Joseph Marx – der Streit um den Streitbaren
Das muß man sich einmal vorstellen: Der Komponist ist bis zu seinem Todestag die Nummer eins seines Landes. Und danach wird er zur Nullnummer. Schlimmer noch: Ein Nazi sei er gewesen, heißt es plötzlich, ganz nahe dran an der NSDAP. Seine Verteidiger gehen auf die Barrikaden: Stimmt nicht, ganz im Gegenteil, Marx sei sogar in denkbar größter Distanz zum Nationalsozialismus gewesen. Man wolle sich nur an ihm rächen, weil er, der einflussreichste Komponist seines Landes, der konservativen Musik das Wort geredet habe. Aber es gibt eindeutige Hinweise. Allerdings in beide Richtungen. Was ist wirklich dran am Fall Joseph Marx?
Biographisches
Joseph Marx wird am 11. Mai 1882 in Graz geboren. Ersten Musikunterricht erhält er als Kind von seiner Mutter. An der Klavierschule von Johann Buwas wird Marx zum Pianisten ausgebildet. Autodidaktisch bringt er sich Geige- und Cellospiel bei. Im Gymnasium beginnt er zu komponieren. Allerdings will sein Vater von einer Künstlerlaufbahn seines Sohnes nichts wissen, er zwingt ihn, alles, was Musik ist, aufzugeben und Rechtswissenschaft zu studieren. Heimlich wechselt Marx zu Philosophie und Kunstgeschichte. Als es sein Vater entdeckt, kommt es zum Konflikt. Marx bricht mit seiner Familie und nimmt im Alter von 26 Jahren seine Kompositionstätigkeit wieder auf. Innerhalb von vier Jahren schreibt er 120 Lieder.
1908 promoviert er in Philosophie. Danach beginnt er eine jahrelange musikwissenschaftliche Forschungsarbeit zur Klangpsychologie und zum Wesen der Tonalität. Er führt rund 8000 Einzelversuche durch. Das Ergebnis untermauert seine Überzeugung, dass es nur innerhalb der Tonalität Musik geben kann, die sich dem Zuhörer mitteilt.
1914 wird er zum Professor für Musiktheorie an der Wiener Musikakademie (heute Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) ernannt.
1922 wird er zum Direktor der Akademie ernannt. Auf seine Initiative wird die Akademie auf eine fundiert wissenschaftliche Basis mit theoretischen wie praktischen Fächern gestellt und zur Hochschule für Musik umgewandelt. aus.
1932 wird Marx von Atatürk beauftragt, am Aufbau des Konservatoriums in Ankara mitzuwirken und das türkischen Musikschulsystem zu organisieren. Er arbeitet bis 1933 in dieser Funktion. Seine Nachfolger waren u.a. Hindemith und Bartók.
1934 übernimmt Marx den Posten des Staatsrates für Kulturfragen in der Türkei, macht sich in der Ausübung seines Amtes allerdings viele Feinde. Die zunehmenden Schwierigkeiten bewirken, dass Marx nach Österreich zurückkehrte.
Nach 1945 nimmt Marx seine Tätigkeit als Musikkritiker wieder auf und arbeitet für die „Wiener Zeitung“, die während des NS-Regimes in Österreich nicht erscheinen durfte.
1947 übernimmt Marx, zusätzlich zu seinen Verpflichtungen als Professor für Musiktheorie an der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, eine Professor für Musikwissenschaften an der Universität in Graz, die er bis 1952 innehat.
Von 1947 bis zu seinem Tod 1964 ist Marx Präsident des Österreichischen Komponistenbunds, der Standesvertretung österreichischer Komponisten.
1952 emeritiert Marx in Graz und Wien und arbeitet bis zu seinem Tod als freischaffender Komponist.
Am 3. September 1964 stirbt Joseph Marx in Graz.
Die Musik
Joseph Marx’ größtes Pech ist, daß er vor allem mit seinen Liedern bekannt (geblieben) ist. Diese Lieder sind nicht schlecht, aber sie entspringen einer Massenproduktion: Die meisten von ihnen schrieb Marx innerhalb von vier Jahren, wodurch es zu schablonenhaften Selbstkopien kommt. Das zentrale Werk im Schaffen von Marx ist jedoch seine „Herbstsymphonie“ (1921), und es hat den Anschein, daß Marx gesamtes Schaffen auf dieses eine Werk hinzielt und danach langsam von ihm wegführt und verebbt.
Die „Herbstsymphonie“ ist ein orgiastischer Koloß von ungewöhnlichen Ausmaßen: 4-faches Holz, 6 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Baßtuba, Klavier, Celesta, zwei Harfen, Pauken, 9 Schlagzeuger und ein großes Streichorchester werden genützt, um 80 Minuten lang einen rauschhaften Klangexzess zu zelebrieren, der zwischen Skrjabin und Richard Strauss pendelt und in der einschmeichelnden Melodik mitunter auch an Korngold erinnert. In der „Naturtrilogie“, bestehend aus „Eine symphonische Nachtmusik“ (1922), Idylle - Concertino über die pastorale Quart (1925) und „Eine Frühlingsmusik (1925) arbeitet Marx dieses rauschhafte Naturerleben ein weiteres Mal auf, diesmal jedoch in überschaubareren Formen und etwas weniger Hingabe an den klanglichen Exzess. Auch im Klavierkonzert „Castelli Romani“ (1930) lebt diese Klangwelt in maßvollerer Sprache auf. Die meisten anderen Orchesterwerke betonen schon im Titel, daß sie mehr oder weniger an die Tradition anknüpfen: „Alt-Wiener Serenaden“ (1941), „Sinfonia in modo classico“ für Streichorchester (1944), „Partita in modo antico“ für Streichorchester (1945). Selbst die „Feste im Herbst“ (1946) sind mehr nostalgisches Erinnern an die rauschhafte Musik früherer Jahre als neuerlicher Klangexzess. Dieses Werk bleibt denn auch Marx letzte große kompositorische Äußerung.
Marx bleibt auch an seinen kühnsten Stellen immer der Tonalität verhaftet. Ein feines Gefühl für Funktionsbeziehungen ermöglicht es ihm, ähnlich Reger, in die entlegensten Bereiche der Harmonik vorzustoßen, ohne die Grenze zur Atonalität zu überschreiten. Die Überzeugung, daß nur Musik auf dem Boden der Tonalität es verdient, auch Musik genannt zu werden, verleitet Marx zeitlebens zu scharfen und höhnischen Angriffen auf die Musik Schönbergs und der von ihm begründeten Tradition. Schlimmer noch: Als eine der wichtigsten Gestalten im österreichischen Musikleben nützt Marx seinen Einfluss, um die neueren Strömungen zu unterdrücken. So findet in Österreich nach 1945 keine wirkliche Beschäftigung mit der im Nationalsozialismus unterdrückten Musik statt, weil Marx alle Hebel in Bewegung setzt, Österreich als Bollwerk der Tonalität zu etablieren. Das hat nichts mit einem eventuellen Antisemitismus zu tun, es entspringt ausschließlich einer musikalischen Überzeugung.
„Der Fall Marx“
Dennoch wird der streitbare Traditionalist nach seinem Tod zu einem „Fall Marx“. Er hatte sich unzählige Feinde geschaffen, die an ihn, der einmal sogar umworben wurde, für das Amt des Österreichischen Bundespräsidenten zu kandidieren, zu Lebzeiten allerdings nicht so recht herankamen. Kaum war Marx tot, setzte allerdings die Kritik an ihm ein. Im Prinzip läßt sie sich reduzieren auf den Vorwurf, Marx sei Nationalsozialist gewesen oder sei diesen zumindest nahegestanden.
Tatsächlich war die Rolle von Marx im Dritten reich höchst seltsam: 1938 stellte das NS-Propagandaministerium fest, daß die Musik Marx’ den gewünschten musikästhetischen Vorstellungen entsprach. Doch die Nationalsozialisten kamen mit dem „steirischen Dickschädel“ (die Eigenbrötelei wird den Steirern bisweilen fast sprichwörtlich nachgesagt) nicht zurecht. Marx verlor seine Ämter als Musikkritiker, als Präsident des Österreichischen Komponistenbundes und als Vizepräsident der AKM (Rechteverwertungsgesellschaft). Andererseits wurde der Komponist mit seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung gerne als Festredner gebucht. Irgendwann wurde ihm das zu blöd und er sagte ab mit dem Hinweis, er habe kein Geld, sich Fahrkarten zu kaufen, um zu den Orten seiner Auftritte zu gelangen. Überhaupt hielt er NS-Funktionäre zum Narren oder sagte ihnen unverblümt seine Meinung – man ließ ihn als eine Art Hofnarr gewähren, denn prinzipiell hatte man nichts gegen ihn, und als eine Integrationsfigur, die aus Überzeugung jene musikalischen Ideale vertrat, die auch die der Nationalsozialisten waren, konnte man Marx gut brauchen.
Dazu kam, daß Marx gierig nach Ehrungen und Gunstbeweisen war. Das war bereits in der Türkei aufgefallen. Marx war es dabei völlig gleichgültig, von wem die Ehrung kam – also nahm er auch die der Nationalsozialisten dankend an.
War Marx also doch ein Nationalsozialist? – Tatsache ist, daß er seine Korrespondenz mit seinen jüdischen Freunden wie Erich Zeisl und Erich Wolfgang Korngold nicht einstellte und auch seine Freundschaft zu dem als Sozialisten verfolgten Ernst Fischer aufrecht hielt. Ein Hausmädchen Marx’ berichtete außerdem, dass im Haushalt von Marx antisemitische Äußerungen ebenso verpönt waren wie der Hitlergruß.
Marx galt in Künstlerkreisen sogar zeitweise als Anlaufstelle: So half er u.a. Hugo Fleischmann, Ernst Kanitz, Frederick Dorian, sowie seinen jüdischen Schülern aus den Kompositionsklassen. Die Dankesbriefe sind erhalten und können eingesehen werden.
Dennoch bekam die Anti-Marx-Fraktion Wasser auf ihre Mühlen, als Fred K. Prieberg nachwies, daß Marx Lieder für die Hitler-Jugend komponiert hatte. Doch genau in diesem Fall war Prieberg einem Irrtum aufgesessen: Es gab einen zweiten Komponisten namens Marx. Er hieß mit Vornamen allerdings Karl. Der gebürtige Münchener arbeitete jedoch ausgerechnet in Graz, nämlich als Lehrer am Johann-Joseph-Fux-Konservatorium – und versorgte die NSDAP mit allem, was sie brauchte, auch mit HJ-Liedern.
Fazit
Zweifellos war Marx ein musikalischer Traditionalist, der nach 1945 seine Stellung benützte, um den Schönberg-Kreis und seine Nachfolger wirkungsvoll zu unterdrücken. Dies geschah jedoch nicht aus politischen Motiven oder rassistischen Gründen, es entsprang einer ästhetischen Überzeugung. Marx war kein angenehmer Mensch und sicherlich auch ein Intrigant. Den Rufmord an seiner Person, der nach Priebergs irrtümlicher Enthüllung einsetzte und von manchen wider besseres Wissen weitergeführt wurde, hat Marx jedoch nicht verdient. Zumal die breitenwirksame Rehabilitation bis heute ausgeblieben ist.