Das Arditti Streichquartett – Neuerfindung des Streichquartetts
Jeder, der sich auch nur ansatzweise für zeitgenössische Musik interessiert, denkt bei Streichquartett sofort an das Arditti Quartett. Dessen kompromisslose Spezialisierung auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts dürfte unter Streichquartettensembles einmalig sein. In den 36 Jahren seines Bestehens hat das Quartett mehrere hundert Werke uraufgeführt, die Liste der Komponisten, die für das Ensemble geschrieben haben, liest sich wie das Who-Is-Who der Neuen Musik und so manches Werk dürfte darunter sein, das ohne die Ardittis gar nicht entstanden wäre. Insofern hat das Quartett seinen Platz in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts auch schon lange sicher. Ein Umstand, dem 1999 durch die Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreises Rechnung getragen wurde.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Quartett Uraufführungen namhafter Komponisten wie Trophäen sammelt. Irgendwo habe ich gelesen, dass Irvine Arditti über lange Zeit Karlheinz Stockhausen bedrängt hat, ihm ein Quartett zu schreiben. Arditti soll ihm gesagt haben, dass sie für ihn sogar unter Wasser spielen würden. Wie wir mittlerweile wissen, war das dann nicht notwendig – Stockhausen hat sich was anderes einfallen lassen...
Die Seite "http://www.ownvoice.com/ardittiquartet/" verzeichnet das Repertoire des Ensembles, vermutlich also jedes Werk, das die Ardittis jemals gespielt haben (für Streichquartett und andere Besetzung wie Trio, Quintett, mit Orchester usw.). Die Liste umfasst nicht weniger als 1023 Titel, die von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen Werke des 20. und 21. Jahrhunderts sind, meist nach 1945 entstanden. Zu den wenigen Ausnahmen gehören z.B. die „Große Fuge“ von Beethoven und die Streichsextette von Brahms, letztere zusammen mit Mitgliedern des Alban-Berg-Quartetts im Konzert gespielt. Außerdem verzeichnet diese Liste die unglaubliche Anzahl von 557 Uraufführungen – das ist im Schnitt etwa alle 3 Wochen eine Uraufführung, und das über mittlerweile 36 Jahre. Die erste Uraufführung war das Streichquartett Nr. 1 von Jonathan Harvey im März 1979, die bisher letzten in der Liste verzeichneten fanden im Juli 2010 in Darmstadt statt, im Rahmen der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik. Aber wer weiß, wie viele seit der letzten Aktualisierung des Verzeichnisses am 2. August noch hinzugekommen sind...
Die Diskographie des Arditti-Quartetts ist gigantisch. Irgendwo zwischen 150 und 200 CDs dürften es mittlerweile sein. Beim französischen Label Disque Montaigne gab es eine eigene Arditti-Quartett-Edition, die aber nach 42 veröffentlichten CDs im Jahre 1994 anscheinend eingeschlafen ist. Die Platten sind über zahllose Labels verstreut, von Wergo zu Kairos, über Winter&Winter, Aeon, ECM und viele andere.
Im Konzert konnte ich die Ardittis recht oft erleben – an die 20 Mal würde ich schätzen. Vor allem während meiner Bonner Zeit zwischen 1983 und 1996. Denn in Bonn, vor allem aber in Köln und bei den Wittener Tagen für Neue Musik waren (und sind) sie regelmäßige Gäste. Hierher nach München verirren sie sich eher selten, weshalb wir im vergangenen Jahr sehr froh waren, das Arditti-Quartett bei den Festspielen in Salzburg und Luzern nach sehr langer Zeit mal wieder live erleben zu können. Mich hat immer die Ernsthaftigkeit und absolute Konzentration der vier auf die Musik beeindruckt – ich hatte meist den Eindruck, dass sich ihr Versinken im Werk auch dem Publikum stark und unmittelbar mitteilt. Dass es ihnen dadurch gelingt, auch sehr komplexe Musik zu vermitteln und dass auch die Zuhörer gebannt am Stuhlrand sitzen, die ansonsten weniger Erfahrung mit Neuer Musik haben.
Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten das Ensemble auch unter widrigen Umständen spielen hören und war auch dann beeindruckt, mit welchem Engagement sie bei der Sache waren. Das „schlimmste“ Konzerterlebnis hebe ich mir für einen eigenen Beitrag auf, handelt es sich doch um die größte organisatorische Fehlleistung, die ich in meiner „Karriere“ als Konzertgänger bisher erleben musste – das hat auch die Ardittis sichtbar getroffen. Ein anderes Erlebnis möchte ich aber schon hier zum besten geben: 1993 war das, im Oktober in Bonn. Dort war im (übrigens sehr schönen) Kammermusiksaal des Beethovenhauses eine Reihe von 3 Konzerten mit dem Arditti-Quartett angekündigt: Sämtliche Streichquartette von Bartok, dazu Kurtag, Ligeti und Eötvös. Ein Traumprogramm eigentlich, das mir jedenfalls das Wasser im Munde zusammen laufen lies. Und niemand kam... Im Ernst: Bei keinem der Konzerte waren mehr als 10 Zuhörer im Saal, bei einem waren es wohl nur 5 oder so. Unfassbar. Melanie und mir bleiben diese Privatkonzerte in großer Erinnerung. Die Ardittis haben sich jedenfalls keine Enttäuschung anmerken lassen und haben sich wie üblich die Seele aus dem Leib gespielt. Es gab damals übrigen Gerüchte über eine Gesamtaufnahme der Bartok-Quartette, die aber leider nie erschienen ist.