Tournemire, Charles - zu gut für diese Welt?

  • Tournemire, Charles - zu gut für diese Welt?

    Es ist ganz offenkundig, dass in diesem Forum nicht wenige den Namen Charles Tournemire kennen und sein kolossales Werk mit Respekt und Bewunderung betrachten. Trotzdem sind wir immer noch eine zu kleine Minderheit und es ist überfällig, dass dieser Komponist, der (u. a.) zu den bedeutendsten Sinfonikern in jener aufregenden und ungemein produktiven Phase zwischen Spätromantik und früher Moderne zu rechnen ist, endlich auch im allgemeinen Musikleben gebührend gewürdigt wird.

    Biographische Notiz:

    - geboren in Bordeaux am 22.1.1870
    - musikalische Studien in Paris u. a. bei C. Franck, C.M. Widor und V. d'Indy
    -seit 1898 bis zum Lebensende Organistenstelle an Ste-Clotilde in Paris (als Nachfolger von Franck und Pierné - zu seinen Schülern gehörte O. Messiaen)
    -seit 1919 Professor für Kammermusik am Pariser Conservatoire
    - gestorben am 3.11.1939 in Arcachon


    Notiz zum musikalischen Oeuvre:

    Tournemires gesamtes künstlerisches Schaffen ist tief verwurzelt in der Spiritualität und teilweise auch Mystik des französischen Katholizismus. Die schiere Menge seiner Werke ist unfassbar (und ich würde mich nie erdreisten, mich als umfassenden Tournemire- Kenner zu bezeichnen). Er hat praktisch alle musikalische Gattungen mit Werken bedacht - von der Klavier-, Orgel-, und Kammermusik bis hin zur großen Sinfonik, zu großformatigen Chorwerken und zu Opern. Es soll immer noch etliche Werke geben, die noch nie aufgeführt wurden (darunter auch eine geradezu "sagenumwobene" Oratorientrilogie (!) mit dem Titel "Faust - Don Quichotte - Saint Francois d'Assise").

    Tournemires Musiksprache hat ihre Wurzeln in der französischen (Spät-)Romantik à la Franck und Fauré, integriert aber zunehmen die modernen musikalischen Errungenschaften Debussys und gelangt mehr und mehr zu einer erweiterten Tonalität mit sehr kühn und modern klingenden modalen und polytonalen Eingriffen. Der Orchestersatz ist brillant und vielfarbig, aber immer klar und transparent. Nichts vermischt sich und verschwimmt, nichts ist nur koloristisch, nichts bleibt im Vagen oder Ungefähren. Das stilistische Ergebnis hat meines Erachtens trotz einiger Annäherungen an Debussys Tonsprache nichts mit "Impressionismus" zu tun. Der Klangeindruck ist überwiegend robust, rhythmisch scharf akzentuiert, vorwärtsdrängend mit einer Neigung zu Ostinati, aber oft auch wie tief in Betrachtungen, Gedanken (und sicher auch in Gebeten) versunken. Tournemires Musik überwältigt mich immer wieder durch ihre Ernsthaftigkeit und Tiefe, durch enorme lyrische Schönheiten, die absolut frei von jeglicher Sentimentalität sind, und durch Größe ohne Pathos.

    Innerhalb des Schaffens von Tournemire lassen sich zwei große „Werkblöcke“ erkennen, von denen jeder einzelne schon für ein bedeutendes künstlerisches Lebenswerk ausreichen würde.

    Im Zentrum seiner mittleren Schaffensphase zwischen 1900 und 1924 stehen 8 großformatige, um nicht zu sagen monumentale Sinfonien, die für mich zu den bedeutendsten Gattungsbeiträgen ihrer Zeit gehören. Auf diese Werke möchte ich in einem zweiten Posting noch etwas näher eingehen, damit das jetzt an dieser Stelle nicht zu sehr ausufert.

    Der zweite „Block“ umfasst die Jahre 1927 bis 1932 und beinhaltet eines der gigantischsten Projekte der Orgelliteratur: die Sammlung „L’Orgue mystique“. Hierbei handelt es sich um 3 Zyklen von 5-sätzigen „Orgelmessen“, d.h. Stücke für Orgel solo, die als Vor-, Zwischen- und Nachspiele zur musikalischen Begleitung und Ausschmückung der jeweiligen Liturgie der Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres konzipiert sind. Das musikalische Material wird im wesentlichen aus der Gregorianik gewonnen. Insgesamt umfasst das Projekt mehr als 250 Stücke mit einer Gesamtspieldauer von ca. 15 Stunden. Die Würdigung dieses Werkes mögen berufenere Forumsmitglieder übernehmen, denn ich stehe erst ganz am Anfang damit, mir diese schon fast exzentrische Fülle von Musik zu erschließen.

    Bezüglich Tournemire wird gerne sein Schüler Olivier Messian mit dem Ausspruch zitiert: „un jour, on rendra justice à Tournemire“.

    Auch ich kann diesen Tag kaum erwarten.

    Cordialement
    Il bravo

    Oper in Hamburg: seit 1678 in 3D

  • Wie angekündigt möchte ich an dieser Stelle zu einem kurzen ganz persönlichen Blick auf die 8 Sinfonien von Charles Tournemire einladen. Fast alle haben Titel und programmatische Konzepte. Alors:

    Nr. 1 A-Dur op. 18 „Romantique“, komponiert 1900 – vier bündige Sätze, Gesamtdauer ca. 30 min.
    Ein prachtvoller Erstling. Vor allem in formaler Hinsicht der d-moll-Sinfonie von C. Franck und dem dort waltenden zyklischen Prinzip verpflichtet. Darauf dürfte sich wohl auch der Titel in erster Linie beziehen. Denn klanglich-stilistisch geht Tournemire deutlich über seinen Lehrer hinaus. Das thematische Material ist einfach und bündig, verzichtet auf melodische Allgemeinplätze und wird überaus kunstvoll und abwechslungsreich gestaltet und verarbeitet. Hier weht buchstäblich ein frischer Wind. Im Scherzo erscheinen die Harfen an exponierter Stelle, allerdings eher als Rhythmus-Instrumente eingesetzt, was später fast so etwas wie ein Markenzeichen Tournemires wird.

    Nr. 2 B-Dur op. 36 "Ouessant", komponiert1908/1909, 3 ausgedehnte Sätze, Gesamtdauer ca. 50 min.
    Benannt nach der sturmgepeitschten Insel vor der Normandie, wo T. ein Haus hatte. Vom musikalischen Material her nicht unähnlich der Nr. 1, nur gewissermaßen wie befreit von formalen Fesseln; alles noch mehr ins Weite, Freie und Grandiose gesteigert. Grundlage sind eher kurze musikalische Motive, die hier bisweilen besonders kunstvoll zu einem dichten polyphonen Netz verwoben werden, an anderen Stellen in mächtiger durchaus auch "blechgepanzerter" Sonorität grandiose Steigerungen und Höhepunkte bilden. Einflüsse von R. Strauss und Debussy werden mühelos in den eigenen Stil integriert. Alles bleibt durchsichtig, nichts verschwimmt, nichts schwitzt. Nach einem kontrastreichen teils verhaltenen, teils dramatisch gezackten, robusten ersten Satz ("Prélude") verdichtet sich das musikalische Material im langsame Mittelsatz unvermutet zu einer weit geschwungenen modal getönten, wunderschönen Melodie, die nach einem kontrastreichen Mittelteil prächtig gesteigert wiederkehrt. Die Sinfonie schließt mit einem triumphalen Finale, in dem der Blechbläserchor immer wieder einen machtvollen Choral anstimmt. Für mich bringt dieses Werk das (durchaus auch spirituelle) Überwältigtsein des Menschen angesichts einer grandiosen Naturerfahrung zum Ausdruck. Meisterhaft und mitreißend.

    Nr. 3 D-Dur op. 43 „Moscou 1913“, komponiert 1911-1913, wieder ein zyklischer Viersätzer wieder etwas konventionelleren Zuschnitts, Gesamtdauer ca. 40 min.
    Wer aufgrund des Titels hier eine politische Positionierung à la Schostakowitsch erwartet, sieht sich erheblich getäuscht. In dieser Sinfonie wird Moskau (nach einem Konzertaufenthalt Tournemires) vielmehr als ein altes und traditionelles Zentrum der Christenheit gefeiert. So sorgt im 3. Und 4. Satz das geschwinde „Bimmelbammel“ russischer Kirchenglocken, wie man es aus dem „Boris Godunow“ kennt, für eine prachtvolle Klangkulisse und vereinzelt tritt auch die Orgel (allerdings eher diskret) in Erscheinung. Das thematische Material weitet sich zu sehr prägnanten und einprägsamen Melodien, gleichzeitig erhalten auch rhythmisch-melodische Ostinati (, die generell in der Klangsprache Tournemires große Bedeutung haben) ein besonderes Gewicht. Insgesamt gehört diese Sinfonie wohl zu den am leichtesten Zugänglichen des gesamten Kanons. Daher ist die Dritte meine unbedingte Empfehlung für Tournemire-Einsteiger und war auch meine „Einstiegsdroge“.

    Nr. 4 op. 44 „Pages symphoniques“, komponiert 1912 – ein Satz mit 5 ineinander übergehenden Teilen; Gesamtdauer ca. 23 min
    Nach dem „russischen Ausflug“ kommt hier die Rückkehr in die Stimmungen und die Atmosphäre der Bretagne und der keltischen Kultur. In formaler Hinsicht die freieste der Sinfonien Tournemires; die Klangsprache ist deutlich moderner als in den vorangegangenen Sinfonien, eine Grundtonart ist kaum noch erkennbar. Die Instrumentierung ist enorm subtil und flexibel. Das ganze ein funkelndes, aber hohe Konzentration aufbietendes und einforderndes Juwel.

    Nr. 5 f-moll op. 47, komponiert 1913/1914 – kein Gesamttitel, sondern Überschriften für die 3 ausgedehnten Sätze.: „Choral varié“, „Pastorale“ und „Vers la lumière“; Gesamtsauer ca. 30 min.
    Künstlerischer Reflex eines Aufenthaltes in den Alpen. Musikalisch wird exakt das, was die Titel der Sätze ankündigen, in bewundernswerter Prägnanz und Perfektion umgesetzt. Eine sehr französische Alpensinfonie ohne Banalität und ohne Tricks, dafür aber mit der gleichermaßen realen wie ideellen Dramaturgie eines allmählichen Emporsteigens ins Licht. Ebenso schön wie meisterhaft.

    Nr. 6 op. 48 für Tenor, Chor, Orgel und Orchester, komponiert 1917/1918 – 2 Hauptteile, jeweils mehrfach untergliedert; Text vom Komponisten; Gesamtdauer ca. 55 min
    Eine Kriegssinfonie und zugleich eine Sinfonia sacra, in der sich die Erfahrungen des Weltkrieges widerspiegeln. Der Verzweiflung des ersten Hauptteiles wird im zweiten Teil die Zuversicht und die durch Christus vermittelte Erlösungsgewissheit entgegengesetzt. Ein atemberaubendes Bekenntniswerk mit einem an Mahlers Achte gemahnenden Aufwand, der aber ebenso differenziert eingesetzt wird. Lediglich in den Schlusstakten fällt der gesamte Apparat in eine Art religiöses Delirium, das man mit Worten nicht beschreiben kann und das die vollkommen abgehobene, ekstatische Dimension tiefer Frömmigkeit erlebbar macht.

    Nr. 7 op. 49 „Les Danses de la Vie“, komponiert 1918-1922 – 5 Sätze; Gesamtdauer ca. 1 Stunde und 15 Minuten
    Wer nach der Nr. 6 gedacht hat, eine Steigerung an Ausdruckskraft und Ausdruckswillen sei kaum noch möglich, sieht sich getäuscht. In der Nr. 7 stellt Tournemire seine persönliche Sicht auf die verschiedenen Entwicklungsschritte der menschlichen Zivilisation dar, die in seiner Lesart so etwas wie eine Evolution des Glaubens darstellt, und gewährt im Schlusssatz einen Einblick in seine persönliche Utopie der kommenden Zeiten. Es erscheint mir ein Ding der Unmöglichkeit, allen Facetten dieses Werkes auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Vielleicht nur zwei Beobachtungen: Die Klangsprache ist kühner und avancierter als alles Vorangehende, die Grenzen der Tonalität werden deutlich überschritten. Und zum anderen ist der Begriff „Danses“ im Titel durchaus wörtlich zu verstehen. Jeder der ausladenden Sätze hat in seiner rhythmischen Prägnanz etwas bezwingend Tänzerisches (allerdings mehr im Sinne von rituellem Tanz), und auf diese Weise entsteht eine imaginäre Dramaturgie, eine Art getanztes Welttheater. Möglich, dass eine Art christliches Gegenstück zum heidnischen „Sacre“ intendiert war. Mir ist in der gesamten sinfonischen Literatur kaum etwas vergleichbares begegnet, und ich habe das Gefühl, dass ich noch Jahre benötigen werde, um mir diesen kryptischen, aber hochgradig faszinierenden Monolithen vollständig zu erschließen.

    Nr. 8 op. 51 „Le triomphe de la mort“, komponiert 1921-1924 – 2 Sätze, die nach dem Schema langsam-schnell und schnell-langsam untergliedert sind; Gesamtdauer ca. 40 min.
    Nach den beiden vorausgegangenen, monumentalen „großen Ansprachen an die Menschheit“ folgt hier ein sehr persönliches, fast intimes Werk. Es handelt sich um einen Ausdruck der Trauer Tournemires über den Tod seiner ersten Frau. Der Tod wird hier einerseits als bedrohlich und deprimierend andererseits aber auch im Sinne des „süßen Tods“ mit Aussicht auf Erlösung nach irdischem Leiden charakterisiert. Die Tonsprache hat in dieser Sinfonie weiter an Abstraktheit und Herbheit zugenommen. Trotzdem ist das Prinzip „per aspera da astra“ nachvollziehbar zu erkennen. Der zweite Teil bringt uns so etwas wie ein Engelskonzert (wobei die Engel Saxophon spielen) und mündet in eine Art keusche, kristalline Apotheose. Ein ungewöhnlicher, großartiger, würdiger Schlusspunkt eines bedeutenden Werkkanons.


    Herzlichst
    il bravo

    Oper in Hamburg: seit 1678 in 3D

  • Tournemires Musiksprache hat ihre Wurzeln in der französischen (Spät-)Romantik à la Franck und Fauré, integriert aber zunehmen die modernen musikalischen Errungenschaften Debussys und gelangt mehr und mehr zu einer erweiterten Tonalität mit sehr kühn und modern klingenden modalen und polytonalen Eingriffen. Der Orchestersatz ist brillant und vielfarbig, aber immer klar und transparent. Nichts vermischt sich und verschwimmt, nichts ist nur koloristisch, nichts bleibt im Vagen oder Ungefähren. Das stilistische Ergebnis hat meines Erachtens trotz einiger Annäherungen an Debussys Tonsprache nichts mit "Impressionismus" zu tun. Der Klangeindruck ist überwiegend robust, rhythmisch scharf akzentuiert, vorwärtsdrängend mit einer Neigung zu Ostinati, aber oft auch wie tief in Betrachtungen, Gedanken (und sicher auch in Gebeten) versunken. Tournemires Musik überwältigt mich immer wieder durch ihre Ernsthaftigkeit und Tiefe, durch enorme lyrische Schönheiten, die absolut frei von jeglicher Sentimentalität sind, und durch Größe ohne Pathos.

    Vielen Dank, lieber ilbravo, für Deine großartige Einführung in das Werk eines Komponisten, das mir noch völlig unbekannt ist! Gerade die von mir zitierte Charakterisierung Tournemires weckt meine Neugierde: Annäherung an Debussy, aber dann doch ein Weg an diesem vorbei und evt. weiter - das klingt spannend! So wie Du es beschreibst: Könnte Tournemire ein wenig in die Richtung Albert Roussel gehen?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Könnte Tournemire ein wenig in die Richtung Albert Roussel gehen?

    das ist eine knifflige Frage, die ich gar nicht ohne weiteres mit ja oder nein beantworten kann. Das ist natürlich Musik aus derselben Zeit; aber mir will scheinen, dass die Unterschiede doch die Gemeinsamkeiten deutlich überwiegen, ohne dass ich das jetzt überzeugend begründen könnte. Ich glaube, dass beide große Zeitgenossen sind, die in ihrer Kunst aber doch sehr unterschiedliche ästhetische Konzepte verfolgen.


    Herzlichst
    il bravo

    Oper in Hamburg: seit 1678 in 3D

  • Auch von mir herzlichen Dank für die ausgezeichnete Einführung in das Werk dieses mehr sagenumwobenen als bekannten Komponisten!
    Auf dringende Empfehlung von Edwin habe ich mir vor einiger Zeit die Sinfonien 3+7 mit Pierre Bartholomée und dem Orchestre Philharmonique de Liège besorgt und war sofort "hin und weg". Und das gerade mit der oben als "krypisch" bezeichneten Nr. 7 - dies als Beleg dafür, daß die Wahl der Einstiegsdroge vermutlich zweitrangig ist.

    Weiter bin ich dann leider nicht gekommen, denn die Aufnahmen mit Bartholomée sind seit Jahren kaum anders als zu Fantasiepreisen erhältlich, und noch hege ich die Hoffnung, daß sich das Label Naive/Auvidis dazu durchringen kann, den Sinfoniezyklus als Box herauszubringen (wobei mir nicht ganz klar ist, ob die Aufnahmen überhaupt komplett sind)*.

    Komplett und leicht erhältlich, wenn auch leider nicht als Set, sind die Aufnahmen des Labels Marco Polo mit Antonio de Almeida am Dirigentenpult. An diese habe ich mich bisher nicht herangewagt, denn irgendwie traue ich ihnen nicht zu, gegen das interpretatorische und klangliche Niveau der Bartholomée-Aufnahmen konkurrieren zu können. Vielleicht kann mich ja jemand eines besseren belehren.

    Tournemires Tonsprache klingt für mich etwa nach der Mitte zwischen Debussy/Ravel und Messiaen, mit einem Schuß Mahlerscher Orchesterbehandlung und Großformatigkeit. Laut Booklettext wurde er auch als "französischer Mahler" apostrophiert, was mir ziemlich unpassend erscheint. Nix gegen Mahler, aber soviel Minderwertigkeitskomplex haben die Franzosen nicht nötig. Das klangliche Raffinement ist typisch französisch, wenn mal gelegentlich alle Register gezogen werden, ist das immer das Ergebnis einer längeren Steigerung. Nicht selten erinnern diese Steigerungsphasen, die gerne mit ostinaten Rhythmen verbunden sind, an Ravel (Daphnis, La Valse, um nicht das B-Wort zu gebrauchen), nur eben "mystischer".
    Im Hinblick auf seine Spiritualität würde ich Tournemire quasi als Arvo Pärt des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen, ebensoviel Aufmerksamkeit und Präsenz hätte er mindestens verdient.


    *Übrigens habe ich vor kurzem beim Label Naive angefragt, ob es mal ein Sinfonie-Set mit Bartholomée geben wird. Keine Reaktion bisher. Schadet sicher nicht, wenn andere in die gleiche Kerbe schlagen... (contact ... naive.fr)

    Gruß,
    Khampan

  • Tja, wer nicht hören will....

    Ich sag nur: napster. Dort gibt es alle Marco-Polo-Scheiben zum Download. Genau so wie die beiden reizenden Emmanuel-Symphonien.

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Ein ganz herzliches Dankeschön auch von mir, lieber ilbravo, für diese ausführliche und hoch ansprechende Würdigung von Tournemires umfangreichem Oeuvre. :juhu:
    Diese werde ich auch zum Anlaß nehmen, demnächst mal wieder die Bartholomée-Einspielung der VI. Symphonie hervorzuholen und mir zu Gemüte zu führen. Außerdem hast Du mir aufgrund Deiner prägnanten Werkbeschreibungen große Lust auf die restlichen Symphonien des Komponisten gemacht! :sev:

    :wink:
    Johannes

  • Vor allem einmal danke, ilbravo, für diese fabelhafte Einleitung, dank der wir bei google, gibt man Tournemire ein, ziemlich weit oben aufscheinen. Gut so!

    Bartholomée hat lediglich 3, 5, 6, 7 und 8 eingespielt (und das grandios!), wer alle haben will, was ich für einen nur zu verständlichen Wunsch halte, muß also auf jeden Fall zu Naxos greifen. Nur zu - so übel sind diese Einspielungen nicht.

    Der absolute Wahnsinn ist, daß einige der bedeutendsten Werke Tournemires, darunter nahezu alle Opern, bis heute unaufgeführt sind. Offenbar traut sich niemand an diese Werke heran - was so verwunderlich nicht ist, denn es ist eine Musik, bei der die kleinsten Fehler sofort hörbar sind. Tournemire war weniger ein zweiter Mahler als daß er vielmehr ein Bindeglied zwischen der César-Franck-Schule und Messiaen ist. Er erweitert beharrlich Francks Harmonik, fügt ihr eine komplexe Rhythmik hinzu und nimmt Messiaens Ideen von einer Musik vorweg, die zugleich Klang und visuell zu begreifende Farbe ist.

    Während die "Orgue mystique" etwas ungleichmäßig ist, da Tournemire in diesem Zyklus für jede Sonntags-Messe des Jahres Musik komponiert hat und angesichts der Menge der Stücke mitunter auch reines Handwerk einsetzt, gehören seine Lieder und seine Kammermusik zum besten, was die französische Musik nach Debussy hat. Auch die Klaviermusik bietet einige Aha-Effekte, wenn man den frühen Messiaen kennt, der mit Tournemire nicht nur musikalische sondern auch mystisch-religiöse Ideen teilte.

    Tournemire ist eines der besten Beispiele dafür, wie wenig die französischen Komponisten trotz erstrangiger Werke ins Repertoire gedrungen sind. Am ehesten ist er Organisten bekannt. Aber auch Opern- und Konzerthäuser sollten sich seiner Werke annehmen, denn sie stellen einen der wenigen Schätze dar, die es zu heben gilt - und die auch wirklich Schätze und nicht bloß Talmi sind.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Tournemire ist eines der besten Beispiele dafür, wie wenig die französischen Komponisten trotz erstrangiger Werke ins Repertoire gedrungen sind.

    Gilt das überall oder ist das nur ein Problem eines deutschen/österreichischen Chauvinismus'? Wenn ich Tournemire, Koechlin und zum Teil auch Saint-Saens höre, frage ich mich, mit welchem Recht bei uns Orchestermusik von Strauss oder Liszt im Gegensatz zu den Franzosen einen höheren Stellenwert hat. Da scheinen sich bis heute Aufführungstraditionen, die ihren Ursprung zum Teil in chauvinistischem Denken haben, fortzusetzen. Oder ist die Musik Tournemires in Frankreich selbst ebenso zaghaft verankert wie bei uns?

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Gilt das überall oder ist das nur ein Problem eines deutschen/österreichischen Chauvinismus'?


    Es gilt leider für ziemlich überall. Sogar für Frankreich. Natürlich führen die Franzosen ihre Hauptkomponisten etwas häufiger auf als wir, man wird also in Frankreich eher einem Poulenc oder einem Saint-Saens begegnen, und die lebenden Komponisten haben relativ gute Aufführungs-Chancen. Aber entlegenere Komponisten wie Tournemire, Koechlin, Emmanuel (ein fabelhafter Komponist!) etc. haben es dort ebenso schwer wie hier. Es bedarf in diesen Fällen eines Dirigenten, der sich massiv für sie einsetzt - und der fehlt im Moment.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Hier mal ein paar Ergänzungen zu den Symphonien.
    Die Partituren sind bei Eschig (Durand-Salabert-Eschig) in Paris verlegt worden.

    Symphonie Nr. 1 A-Dur op. 18 „Romantique“ (1900)
    3 Flöten, 3 Oboen, 2 Klarinetten, 3 Fagotte
    4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Streicher

    Symphonie Nr. 2 B-Dur op. 36 „Ouessant“ (1909)
    4 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte
    6 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Streicher

    Symphonie Nr. 3 D-Dur op. 43 „Moscou“ (1913)
    3 Flöten, 3 Oboen, 1 Klarinette, 3 Fagotte
    5 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Celesta, Orgel
    Streicher

    Symphonie Nr. 4 „Pages symphoniques“ op. 44 (1912)
    3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte
    4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Streicher

    Symphonie Nr. 5 f-moll op. 47 (1914)
    3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 4 Fagotte
    4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Streicher

    Symphonie Nr. 6 op. 48 (1918)
    Tenor, gemischter Chor
    4 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 4 Fagotte
    6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 Tuben
    Pauke, Schlagzeug
    4 Harfen
    Orgel
    Streicher

    Symphonie Nr. 7 op. 49 „Les danses de la vie“ (1922)
    4 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 4 Fagotte
    6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 Tuben
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Orgel
    Streicher

    Symphonie Nr. 8 op. 51 „La symphonie du triomphe de la mort“ (1924)
    4 Flöten, 3 Oboen, 4 Klarinetten, 4 Fagotte
    4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba
    Pauke, Schlagzeug
    2 Harfen
    Celesta
    Streicher

    Davidoff [Blockierte Grafik: http://www.smileygarden.de/smilie/Fantasy/67.gif]

    Verachtet mir die Meister nicht!

  • Für die Kaufwütigen:

    Bei amazon.fr gibt's eine Neu-/Später-Edition von Tournemires 6. Symphonie in der Bartholomeé-Interpretation regulär für EUR 7,45:

    Der Klick auf's Bild führt leider zu amazon.de (da kostet die Scheibe gebraucht ca. 45 Euronen). Wer's billig mag, der klicke bitte hier .

    Wollt's nur mal so erwähnt haben ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Die Erfahrung, daß man beim Bestellen der Tournemire-Raritäten die Angebote der verschiedenen Amazonen genau vergleichen sollte, habe ich ebenfalls schon gemacht.

    Eben habe ich die 7. Symphonie erstmals gehört. Ein grandioses Werk, dessen Musik ich nur schwer mit dem mir Bekannten vergleichen kann: Zu Beginn ist eine gewisse Nähe zu Debussy spürbar, deutlicher zu Roussel und auch Dukas und am Ende zu Messiaen. Dabei scheint mir der Stil hier derart originär zu sein, daß solche Vergleiche nur Hilfskonstruktionen sind.

    Die Symphonie (wie ilbravo sie nennt, "kryptisch" und "hochgradig faszinierend", kann ich jetzt gut nachvollziehen) ist von allen die am größten besetzte (vgl. Davidoffs Aufstellung oben). Sie gliedert sich in fünf etwa gleich lange Sätze (jeweils ca. 15 Minuten) mit den Satzüberschriften:

    1. Danses des Temps primitifs
    2. Danses de la Gentilité
    3. Danses Médiévales
    4. Danses Sanglantes
    5. Danses des Temps futurs

    Das Ganze ist, wie schon genannt, betitelt "Les danses de la vie". Man kann das Werk allerdings auch ganz gut ohne diese Titel hören: Eine oft einfache Melodik mit Motiven aus wenigen Tönen wird öfter klanglich geschichtet, aber nicht im impressionistischen Sinn, eher so, wie es radikaler später Messiaen macht. Eindrucksvoll, mit welcher Rafinesse der Komponist das Orchester behandelt (dabei ohne jede Eitelkeit, nie aufgesetzt oder übertrieben), das Ideal der französischen clarté ist deutlich - so ein erster Versuch, das zu beschreiben. Muß ich noch öfter hören - jedenfalls eine große Entdeckung!

    Die Aufnahme mit dem Orchestre Philharmonique de Liège et de la Communauté Française unter Pierre Bartholomée gefällt mir gut, auch aufnahmetechnisch, recht natürlich und räumlich gut gestaffelt. Ein Bild gibt es nicht, aber diesen Link: http://www.amazon.de/Sinfonien-3-7-…86877677&sr=8-4 (Auvidis, 2 CD, aufg. 1992). Enthalten ist noch die 3. Symphonie, die ich noch nicht gehört habe.

    Soweit erste Eindrücke.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • wird öfter klanglich geschichtet


    Das ist der Organist in Tournemire: Register und Koppel auf die Farben des Orchesters übertragen - aber nicht einfach instrumentiert, sondern gleichsam übersetzt. Farblich lassen sich auch Parallelen zu Koechlin finden: Tournemire hat ein ähnlich gutes Ohr für die Perfektionierung des Klanges. In der Partitur sieht das mitunter etwas seltsam aus, aber wenn man sich den Klang im inneren Ohr vorstellt, merkt man, wie raffiniert Tournemire seine Farben wählt. Mitunter setzt er einen bestimmten Ton in einem Instrument, das im Gesamtklang scheinbar untergeht - aber gerade dieser Ton verleiht dem Klang eine Art Höhung; so, wie Maler mitunter einen weißen Strich einsetzen, um die benachbarte Farbe zu kräftigen.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • ich frage mich beim wiederholten hören, ob der Organist Tournemire nicht auch in Bezug auf eine gewisse kontrapunktische Behandlung seines Materials "durchkommt". Natürlich gibt es in den Sinfonien keine Fugen. Aber ist diese beschriebene Schichtungt nur klanglich oder manchmal auch motivisch/thematisch im Sinne einer (latenten) Polyphonie? Am stärksten empfand ich das im ersten Satz der Nr.2, aber auch die späten Sinfonien Nr.7 und 8 scheinen mir nicht frei davon.

    Herzlichst
    il bravo

    Oper in Hamburg: seit 1678 in 3D

  • Zu Teil I gesellt sich Ende Oktober Teil II:

    Choral-improvisation sur le Victimae paschali laudes

    Lento (inédit, année de composition inconnue)

    Toccata - Suite de morceaux pour grand orgue, op. 19 no 3

    Suite évocatrice pour grand orgue, op. 74

    Office « Dominica Resurrectionis» Petites Fleurs musicales, op. 66

    Postludes libres pour des Antiennes de Magnificat

    Office « Dominica Resurrectionis » L’Orgue mystique, op. 56/XVII

    Vincent Boucher, Orgel
    Orgue Casavant op. 869 - Église des Saints-Anges-Gardiens Lachine (Québec)


    Improvisation sur le Te Deum sans numéro d’opus

    Office de la Nativité de L’Orgue mystique op. 55/III

    Petites fleurs musicales op. 66

    Postlude libre pour des antiennes de Magnificat op. 68/III

    Amen op. 68

    Cinq Noëls originaux op. 21

    Fresque symphonique sacrée n° 1 op. 75

    Vincent Boucher, Orgel
    Orgue Casavant op. 615 - Grand orgue de la tribune de l’église Saint-Jean-Baptiste (Québec)

    Sehr schön, endlich geht der Zyklus der Orgelwerke mit Vincent Boucher weiter.

    Davidoff [Blockierte Grafik: http://www.smileygarden.de/smilie/Fantasy/67.gif]

    Verachtet mir die Meister nicht!

  • In der Nr. 8 kommen noch Laute und 3 Saxophone hinzu und verleihen dem ohnehin unkonventionellen Klangbild eine zusätzliche extravagante Note.

    Vielen Dank an alle für die bisheige Diskussion und die vielen aufschlussreichen Ergänzungen, Hinweise und Kommentare .

    Herzlichst
    il bravo

    Oper in Hamburg: seit 1678 in 3D

  • Zitat

    "Man kann die Themen des gregorianischen Chorals kaum mehr und besser verwenden als Charles Tournemire in seiner Orgue mystique." Olivier Messiaen in "Technique de mon langage musical"


    Während Messiaens Orgelwerke in zahlreichen Einspielungen erhältlich sind, muss man Aufnahmen der Orgelmusik seines musikalische und auch geistlichen Vorbildes, Charles Tournemire, mit der Lupe suchen. Dabei schrieb Tournemire mit l'Orgue mystique ein überaus imposantes Orgelwerk, dessen immense Bedeutung leider immer noch nicht so recht gewürdigt wird. Gut, der Werkzylus ist nicht unbedingt kurz zu nennen - er entspricht in seiner Länge etwa dem gesamten Orgelwerk Bachs. Hier und da entdeckt man Ausschnitte in einem Orgelkonzert. Bis vor kurzem gab es nur eine Gesamteinspielung mit Georges Delvallé. Sie ist z. Z. nur als mp3 - Download erhältlich: "http://www.amazon.fr/gp/product/B00…=dm_ws_sp_ps_dp

    Um so erfreulicher, dass es nun eine Alternative gibt. Der Organist ist Sandro R. Müller: "http://www.cybele.de/charles-tourne…omplete-edition - ebenfalls als Download (flac) - nur der Preis lässt noch eine wenig zurückschrecken.

    Gruß
    Josquin

  • Das ist das Problem mit diesen Giga-Werken ...
    Noch mehr leidet Obuchov darunter mit seinem Le Livre de Vie.
    Ich bin mit einer CD Orgue mystique durchaus zufrieden und wünsche mir dann eher Kostproben anderer Gigantomanien. Ich habe einfach nicht die Geduld für 14 Stunden ...

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Es ist wohl kein Giga - Werk sondern eher ein Giga - Zyklus. L'orgue mystique besteht aus 51 Abteilungen mit je 5 Sätzen für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Das ist genauso unlangweilig wie das wöchentliche Hören einer Bachkantate oder eines Orgelwerkes von JSB. Ich möchte besonders auf die 51 Postludien hinweisen - das ist wirklich ganz großartige Orgelmusik und allemal vielfältiger und interessanter als die diversen Orgelsymphonien von Widor und Vierne.


    Gruß
    Josquin

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