orchester, 500 Choristen, 100 Knabenstimmen und, quasi zum Drüberstreuen, 4 Solisten benötigt, ist eine erste Kostprobe: Prinzipiell ist es ein Werk auf nachromantischer Basis, wie man es von einem Komponisten erwartet, der seinen (frühen) Arnold Schönberg, seinen Richard Strauss und seinen Gustav Holst kennt. Aber es gibt in dieser "Gothic Symphony" erstaunliche Einbrüche von grellen Dissonanzen in den Blechbläsern und Schlagzeugen, und es gibt auch clusterähnliche Akkordballungen im Chor, wie man sie in der nachromantischen Musik kaum je findet. Wenn man obendrein Brians Aussage Glauben schenkt, er habe bis dahin nie ein Werk Gustav Mahlers gehört, so muß man feststellen, daß beide Komponisten zu erstaunlich ähnlichen harmonischen Fortschreitungen und melodischen Bildungen kommen.
Das Problem der "Gothic Symphony" ist ihre überdimensionale Besetzung - und zwar nicht nur wegen der Aufführbarkeit. Durch die riesige, kaum exakt zu koordinierende Besetzung verschwimmen die Kühnheiten und das Schroffe ertrinkt im Klangbad. Was beispielsweise ein aufsehenerregender Cluster im Chor wäre, klingt schlicht als intonatorische Ungenaugkeit und fällt in der ohnedies zwangsläufig permanent verschwimmenden Intonation von Chor und Orchester nicht weiter auf. Die Symphonien 2 und 4 leiden unter ähnlichen Problemen: Die zweite unter dem überdimensionierten Orchester (mit 16 Hörnern und zwei Klavieren), die Vierte unter dem abermals riesigen Orchester , zu dem auch noch ein Doppelchor tritt. Auch in der geringfügig ökonomischer besetzten Dritten wird zuviel komplexe Polyphonie von zuvielen Musikern ausgeführt, um letzten Endes durchhörbar zu sein.
Mit der Fünften (1937 fertiggestellt) ändert sich das Bild: Brian verwendet ab jetzt normal große Standardbesetzungen, im konkreten Fall tritt noch ein Baritonsolist hinzu. Brians Linien sind flüssig, sein Kontrapunkt ist immer noch etwas dicht, aber durchhörbar, die Harmonik ist teilweise simpel, teilweise auch geradezu verwegen.
Mit der Sechsten Sinfonie, "Sinfonia tragica" (1948 fertiggestellt) beginnt der Kanon der für Brian charakteristischen Symphonik: Die Themen bestehen aus wenigen Tönen in prägnanten Intervallen, die weniger variiert als daß sie permanenten Metamorphosen unterzogen werden: Die Intervalle prägen dabei Gedanken, die auf den ersten Blick mit dem Ausgangsthema nichts zu tun zu haben scheinen, mitunter ist auch lediglich die Richtung, nicht aber die Weite der Intervalle übernommen. Was auf einen ersten Blick wie freies Fantasieren aussieht, ist in Wirklichkeit eine motivische Arbeit bis in die Details. Die Harmonik ist dabei schroff, als Konsonanzen treten Quarten und Quinten häufiger auf als Dreiklänge. Zumeist ist die Harmonik jedoch ohnedies dissonant, wobei sie sich vorwiegend aus der Stimmführung ergibt und nur stellenweise aus akkordischem Satz. Die Instrumentation nützt eher Schwarz-Weiß-Kontrastwirkungen als Farbauftrag.
Ein Chrakteristikum Brians ist der sprunghafte Wechsel der Bewegung und Gestik, was seiner Musik die Eigenart ständiger Brüche verleiht. Die Symphonie entwickelt sich nicht mehr kontinuierlich, sondern besteht aus den wesentlichen Einzelteilen, deren Verbindung sich der Zuhörer selbst schaffen muß. Brians Symphonien sind ab der Sechsten und noch stärker ab der Zehnten weniger Symphonien als Inhaltsangaben von Symphonien.
In den Opern hingegen muß Brian Rücksicht auf die Singstimme nehmen, sie gehören somit zum Typus der nachromantischen Oper mit fallweise expressionistischen Elementen, wobei die auch musikalisch kaleidoskophafte Oper "The Tigers" der textlich wie musikalisch interessanteste musiktheatralische Entwurf Brians sein dürfte.
Die Brian-Problematik
Ein interessanter, mitunter sogar sehr guter und vor allem eigenständiger britischer Komponist, der nicht einmal in seiner Heimat auch nur ansatzweise zum Repertoire gehört - was ist da schiefgegangen?
Ganz einfach: Brian wurde zum Objekt einer Missionierung. Simpson meinte es gut, und er wollte dem alten Mann zweifellos auch noch die Freude machen, zumindest einen großen Teil seiner Sinfonien aufgeführt zu erleben. Aber im Grunde steckt hier schon das Problem: Die zyklische Aufführung des sinfonischen Schaffens eines praktisch vergessenen Komponisten wird stets kritisch beäugt. Es war so im Fall von Egon Wellesz, als das Musikprotokoll des steirischen herbstes die Sinfonien spielte und die Kritik zum Schluß kam, Wellesz sei nicht der übersehene Mahler und auch kein Messias der nach-mahlerschen Sinfonik, und es war so bei Brian und der BBC: Man hörte eine um die andere Sinfonie und begriff, daß es da einen gab, der offenbar unablässig eigenbrötlerische Sinfonien schrieb, die den Modernen zu konservativ und den Konservativen zu modern waren, aber in der Fülle fehlte die Initialzündung zur Wiederbelebung. Denn daß die Aufführung der "Gotischen" keine sein konnte, hätte klar sein müssen: Ein Werk, das an die 1000 Mitwirkende erfordert, kann bei bestem Willen nicht zum oft gespielten Repertoirestück werden.
In der Folge bildete sich eine Anhängerschaft, die Brians Musik verehrt, mitunter einfach aus dem Grund, weil niemand anderer diese Musik verehren will. Anders gesagt: Die Brian-Anhängerschaft fühlt sich bei einem nicht dem Repertoire hinzugewonnen Brian wohler, denn erstens kann man, solange Brian ein Außenseiter ist, missionieren; zweitens schweißt nichts sosehr zusammen und hebt weniges den Stolz in höhere Höhen als der Glaube, einen Künstler entdeckt zu haben, der doch nur im Quasi-Besitz ganz weniger sei. Die Brian-Anhängerschaft findet also nichts dabei, etwa Messiaens "Turangalila" als lang und langweilig herabzusetzen, wohingegen Brians Symphonik im Vergleich weit überlegen sei. Mit solchen Behauptungen erweist die Brian-Anhängerschaft ihrem Lieblingskomponisten jedoch einen Bärendienst, denn wer so argumentiert, kann nicht ernst genommen werden - und das fällt wiederum auf Brian selbst zurück.
Richtiger wäre es, Brian als den zu betrachten, der er war: Er hat, aus der Spätromantik kommend, einen eigenen Weg beschritten, der an die Grenzen der Atonalität und darüber hinaus führte, ohne sich in die Nähe der Zweiten Wiener Schule zu begeben. Er hat auch eine Symphonik entworfen, die sich auf die Darstellung der strukturellen Kulminationspunkte beschränkt, die zu ihnen führende Entwicklung aber ausspart. Die Rolle Brians als einer der großen Außenseiter der Musik des 20. Jahrhunderts wäre eine ihm angemessene und durchaus vorteilhafte. An der Rolle eines musikalischen Messias hingegen scheitert Brian ganz zwangsläufig ebenso wie alle anderen Komponisten, die von ihren Anhängern in sie hineingezwungen werden.