Tournemire, Charles - zu gut für diese Welt?
Es ist ganz offenkundig, dass in diesem Forum nicht wenige den Namen Charles Tournemire kennen und sein kolossales Werk mit Respekt und Bewunderung betrachten. Trotzdem sind wir immer noch eine zu kleine Minderheit und es ist überfällig, dass dieser Komponist, der (u. a.) zu den bedeutendsten Sinfonikern in jener aufregenden und ungemein produktiven Phase zwischen Spätromantik und früher Moderne zu rechnen ist, endlich auch im allgemeinen Musikleben gebührend gewürdigt wird.
Biographische Notiz:
- geboren in Bordeaux am 22.1.1870
- musikalische Studien in Paris u. a. bei C. Franck, C.M. Widor und V. d'Indy
-seit 1898 bis zum Lebensende Organistenstelle an Ste-Clotilde in Paris (als Nachfolger von Franck und Pierné - zu seinen Schülern gehörte O. Messiaen)
-seit 1919 Professor für Kammermusik am Pariser Conservatoire
- gestorben am 3.11.1939 in Arcachon
Notiz zum musikalischen Oeuvre:
Tournemires gesamtes künstlerisches Schaffen ist tief verwurzelt in der Spiritualität und teilweise auch Mystik des französischen Katholizismus. Die schiere Menge seiner Werke ist unfassbar (und ich würde mich nie erdreisten, mich als umfassenden Tournemire- Kenner zu bezeichnen). Er hat praktisch alle musikalische Gattungen mit Werken bedacht - von der Klavier-, Orgel-, und Kammermusik bis hin zur großen Sinfonik, zu großformatigen Chorwerken und zu Opern. Es soll immer noch etliche Werke geben, die noch nie aufgeführt wurden (darunter auch eine geradezu "sagenumwobene" Oratorientrilogie (!) mit dem Titel "Faust - Don Quichotte - Saint Francois d'Assise").
Tournemires Musiksprache hat ihre Wurzeln in der französischen (Spät-)Romantik à la Franck und Fauré, integriert aber zunehmen die modernen musikalischen Errungenschaften Debussys und gelangt mehr und mehr zu einer erweiterten Tonalität mit sehr kühn und modern klingenden modalen und polytonalen Eingriffen. Der Orchestersatz ist brillant und vielfarbig, aber immer klar und transparent. Nichts vermischt sich und verschwimmt, nichts ist nur koloristisch, nichts bleibt im Vagen oder Ungefähren. Das stilistische Ergebnis hat meines Erachtens trotz einiger Annäherungen an Debussys Tonsprache nichts mit "Impressionismus" zu tun. Der Klangeindruck ist überwiegend robust, rhythmisch scharf akzentuiert, vorwärtsdrängend mit einer Neigung zu Ostinati, aber oft auch wie tief in Betrachtungen, Gedanken (und sicher auch in Gebeten) versunken. Tournemires Musik überwältigt mich immer wieder durch ihre Ernsthaftigkeit und Tiefe, durch enorme lyrische Schönheiten, die absolut frei von jeglicher Sentimentalität sind, und durch Größe ohne Pathos.
Innerhalb des Schaffens von Tournemire lassen sich zwei große „Werkblöcke“ erkennen, von denen jeder einzelne schon für ein bedeutendes künstlerisches Lebenswerk ausreichen würde.
Im Zentrum seiner mittleren Schaffensphase zwischen 1900 und 1924 stehen 8 großformatige, um nicht zu sagen monumentale Sinfonien, die für mich zu den bedeutendsten Gattungsbeiträgen ihrer Zeit gehören. Auf diese Werke möchte ich in einem zweiten Posting noch etwas näher eingehen, damit das jetzt an dieser Stelle nicht zu sehr ausufert.
Der zweite „Block“ umfasst die Jahre 1927 bis 1932 und beinhaltet eines der gigantischsten Projekte der Orgelliteratur: die Sammlung „L’Orgue mystique“. Hierbei handelt es sich um 3 Zyklen von 5-sätzigen „Orgelmessen“, d.h. Stücke für Orgel solo, die als Vor-, Zwischen- und Nachspiele zur musikalischen Begleitung und Ausschmückung der jeweiligen Liturgie der Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres konzipiert sind. Das musikalische Material wird im wesentlichen aus der Gregorianik gewonnen. Insgesamt umfasst das Projekt mehr als 250 Stücke mit einer Gesamtspieldauer von ca. 15 Stunden. Die Würdigung dieses Werkes mögen berufenere Forumsmitglieder übernehmen, denn ich stehe erst ganz am Anfang damit, mir diese schon fast exzentrische Fülle von Musik zu erschließen.
Bezüglich Tournemire wird gerne sein Schüler Olivier Messian mit dem Ausspruch zitiert: „un jour, on rendra justice à Tournemire“.
Auch ich kann diesen Tag kaum erwarten.
Cordialement
Il bravo