Arnold Schönbergs größter Erfolg - Die "Gurrelieder"
Arnold Schönberg (1874-1951):
Gurrelieder - Oratorium in 3 Teilen 1900-11 (UA 1913)
für Sopran, Mezzosopran, 2 Tenöre, Baß, Sprecher, 3 vierstimmige Männerchöre, achtstimmigen gemischten Chor und großes Orchester
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Uraufführungen
Uraufführung des I. Teils (in einer Bearbeitung für 2 Klaviere zu 8 Händen):
Ehrbar-Saal in Wien am 14. Januar 1910
Waldemar - Hans Nachod, Tenor; Tove - Martha Winternitz-Dorda, Sopran;
Etta Werndorf, Arnold Winternitz, Anton von Webern, Rudolf Weinrich, Klavier
Uraufführung der dreiteiligen Gesamtfassung:
Großer Musikvereinssaal, Wien; Sonntag, 23. Februar 1913
Waldemar - Hans Nachod, Tenor; Tove - Martha Winternitz-Dorda, Sopran; Waldtaube - Marya Freund, Alt; Klaus-Narr - Alfred Boruttau, Tenor; Bauer - Alexander Nosalewicz, Baß; Ferdinand Gregori, Sprecher;
Wiener Philharmonischer Chor, Wiener Kaufmännischer Gesangverein;
Wiener Tonkünstler-Orchester;
Leitung: Franz Schreker
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Großer Musikvereinssaal in Wien, am Sonntagabend des 23. Februar 1913 um halb acht Uhr.
Vor der Uraufführung des Oratoriums 'Gurrelieder' des vom Großteil des Publikums als "Bürgerschreck" verschmähten Arnold Schönberg herrscht eine gespannte Atmosphäre. Immer wieder hatten Aufführungen der Werke des Komponisten in den vergangenen Jahren tumultartige Szenen und Skandale provoziert, so z. B. die Uraufführung seines 2. Streichquartetts (1907/08). Der Schöpfer der frühen symphonischen Dichtungen, Lieder und Kammermusik spätromantischer Prägung hatte sich konsequent - und von der ablehnenden Reaktion der zeitgenössischen Zuhörerschaft unbeeindruckt - zum eigensinnigen "Neutöner" entwickelt. Ein ebensolches eindrucksvolles Beispiel für seine tiefgreifende Radikalität hatte der Vater der 'Zweiten Wiener Schule' 1912 mit dem Melodram 'Pierrot Lunaire', opus 21 vorgelegt.
In Erwartung eines weiteren provozierenden "Events", das man nicht gewillt war, unkommentiert über sich ergehen zu lassen, hatte sich zur Uraufführung der 'Gurrelieder' unter die zahlreichen Zuhörer eine ganze Reihe von potentiellen Störenfrieden gemischt:
In hundert Augen lauert schon die Schadenfreude: heute wird man's ihm wieder einmal zeigen, ob er sich's wirklich erlauben darf, zu komponieren wie er will und nicht wie die anderen es ihm vorgemacht haben. Es kam jedoch gänzlich anders.
Das jubelnde Rufen, das schon nach dem ersten Teil losbrach, stieg zum Tumult nach dem dritten, ... Und als dann der machtvoll aufbrausende Sonnenaufgangsgruß des Chors vorüber war, ... kannte das Jauchzen keine Grenze mehr; mit tränennassen Gesichtern wurde dem Tondichter ein Dank entgegengerufen, der wärmer und eindringlicher klang, als es sonst bei einem "Erfolg" zu sein pflegt: er klang wie eine Abbitte.
Ein paar junge Leute, die ich nicht kannte, kamen mit schamglühenden Wangen und gestanden mir: sie hätten Hausschlüssel mitgebracht, um zu Schönbergs Musik die ihnen angemessen erscheinende hinzuzufügen, und nun seien sie so ganz zu ihm bezwungen worden, daß sie nun nichts mehr von ihm abbringen könne.
Richard Specht, 1913, "März" (Berliner Zeitschrift)
Nicht nur die Publikumsreaktionen, sondern auch die durchweg positiven Zeitungsberichte deuteten bereits an, daß dieses Uraufführungskonzert als einer der größten Erfolge des Komponisten in die Rezeptionsgeschichte der Schönbergschen Werke eingehen sollte.
Wie kam es aber nun dazu, daß ein derart publikumsfreundliches, im Schönklang der Spätromantik schwelgendes, opulent besetztes und umfangreiches Opus in einer Zeit präsentiert wurde, in der Schönberg längst die Grenzen der Tonalität hinter sich gelassen hatte? -
Wie sich im Folgenden zeigen wird, hatte sich der Komponist keinesfalls zum Romantiker zurückentwickelt, um sich einem konservativen Publikum anzubiedern, sondern es kam 1913 zur längst überfälligen Aufführung eines Werkes, dessen Komposition zwar lange vollendet worden war, deren Orchestrierung sich jedoch (mit Unterbrechungen) etwa zehn Jahre hingezogen hatte.
Autor und Text
Jens Peter Jacobsen (1847-1885)
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Gurresange (Gurrelieder) aus der Sammlung: En cactus springer ud (Ein Kaktus blüht) - Novelle 1869/70 (1886 erschienen)
Deutsche Übersetzung: Robert Franz Arnold (1872-1938) (eigentlich: Levisohn)
Übersetzung 1897 entstanden und 1899 erschienen.
Der von Schönberg vertonte Text stammt aus der Feder des dänischen Botanikers und Dichters Jens Peter Jacobsen (1847-1885). Der überzeugte Darwinist war um die Jahrhundertwende ein vielgelesener, populärer Romanautor.
Die Versfolge 'Gurresange' hat Jacobsen mit weiteren, in impressionistischem Stil gehaltenen Jugendgedichten zu einer Novelle mit Rahmenhandlung zusammengefügt: In 'En cactus springer ud' ('Ein Kaktus blüht') vertreiben fünf junge Männer sich selbst sowie ihrem Gastgeber nebst Tochter die Zeit durch das Vortragen eigener Werke (darunter 'Gurresange'), während man auf das Aufblühen eines seltenen Kaktus wartet.
Der Inhalt der 'Gurresange'-Gedichte gründet sich auf den im 19. Jahrhundert sehr beliebten und in etlichen Fassungen überlieferten mittelalterlichen Sagenstoff (I. Teil) um die heimliche Liebe des dänischen Königs Valdemar (oder auch Volmer) IV. Atterdag zu dem schönen Mädchen Tovelille (kleine Taube) auf Schloß Gurre am Esrom-See (nördlich von Kopenhagen). Zum Ende des I. Teils verkündet die Stimme der Waldtaube den Tod Toves durch die rasend eifersüchtige Königin Helwig.
Der sehr kurz gehaltene II. Teil enthält eine wilde Gottes-Anklage Waldemars, in der er - verzweifelt über den Verlust der Geliebten - unverhohlen die allzu menschlichen Züge des tyrannischen Herrschers verurteilt.
Die im III. Teil geschilderte 'Wilde Jagd', nach der König Waldemar und seine Mannen dazu verdammt sind, als unerlöste Tote rastlos durch die Nacht zu reiten, entstammt einem eigenen Sagenkreis und wurde erst später mit der 'Gurre'-Legende verknüpft.
Mit Einführung der Figuren des abergläubischen Bauern und des Klaus-Narr erfährt die Geschichte, insbesondere bezüglich allzu naiver, irdisch-menschlicher Vorstellungen von Gott, Himmel, Sünde, Strafe und Erlösung eine ironische Brechung.
Der das Werk beschließende Abschnitt 'Des Sommerwindes wilde Jagd' beschreibt die im Tages- und Jahresrhythmus stets wiederkehrende Auferstehung der Natur. Und vor allem in der anschaulichen Schilderung der Pflanzen, der Tiere, des Windes und schließlich der aufgehenden Sonne zeigt sich überaus deutlich die exakte Beobachtungsgabe Jacobsens, des studierten Botanikers und Naturwissenschaftlers, der jedoch darüber hinaus von den zeitgenössischen spekulativen Theorien über das Seelenleben der Pflanzen beeinflußt war.
Und somit findet die Handlung des Werkes nicht wie bei Wagner im Liebestod ihr Ende, sondern - versinnbildlicht im strahlenden Aufgang der Sonne - in einer hymnischen Verklärung der allumfassenden Natur.
Im vorletzten Gesang des III. Teils spricht Waldemar die Vorstellung von der beseelten Natur aus. Tove und die Natur sind eins geworden:
Mit Toves Stimme flüstert der Wald,
mit Toves Augen schaut der See,
mit Toves Lächeln leuchten die Sterne ...
Entstehung
Schönberg lernte Jacobsens Gedichte in der Übersetzung des Wiener Philologen Robert Franz Arnold (1872-1938) kennen, die 1897 entstand und 1899 im Druck erschien.
Auf die Ausschreibung eines Komponistenwettbewerbes des Wiener Tonkünstler-Vereins hin begann Schönberg vom Jahre 1900 an, einige Gedichte als Liederzyklus für Gesang und Klavier zu vertonen. Weil er jedoch den Liedern wegen ihrer Neuartigkeit keine großen Erfolgschancen bei dem Wettbewerb einräumte, reichte er diese nicht ein, sondern verwendete sie als Grundlage zur Schaffung eines großen, dreiteiligen Oratoriums für Solisten, Chöre und Orchester, wobei die Komposition bereits 1901 vollendet wurde, die Umarbeitung und aufwändige Instrumentierung sich aber - verursacht durch längere Unterbrechungen - bis 1911 hinzog.
Besetzung
Soli:
Singstimmen: Sopran, Mezzosopran, 2 Tenöre, Baß; Sprechstimme: 1 Sprecher (Melodram)
Rollen: Waldemar - Tenor; Tove - Sopran; Waldtaube - Mezzosopran; Bauer - Baß; Klaus-Narr - Tenor
Chöre:
3 vierstimmige Männerchöre, 1 achtstimmiger gemischter Chor
Orchester:
Holzbläser: 4 Piccoloflöten, 4 Flöten, 3 Oboen, 2 Englischhörner, 3 Klarinetten in A oder B, 2 Klarinetten in Es, 2 Baßklarinetten, 3 Fagotte, 2 Kontrafagotte
Blechbläser: 10 Hörner, 6 Trompeten, 1 Baßtrompete, 1 Altposaune, 4 Tenorposaunen, 1 Baßposaune, 1 Kontrabaßposaune, 1 Kontrabaßtuba
Schlagzeug: 6 Pauken, Große Rührtrommel, Becken, Triangel, Glockenspiel, kleine Trommel, große Trommel, Xylophon, Ratschen, Tamtam, einige große eiserne Ketten
4 Harfen, Celesta
ca. 80 Streicher: Violinen I - zehnfach geteilt, Violinen II - zehnfach geteilt, Bratschen - achtfach geteilt, Celli - achtfach geteilt (sämtlich in mehrfacher Besetzung), Kontrabässe
Aufführungsdauer: ca. 1:50:00
Aufbau
I. Teil
Orchestervorspiel (Mäßig bewegt)
1. Waldemar: Nun dämpft die Dämm'rung jeden Ton von Meer und Land
2. Tove: Oh, wenn des Mondes Strahlen leise gleiten, und Friede sich und Ruh durchs All verbreiten
3. Waldemar: Roß! Mein Roß! Was schleichst du so träg! Nein, ich seh's es flieht der Weg hurtig unter der Hufe Tritten.
4. Tove: Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet, preßt an die Küste sein pochendes Herz
5. Waldemar: So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht, wie die Welt nun tanzt vor mir.
6. Tove: Nun sag ich dir zum ersten Mal: "König Volmer, ich liebe dich!"
7. Waldemar: Es ist Mitternachtszeit, und unsel'ge Geschlechter stehn auf aus vergess'nen, eingesunknen Gräbern
8. Tove: Du sendest mir einen Liebesblick und senkst das Auge, doch der Blick preßt deine Hand in meine
9. Waldemar: Du wunderliche Tove! So reich durch dich nun bin ich, daß nicht einmal mehr ein Wunsch mir eigen.
Orchesterzwischenspiel (Ein wenig bewegter)
10. Stimme der Waldtaube: Tauben von Gurre! Sorge quält mich, vom Weg über die Insel her! Kommet! Lauschet!
II. Teil
11. Waldemar: Herrgott, weißt du, was du tatest, als klein Tove mir verstarb?
III. Teil: Die wilde Jagd
12. Waldemar: Erwacht, König Waldemars Mannen wert! Schnallt an die Lende das rostige Schwert
13. Bauer: Deckel des Sarges klappert und klappt, schwer kommt's her durch die Nacht getrabt.
14. Waldemars Mannen: Gegrüßt, o König, an Gurresees Strand! Nun jagen wir über das Inselland. Holla!
15. Waldemar: Mit Toves Stimme flüstert der Wald, mit Toves Augen schaut der See
16. Klaus-Narr: "Ein seltsamer Vogel ist so 'n Aal, im Wasser lebt er meist, kommt doch bei Mondschein dann und wann ..."
17. Waldemar: Du strenger Richter droben, du lachst meiner Schmerzen, doch dereinst beim Auferstehn des Gebeins
18. Waldemars Mannen: Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht, hat den Tag schon im Schnabel
Des Sommerwindes wilde Jagd
Orchestervorspiel (Langsam)
19. Melodram - Sprecher: Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind
20. Gemischter Chor: Seht die Sonne, farbenfroh am Himmelssaum, östlich grüßt ihr Morgentraum!