Bach, J. S.: Weihnachtsoratorium BWV 248

  • "Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben..."

    Damit dieser Thread, da er thematisch ja nun schon recht bald höchste Aktualität erlangen wird, schon mal wieder nach vorne geholt wird:

    Seit meiner Kindheit wundere ich mich über den Text dieser allseits bekannten Arie aus dem ersten Teil des Oratoriums:

    Zitat

    Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,
    Den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!
    _Deine Wangen
    _Müssen heut viel schöner prangen,
    _Eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!


    Hier wird Jesus als Bräutigam tituliert, auf den sich die Braut (Zion=Jerusalem=Gemeinde) mit "zärtlichen Trieben" vorbereiten und schön machen soll ("Deine Wangen| Müssen heut viel schöner prangen"). Es wird also Hochzeit gemacht! Aber ist es im Kontext von Weihnachten, wo man (d.h. wir heute) an das Jesukind in der Krippe denkt, nicht irgendwie sonderbar von Jesus als Bräutigam zu reden? Ich weiss dieser Gedanke ist naiv. Aber er kommen mir unwillkürlich immer wieder, wenn ich die Arie höre. Die interessante Frage für mich ist, wie haben zu Bachs Zeiten diese Verse auf den Zuhörer gewirkt? Hat sich die Gemeinde wirklich als Braut Jesu gesehen? Hatten die damaligen Christen wirklich im weitesten Sinne Hochzeitsgefühle?
    Die Wikipedia gibt im Eintrag zum Weihnachtsoratorium nur wenig Auskunft:

    Zitat

    ...Angestoßen durch diese äußere Bewegung spiegelt die Alt-Arie „Bereite dich, Zion“ die innere adventliche Sehnsucht wider[52] und gibt eine erste Ahnung von der Größe des Bevorstehenden. „Zion“ wird entsprechend altchristlicher Tradition und der Brautmystik zu einem Bild für die christliche Gemeinde, die als Braut auf ihren Bräutigam (= Christus) wartet. ...


    Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang auch noch, dass Bach, wie so oft, die Arie nicht gänzlich neu komponiert hat. Es handelt sich um die Wiederverwertung von BWV 213/9, wo Herkules der "Wollust" widersteht:

    Zitat

    Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen,
    Verworfene Wollust, ich kenne dich nicht.
    _Denn die Schlangen,
    _So mich wollten wiegend fangen,
    _Hab ich schon lange zermalmet, zerrissen.

    Ein ziemlich gegensätzliches Thema also. Oder das gleich Thema mit entgegengesetztem Vorzeichen? Widerstehen der Wollust statt mit "zärtlichen Trieben" ersehnte Hochzeit? Leider Verfüge ich nicht über eine Einspielung von BWV 213. Wenn ich mir die zitierte Stelle mit der Melodie von "Bereite dich Zion,..." innerlich vorsinge, komme ich vor Lachen nicht weit. So ganz eins zu eins kann das Bach doch nicht übernommen haben, oder?

    Sicher werde ich in näherer Zukunft eine Bachbiographie lesen müssen (die von Martin Geck würde mich reizen), um dem Denken und Fühlen der damaligen Zeit etwas näher zu kommen. Bis dahin freue ich mich auf Eure theologischen, muskiwissenschaftlichen und sonstigen Kommentare.

    Hudebux

  • Hallo Hudebux!

    Hier wird Jesus als Bräutigam tituliert, auf den sich die Braut (Zion=Jerusalem=Gemeinde) mit "zärtlichen Trieben" vorbereiten und schön machen soll ("Deine Wangen| Müssen heut viel schöner prangen"). Es wird also Hochzeit gemacht! Aber ist es im Kontext von Weihnachten, wo man (d.h. wir heute) an das Jesukind in der Krippe denkt, nicht irgendwie sonderbar von Jesus als Bräutigam zu reden? Ich weiss dieser Gedanke ist naiv. Aber er kommen mir unwillkürlich immer wieder, wenn ich die Arie höre. Die interessante Frage für mich ist, wie haben zu Bachs Zeiten diese Verse auf den Zuhörer gewirkt? Hat sich die Gemeinde wirklich als Braut Jesu gesehen? Hatten die damaligen Christen wirklich im weitesten Sinne Hochzeitsgefühle?

    Aus meiner Sicht als Christ ist die Sachlage eigentlich klar. Der "kalendarische" Advent, also im Kontext von Weihnachten, wird immer im Zusammenhang mit dem "geistlichen" Advent, also das Erwarten (Lateiner mögen mich korrigieren) der Gemeinde als Braut Christi des Bräutigams Jesus Christus gesehen.
    Also so wie vor 2010 Jahren die Menschheit, bzw. eine kleine Teilmenge davon, auf die Ankunft Christi als Mensch gewartet hat, wartet jetzt die gläubige Gemeinde auf die Wiederkunft Christi, um dann irgendwann Hochzeit zu machen.

    Mit dem Arientext ist also eindeutig nicht nur das weihnachtliche Geschehen gemeint, sondern der Aufruf an die Gemeinde, die sich bereiten und schick machen soll, um die Ankunft des Bräutigams zu erwarten. Das werden die Zuhörer damals sicher so verstanden haben und auch heutzutage hat sich das nicht geändert.

    :wink:

    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • das Erwarten (Lateiner mögen mich korrigieren)

    Da ich jahrelang in der Schule mit dieser Sprache gequält wurde: "adventus" bedeutet Ankunft, bildlich gesprochen erwartet also die Braut (Gemeinde) die Ankunft des Bräutigams (Jesus). Die Arie "Bereite dich, Zion" steht im Zusammenhang mit dem vorangehenden Arioso ("Nun wird mein liebster Bräutigam") und dem nachfolgenden Choral ("Wie soll ich dich empfangen"), diese drei Stücke bilden inhaltlich eine Einheit. Erst danach wird von der Geburt Jesu berichtet ("Und sie gebar ihren ersten Sohn").

    Die Frage, wie der Text auf die Zuhörer zu Bachs Zeit gewirkt hat, ist schwierig zu beantworten. Am Bild von Braut und Bräutigam wird sich niemand gestört haben, das war Allgemeingut (und ist es bei Christen noch heute). Die mitunter sehr bildhaft-pralle Sprache mit "zärtlichen Trieben" und "prangenden Wangen" befremdet uns heute, damals war sie durchaus üblich. Die Musik wird sehr viel intensiver auf die Hörer gewirkt haben, als wir uns das heute vorstellen können. Festliche Musik in großer Besetzung (buchstäblich mit Pauken und Trompeten) war damals etwas ganz Besonderes, so etwas bekam man nicht oft zu hören.

    Viele Grüße,
    Fugato

  • Im Grunde genommen sind wir doch heutzutage vom Glück begünstigt, weil wir viel mehr Alte Musik zu hören bekommen, als die Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben.
    Die meisten hatten ja eher ein hartes, entbehrungsreiches Leben, da war so ein festlicher Gottesdienst oder eine Messe mit Pauken, Trompeten und feierlichem Gesang bestimmt ein absoluter Höhepunkt, von dem man noch lange zehrte.
    Was die Sprache im Barock anbetrifft, selbst im sakralen Bereich, die war wirklich praller und sinnlicher, oft mit geradezu sexuellen Konnotationen, zumindest würde man das heute so verstehen. Die Vereinigung der Gemeinde-Braut mit dem Bräutigam Christus ist ein gutes Beispiel dafür.
    Ich hatte selbst neulich Irritationen, ausgelöst durch den Text auf einer CD mit Lamenti - also eigentlich ja Lieder, welche Sterbenssehnsucht ausdrücken, das war im Barock ja weit verbreitet. Dort gibt es eine Textstelle bei Christian Spahn "Letzte Sterbensworte"

    "Treu, unerschrocken gibt ein seligs Ende
    ich schlag in Jesu Hand die starren Hände,
    von keuscher Lust erhitzt brennt meine Seele,
    sie sucht den Seelenschatz, der Leib die Höhle."...

    Von keuscher Lust erhitzt....das ist schon gewöhnungsbedürftig für unsere Ohren! Und das in einem Sterbelied. Auch hier also das Thema der Vereinigung wie bei einer Hochzeit - in diesem Fall der Seele mit dem Seelenschatz.
    War wirklich eine andere Zeit!

    LG
    Juli

    Entschuldigt bitte das leichte off-topic, hier ging es ja ums Weihnachtsoratorium.
    Hat jemand schon die neue Einspielung von Hermann Max gehört und möchte dazu mal etwas sagen?

    "Eine Semmel enthält 140 Kalorien, 700 Semmeln pro Jahr ergeben 98000 Kalorien,
    diese benötigt man, um eigenhändig 1 Elefanten 9 Zentimeter weit zu tragen. Aber wozu?"
    (Loriot)

  • Im Grunde genommen sind wir doch heutzutage vom Glück begünstigt, weil wir viel mehr Alte Musik zu hören bekommen, als die Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben.

    Bach lebte ja in einer Zeit, in der sich neben dem höfischen auch mehr und mehr ein bürgerliches Musikleben entwickelte, gerade in Städten wie Leipzig. Immerhin musste man also nicht mehr adelig sein, um als Nichtmusiker öfter mal Musik in größerer Besetzung hören zu können. Trotzdem wird auch für die Leipziger Bürger die Aufführung der Kantaten des Weihnachtsoratoriums etwas ganz Besonderes gewesen sein.

    Heute dagegen können wir das Weihnachtsoratorium jederzeit hören, auch im Hochsommer, zu Ostern, in der Bahn oder beim Joggen. Sind wir damit wirklich vom Glück begünstigt? Ich denke nicht unbedingt, weil die Musik damit eben auch den Charakter des Besonderen verliert und erheblich an Wirkung einbüßt - aber das ist ein anderes Thema.

    Das Weihnachtsoratorium würde sicher auch die heutigen Hörer im Konzert mehr beeindrucken, wenn man die Kantaten nicht hintereinander, sondern an den jeweils dafür vorgesehenen Festtagen aufführen würde (also die erste Kantate am ersten Weihnachtstag, die zweite Kantate am zweiten und so weiter). Das scheitert heute meist an den Kosten, weil die größeren Kirchen zwar gute Kantoreien haben, aber fast immer Orchester und Solisten "importieren" müssen - da sind sechs Termine natürlich ungleich teurer als einer. Zu Bachs Zeit waren die Aufführungen Bestandteil der Gottesdienste, es wurde also kein Eintritt verlangt (nur wer ein Textbuch haben wollte, musste dafür bezahlen) - wenn man die heutigen Kartenpreise sieht, wünscht man sich in diese Zeit zurück :D

    Viele Grüße,
    Fugato

  • Kostenfrage

    ""Das Weihnachtsoratorium würde sicher auch die heutigen Hörer im Konzert mehr beeindrucken, wenn man die Kantaten nicht hintereinander, sondern an den jeweils dafür vorgesehenen Festtagen aufführen würde (also die erste Kantate am ersten Weihnachtstag, die zweite Kantate am zweiten und so weiter). Das scheitert heute meist an den Kosten"
    Hallo Fugato,
    genau an diesem Punkt liegt der "Hase im Pfeffer". Die zu erwartende Zahl der Gottesdienstbesucher über alle Feiertage verteilt fällt einfach zu gering aus, daß der Aufwand einer Einstudierung und das "Anmieten" von Solisten und Orchestermusikern finanzierbar wären, denn Eintritt für einen Gottesdienst kann man wohl schlecht verlangen...
    Also bleibt es wohl oder übel dabei: In Berlin gibts in diesem Jahr ca. 15 Mal Kantaten 1-3 und ganze 2 Mal Kantaten 4-6...

    „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alle Fäden in der Hand haben"
    Walter Ulbricht, (1893-1973), Deutscher Realpolitiker

  • Die zu erwartende Zahl der Gottesdienstbesucher über alle Feiertage verteilt fällt einfach zu gering aus, daß der Aufwand einer Einstudierung und das "Anmieten" von Solisten und Orchestermusikern finanzierbar wären, denn Eintritt für einen Gottesdienst kann man wohl schlecht verlangen...

    Genau das meinte ich, obwohl bei einer Kantatenaufführung sicher mehr Besucher kommen würden als sonst. Hier gab es in diesem Jahr die Kantaten 1-6 in einem Rutsch am ersten Advent, sozusagen im Zeitraffer - von den Kosten her optimal, von der Aussage her wohl weniger.

    Viele Grüße,
    Fugato

  • Immerhin musste man also nicht mehr adelig sein, um als Nichtmusiker öfter mal Musik in größerer Besetzung hören zu können.

    Das musste man bei Kirchenmusik noch nie. Das war für den größten Teil der Bevölkerung bis weit in das 19. und sogar 20. Jh. hinein die einzige Möglichkeit, mit qualitativ hochwertiger Musik in Kontakt zu kommen. Schon immer. (Ein Umstand, den die Kirchenmusikreformer des 18. und 19 Jhs übersehen haben)

    Das Weihnachtsoratorium würde sicher auch die heutigen Hörer im Konzert mehr beeindrucken, wenn man die Kantaten nicht hintereinander, sondern an den jeweils dafür vorgesehenen Festtagen aufführen würde

    dafür wär' ich auch zu haben. Und es ist ja nicht nur so, daß sie nur hintereinander (meistens eh' nur 1-3; 4-6 fällt meistens aus...) aufgeführt werden, sie werden auch noch zur falsche Zeit, nämlich VOR Weihnachten aufgeführt. Aber was soll's: Was will man in einer Gesellschaft erwarten, die jetzt gleich nach Weihnachten Schoko-Osterhasen verkauft und in der viele auf der Straße danach Befragte der Meinung sind, zu Ostern würde man den Geburtstag des Osterhasen feiern: Kommerz und wohlfeile Beliebigkeit...

    Hier wird Jesus als Bräutigam tituliert, auf den sich die Braut (Zion=Jerusalem=Gemeinde) mit "zärtlichen Trieben" vorbereiten und schön machen soll ("Deine Wangen| Müssen heut viel schöner prangen"). Es wird also Hochzeit gemacht! Aber ist es im Kontext von Weihnachten, wo man (d.h. wir heute) an das Jesukind in der Krippe denkt, nicht irgendwie sonderbar von Jesus als Bräutigam zu reden?

    Nö. Das gehört genau da in den Kontext. Das ist die Bildsprache (und Sprache!) und Symbolik des Hohen Liedes, die hier aufgegriffen werden und dafür gibt es gleich drei christliche Interpretationen, wer denn da als Braut gemeint sein könnte: Da ist einmal die Kirche als solche (Dies entspricht auch der jüdischen Auslegung, die im Hohen Lied die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel abgebildet sieht). Die zweite Deutung ist die Einzelseele, die sich hier auf den Erlöser freut, und zuletzt - das ist die Deutung durch Ambrosius von Mailand - ist damit Maria gemeint. Und letztere Interpretation führt unmittelbar zu "Und sie gebar ihren ersten Sohn"

    Weihnachten ist mehr, als "Christkind in der Krippe" in der kulturellen Verkürzung einer "bürgerlichen" Tradition (die ihrerseits gerade schon wieder in Auflösung begriffen ist). Und ja: vor 200 oder 300 Jahren (wahrscheinlich sogar noch vor 50) waren den meisten, auch ungebildeten Menschen die religiösen Zusammenhänge klarer, als heute vielen Gebildeten. Diese Zusammenhänge stellen ja ein wesentliches Element unserer kulturellen Wurzeln dar und sind überall in der bildender Kunst und der Musik zu finden. Abgesehen von der zunehmenden Unfähigkeit, die Texte in geistlicher Musik in den richtigen Zusammenhang zu stellen, gibt es heute leider auch immer weniger Leute, die in der Lage sind, die Bildinhalte der Gemälde in den Museen mit religiösem Inhalt zu entschlüsseln. Da gibt es dann zwei Möglichkeiten: Entweder Aneignung der Grundlagen (d.h. Beschäftigung mit den religiösen Aspekten), oder zunehmende Verständnislosigkeit mit ebenfalls zunehmender Fokussierung auf formal-künstlerische Aspekte...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • genau an diesem Punkt liegt der "Hase im Pfeffer". Die zu erwartende Zahl der Gottesdienstbesucher über alle Feiertage verteilt fällt einfach zu gering aus, daß der Aufwand einer Einstudierung und das "Anmieten" von Solisten und Orchestermusikern finanzierbar wären, denn Eintritt für einen Gottesdienst kann man wohl schlecht verlangen...
    Also bleibt es wohl oder übel dabei: In Berlin gibts in diesem Jahr ca. 15 Mal Kantaten 1-3 und ganze 2 Mal Kantaten 4-6...

    ja, das Wünschenswerte (ich würd's wie gesagt auch gerne sehen...) und das Machbare:

    ob zum Gottesdienst (der dann ohnehin zu lange ausfallen würde. Doch: Es gibt Kirchenbesucher - und Geistliche - die das nicht goutieren!) oder im Konzert: Die Koste steigen bei sechs Aufführungen. Ausser man hat ein festes Ensemble (d.h. Solisten, Chor und Orchester), das ohnehin verfügbar ist und nicht aufführungsmäßig kostet. Aber wo gibt es das?

    Die nächste Frage ist dann: Muß es immer WO von Bach sein? Bis in das vorletzte Dorf? Gibt es keine anderen lohnende WeihnachtsKantaten? Schütz, Charpentier, Mattheson, Graun, Stölzel, Telemann, Saint Saëns...? Oder Ostern: Immer nur MaPa/JoPa von Bach..? Was ist mit Graun, Telemann, Mattheson, Händel, Fasch, Stölzel, Distler, Penderecki, Pärt, Beethoven, Lasso et al.? Um Fugato zu zitieren:

    Heute dagegen können wir das Weihnachtsoratorium jederzeit hören, auch im Hochsommer, zu Ostern, in der Bahn oder beim Joggen.

    Ist das nicht bereits ein Auswuchs von Pop-Kultur? Von Seiten der Aufführenden das bequeme Nachgeben in das risikolose Eingehen auf den Massengeschmack? (Wissen wir nicht alle, daß es mehr Applaus gibt, wenn das aufgeführte Stück dem Publikum bekannt ist???) Und von Seiten des Publikums die Forderung nach Einheitsprogramm, um nicht zu sagen: Schlager? Das ist wie mit den Girlies und dem Frontmann einer Boygroup: Millionen anderer Girlies können nicht irren - der MUSS toll sein! Bei BACH kann man auf ähnliche Weise auch nichts falsch machen...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Zitat

    "Das Weihnachtsoratorium würde sicher auch die heutigen Hörer im Konzert mehr beeindrucken, wenn man die Kantaten nicht hintereinander, sondern an den jeweils dafür vorgesehenen Festtagen aufführen würde (also die erste Kantate am ersten Weihnachtstag, die zweite Kantate am zweiten und so weiter).

    Das würde aber auch bedeuten, dass sich diejenige Hörerschaft das WO besonders gut erschließt, welche die religiösen Inhalte teilen, also dem Theisten christlichen Glaubens; die jüdischen Glaubens gehörten bereits nicht mehr dazu. Das könnte man fragen: Warum sollen aber Agnostiker, Atheisten oder auch Buddisten „schlechtere“ bzw. weniger beeindruckbare WO-Hörer sein (wenn sie mit dem spezifischen religiösen Kontext des Werkes vertraut sind) ?

    Zitat

    Heute dagegen können wir das Weihnachtsoratorium jederzeit hören, auch im Hochsommer, zu Ostern, in der Bahn oder beim Joggen. Sind wir damit wirklich vom Glück begünstigt? Ich denke nicht unbedingt, weil die Musik damit eben auch den Charakter des Besonderen verliert und erheblich an Wirkung einbüßt - aber das ist ein anderes Thema

    Jede große Musik hat den Charakter des Besonderen. Er kann vor allem durch routinierte Wiedergabe verloren gehen. Ich meine, Bachs WO hat sehr große Eigenwirkung und Substanz. Diese gelangt durchaus auch außerhalb eines „weihnachtlichen Ambientes“ zur ihrer außerordentlichen Wirkung.

    Das der Hör-Eindruck ein geringerer sei bzw. keine Besonderheit des Werkes sich erschließt, wenn das WO im Sommer oder Herbst aufgeführt wird bzw. man sich daraus eine Kantate mit geschlossenen Kopfhörern daraus im Wartesaal des Zahnarztes reinzieht ist deshalb nicht einsehbar. Beim Jogging hätte ich zugegebener Maßen Schwierigkeiten.

    Auch wäre zu überlegen bzw. zu fragen, ob sich bestimmte Schichten/Inhalte Bachscher Werke überhaupt erst außerhalb ihres - mehr oder weniger - unmittelbaren religiösen Kontextes erschließen...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Das würde aber auch bedeuten, dass sich diejenige Hörerschaft das WO besonders gut erschließt, welche die religiösen Inhalte teilen

    Wo steht dass denn??

    Warum sollen aber Agnostiker, Atheisten oder auch Buddisten „schlechtere“ bzw. weniger beeindruckbare WO-Hörer sein

    Auch Agnostiker, Atheisten etc. pp. können in die Kirche gehen ;+)

    Er kann vor allem durch routinierte Wiedergabe verloren gehen.

    D´accord.

    Diese gelangt durchaus auch außerhalb eines „weihnachtlichen Ambientes“ zur ihrer außerordentlichen Wirkung.

    Fakt ist aber andererseits auch, dass sich diese Wirkung in einer Umgebung die dem ursprünglichen "Sitz im Alltag" dieser Musik zumindest nahekommt, verstärkt. Man kann es drehen wie man will: der Aufführungsort des Weihnachtsoratoriums und der anderen geistlichen Kantaten ist halt nun mal die Kirche. Was nicht heißt, dass man diese Musik nur in der Kirche hören soll, oder das Hörer ohne christlichen Hintergrund keinen Zugang zu dieser Musik hätten. Aber das gehört auf ein anderes Blatt - hier geht es ja um das Weihnachtsoratorium ;+)

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Hallo,

    Dass Musik heute teilweise sehr unreflektiert konsumiert wird, ist leider traurige wahrheit, ebenso die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes und natürlich auch von Ostern, etc. Darüber ist hier und anderswo schon viel gesagt und geschrieben worden und ich denke, darüber besteht hier bei uns weitgehend Konsenz.
    Ich glaube, wir Klassikhörer gehen noch weitgehend bewußt mit unserer Musik um (wobei ich jetzt nichts gegen z.B. Jazzliebhaber gesagt haben möchte.
    Ich höre das WO nur zur Weihnachtszeit, in solchen Dingen bin ich konservativ. Ich bin auch der Meinung, dass man sich, wenn man (wie ich) gerne sakrale Musik hört, sich mit den Hintergründen, der Bildsprache und der christlichen Symbolik zumindest ein wenig vertraut gemacht haben sollte, genauso wie bei biblischen Motiven in der bildenden Kunst, weil man die Werke sonst nicht richtig verstehen kann. Das geht auch, wenn man Agnostikerin ist, u.U. vielleicht sogar besser, weil man einen kritischen Abstand beibehalten kann. Ich möchte hier aber keine diesbezügliche Diskussion auslösen, ich denke nur nicht, dass man unbedingt gläubig sein muss, um Kirchenmusik zu lieben, zu verstehen oder gar selbst zu singen (was ich jahrelang getan habe)
    Wenn ich gesagt habe, dass wir vom Glück begünstigt sind, dann denke ich dabei nicht an unreflektiertes Konsumhören, sondern an meine umfangreiche Cd-Sammlung, die es mir ermöglicht, je nach Stimmung eine Auswahl zu treffen, um wunderbare Musik aus längst vergangenen Jahrhunderten zu hören, oder Konzerte zu hören, auch außerhalb der Kirche. All das war den einfachen Menschen damals nicht vergönnt, außer eben an hohen Feiertagen in der Kirche.
    Und zuletzt möchte ich dir, Bustopher, noch zustimmen: Es muss wirklich nicht immer das WO von J.S.Bach sein, angesichts der vielen anderen wunderbaren Oratorien und weihnachtlichen festmusiken von hervorragenden Komponisten, die du ja stellenweise schon aufgezählt hast. D` accord!

    LG
    Juli

    "Eine Semmel enthält 140 Kalorien, 700 Semmeln pro Jahr ergeben 98000 Kalorien,
    diese benötigt man, um eigenhändig 1 Elefanten 9 Zentimeter weit zu tragen. Aber wozu?"
    (Loriot)

  • Das würde aber auch bedeuten, dass sich diejenige Hörerschaft das WO besonders gut erschließt, welche die religiösen Inhalte teilen, also dem Theisten christlichen Glaubens; die jüdischen Glaubens gehörten bereits nicht mehr dazu. Das könnte man fragen: Warum sollen aber Agnostiker, Atheisten oder auch Buddisten „schlechtere“ bzw. weniger beeindruckbare WO-Hörer sein (wenn sie mit dem spezifischen religiösen Kontext des Werkes vertraut sind) ?

    Die Schlußfolgerung ist falsch: Er muß die religiösen Inhalte nicht "TEILEN", d.h. glauben, er muß sie KENNEN. Nachdem sich Atheisten (oder auch Buddhisten) aber üblicherweise nicht sonderlich intensiv mit den Inhalten der Bibel auseinandersetzen (Wozu auch? Ausnahmen mag es geben!), erschließt sich ihnen so ein Werk in der Tat schlechter als einem, der sich damit "auskennt", der die Anspielungen versteht. Der Zusatz "wenn sie mit dem spezifischen religiösen Kontext des Werkes vertraut sind" trifft genau den Kern der Sache: Inwieweit sind sie es denn? Ich kenne viele Leute, die sind definitiv nicht damit vertraut. Das sind dann in der Tat "schlechtere" WO/MaPa/JoPa/Messias/Elias/etc.-Hörer!

    Ohne diese Kenntnis erschließt sich so ein Werk nur bis zu einer gewissen Ebene, aber nicht mehr darüber hinaus. Dann bleibt im Extremfall allenfalls noch die formal-Künstlerische Analyse, nicht mehr. Ein Betrachter z.B. eines Gemäldes "Abraham opfert Isaak" wird ohne diese Kenntnis mit dem Bildprogramm ohne nähere Erklärung nicht viel anfangen können. Der sieht dort nur einen alten Mann, der einen meist spärlich bekleideten Knaben umbringen möchte und offenbar von einem Dritten daran gehindert wird. Und nu? Lustmord? Und beim Genre "Hagar und der Engel" bleibt dann nur noch Ratlosigkeit, weil die Beziehung der Figuren zueinander nicht klar ist. Das ist bei den Texten geistlicher Musik und deren Beziehung zur Musik aber nicht viel anders. Allein schon die Irritation durch den offenkundig erotischen Einschub "Bereite dich Zion" in der Geschichte von "Christkind" (ich polarisiere jetzt zur Verdeutlichung gerade bewußt, ohne jemand damit nahetreten zu wollen) zeigt doch, daß eine derartige Unkenntnis Probleme beim Verständnis bereitet...

    Auch wäre zu überlegen bzw. zu fragen, ob sich bestimmte Schichten/Inhalte Bachscher Werke überhaupt erst außerhalb ihres - mehr oder weniger - unmittelbaren religiösen Kontextes erschließen...

    welche denn? Und warum und wie?

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Nicht direkt zum Weihnachtsoratorium aber zum Thema, den Kontext einer Komposition zu erkennen, passt folgende Beobachtung:

    Im WDR/Hier und Heute wurde in der Advent/Weihnachtszeit der Bericht über eine Krippenausstellung in Essen mit dem gregorianischen Alleluja aus der Osternacht, das nach dem dreimaligen "Lumen Christi" gesungen wird. Soviel ich weiß nur dieses eine Mal im Kirchenjahr. und hier so daneben.

    Man muss nicht Christ sein, um geistliche Musik zu hören und zu schätzen. Aber man sollte schon wissen, um was es geht , wenn man verstehen will, auf was sich der Komponist bezieht und welche Kenntnis von Traditionen er voraussetzt . Bach hat seine Kompositionen ja auch darauf gerichtet, wenn ich Bach verstehen will, sollte ich wissen, auf was er sich bezieht.

    Das heißt nicht, dass ich ohne diese Vorkenntnisse, Bach nicht auch als einen großartigen Musiker ansehen kann, dessen Werke mir sehr gefallen. Doch mir entgeht möglicherweise ein Bach wichtige Dimension.

    Aber vielleicht gibt es hier verschiedene Wege der Erkenntnis und dessen, was Bach uns gibt.

    lg vom eifelplatz, Chris.

  • Was musikalische Christen oft vergessen:

    (1) Der Durchschnittschrist kann mit dem Weihnachtsoratorium genauso wenig anfangen wie der Durchschnittsatheist. Beide leben meilenweit entfernt von Bachs Gedankenwelt, beide müssen sich das erarbeiten. Bach lebte vor 300 Jahren, außerdem war er ein musikalisches Genie. Da muss man schon ein bisschen was tun, um sich der Sache zu nähern. Ok, der Durchschnittseuropäer hat einen gewissen Vorsprung gegenüber dem Durchschnittschinesen...

    (2) Man kann als Christ ganz gut ohne das Weihnachtsoratorium und sogar ganz ohne Bach auskommen. Jesus, Paulus, Augustinus, Luther, meine Oma und viele andere haben sich nie mit Bach befasst.

    Fazit:
    Bachs Musik ist eine sehr spezielle Art, sich mit christlichen Themen zu befassen. Wer sich darauf einlässt, muss so oder so eine gewisse Zeit investieren. Das schließt nicht aus, dass einzelne(!) Christen daraus einen gewissen Mehrwert gewinnen können. Das ist dann aber ein Mehrwert, den die Atheisten nicht vermissen. Es kann sogar folgendes passieren: Man hört Bach und gleichzeitig kommuniziert man mit Gott. Für Gott kein Problem, für den Menschen schon, er ist nicht multitasking-fähig. Daher kann es vorkommen, dass der Christ sogar weniger von Bachs Gedankenwelt mitbekommt als der Atheist. Das ist jetzt nicht als Wertung zu verstehen. Wenn mich Gott anrufen würde, würde ich auch sagen: Scheiß auf Bach...


    Thomas

  • Vielen Dank für die vielen Kommentare.

    Mit dem Arientext ist also eindeutig nicht nur das weihnachtliche Geschehen gemeint, sondern der Aufruf an die Gemeinde, die sich bereiten und schick machen soll, um die Ankunft des Bräutigams zu erwarten. Das werden die Zuhörer damals sicher so verstanden haben und auch heutzutage hat sich das nicht geändert.


    Da hast Du sicherlich recht. Ich kenne dieses Bild von Braut und Bräutigam vor allem aus dem Weihnachtsoratorium. Wo es noch auftaucht, könnte ich aus dem Stegreif nicht sagen. Gibt es bildliche Darstellungen? Mich hat vor allem die sehr sinnliche fast erotische Sprache verwundert. Diese wird ja auch von Fugato und Juli angesprochen:

    Die Frage, wie der Text auf die Zuhörer zu Bachs Zeit gewirkt hat, ist schwierig zu beantworten. Am Bild von Braut und Bräutigam wird sich niemand gestört haben, das war Allgemeingut (und ist es bei Christen noch heute). Die mitunter sehr bildhaft-pralle Sprache mit "zärtlichen Trieben" und "prangenden Wangen" befremdet uns heute, damals war sie durchaus üblich. ...

    Was die Sprache im Barock anbetrifft, selbst im sakralen Bereich, die war wirklich praller und sinnlicher, oft mit geradezu sexuellen Konnotationen, zumindest würde man das heute so verstehen. Die Vereinigung der Gemeinde-Braut mit dem Bräutigam Christus ist ein gutes Beispiel dafür.


    Genau das habe ich ausdrücken wollen. Danke. Ist es denn denkbar, dass zu Zeiten Bachs durch diese Sprache keine sinnlich-erotischen Assoziationen geweckt wurden? Ich bin der Meinung, dass wir uns zu diesem Schluss voreilig verleiten lassen könnten, nicht weil wir etwa wüssten, wie die Menschen das damals verstanden, sondern weil wir von unserer eigenen Erfahrung von Kirche und Volksfrömmigkeit der letzten hundert Jahre ausgehen, in denen Sinnlichkeit weitestgehend ausgeklammert und mit spitzen Fingern angefasst wurde. Vielleicht war das vor dreihundert Jahren anders?

    Zitat von bustopher

    Nö. Das gehört genau da in den Kontext. Das ist die Bildsprache (und Sprache!) und Symbolik des Hohen Liedes, die hier aufgegriffen werden und dafür gibt es gleich drei christliche Interpretationen, wer denn da als Braut gemeint sein könnte: Da ist einmal die Kirche als solche (Dies entspricht auch der jüdischen Auslegung, die im Hohen Lied die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel abgebildet sieht). Die zweite Deutung ist die Einzelseele, die sich hier auf den Erlöser freut, und zuletzt - das ist die Deutung durch Ambrosius von Mailand - ist damit Maria gemeint. Und letztere Interpretation führt unmittelbar zu "Und sie gebar ihren ersten Sohn"


    Na wenn Jesus der Bräutigam ist, fällt es mir schwer zu glauben, dass Maria in diesem Bild die Braut wäre. Ausserdem ist eindeutig von Zion die Rede.

    Zitat von bustopher

    Weihnachten ist mehr, als "Christkind in der Krippe" in der kulturellen Verkürzung einer "bürgerlichen" Tradition (die ihrerseits gerade schon wieder in Auflösung begriffen ist). Und ja: vor 200 oder 300 Jahren (wahrscheinlich sogar noch vor 50) waren den meisten, auch ungebildeten Menschen die religiösen Zusammenhänge klarer, als heute vielen Gebildeten. Diese Zusammenhänge stellen ja ein wesentliches Element unserer kulturellen Wurzeln dar und sind überall in der bildender Kunst und der Musik zu finden.


    War das jetzt eine Belehrung? Ich habe nicht behauptet, dass Weihnachten nicht mehr als das Christkind in der Krippe sei. Ich fühle mich jetzt aber auch nicht verpflichtet, fortan auch eine Braut unter den Baum zu legen, um mit bürgerlichen Traditionen zu brechen.

    Zitat von bustopher

    Abgesehen von der zunehmenden Unfähigkeit, die Texte in geistlicher Musik in den richtigen Zusammenhang zu stellen, gibt es heute leider auch immer weniger Leute, die in der Lage sind, die Bildinhalte der Gemälde in den Museen mit religiösem Inhalt zu entschlüsseln.


    Diesen Umstand beklage ich auch, vor allem bei mir selbst.

    Hudebux


  • Diesen Umstand beklage ich auch, vor allem bei mir selbst.


    Bei der Gelegenheit:
    Zum Italienisch Üben besitze ich alle 24 Bände der Reihe "I dizionari dell'arte". Beispiel:
    "http://www.amazon.it/gp/product/images/8843581740/ref=dp_image_0?ie=UTF8&n=411663031&s=books']Simboli e allegorie[/url]

    Inzwischen gibt es diese Bücher auch auf Deutsch ("Bildlexikon der Kunst"). Beispiel:
    "http://www.amazon.de/gp/product/images/393632400X/ref=dp_image_0?ie=UTF8&n=299956&s=books']Symbole und Allegorien[/url]

    Inzwischen ist mir klar, wie blind ich früher durch die Museen gelaufen bin, trotz vollem Programm christlicher Sozialisation. Was aber logisch ist, schließlich geht's beim Glauben um andere Dinge. Wer die Gedankenwelt unserer Vorfahren verstehen will, muss sich direkt mit der jeweiligen Thematik befassen.


    Thomas

  • Zitat

    welche denn? Und warum und wie?

    z.B. in der Bachschen JP vermute ich, dass es durchaus Passagen/Momente gibt, in denen die Musik die Heilsbotschaft des Evangeliums in Frage stellt, sich => konträr zum Text verhält. Das reizt zu der Frage, ob z.B. Bachs geistliches Werk (z.B. die Kantaten) das in der kirchlichen Funktion z.B. für einen Gottesdienst eingebunden war/ist, sich in dieser Funktion erschöpft, oder nicht vielmehr auch ein Stück Autonomie außerhalb dieses Rahmes beansprucht. Aber das ist eine Frage, die in einem anderen Thread zu diskutieren wäre.

    Zitat

    Wo steht dass denn?

    hier:

    Zitat

    Das Weihnachtsoratorium würde sicher auch die heutigen Hörer im Konzert mehr beeindrucken, wenn man die Kantaten nicht hintereinander, sondern an den jeweils dafür vorgesehenen Festtagen aufführen würde (also die erste Kantate am ersten Weihnachtstag, die zweite Kantate am zweiten und so weiter).

    und hier:

    Zitat

    Die zu erwartende Zahl der Gottesdienstbesucher über alle Feiertage verteilt fällt einfach zu gering aus, daß der Aufwand einer
    Einstudierung und das "Anmieten" von Solisten und Orchestermusikern finanzierbar wären, denn Eintritt für einen Gottesdienst kann man wohl schlecht verlangen...

    Und hier:

    Zitat

    Fakt ist aber andererseits auch, dass sich diese Wirkung in einer Umgebung die dem ursprünglichen "Sitz im Alltag" dieser Musik zumindest nahe kommt, verstärkt. Man kann es drehen wie man will: der Aufführungsort des Weihnachtsoratoriums und der anderen geistlichen Kantaten ist halt nun mal die Kirche.

    Dazu folgende Überlegung etwas ausführlicher:
    Die Kirche ist – nach dem Selbstverständnis der Christen – kein normaler Konzertsaal bzw. kein Museum, sondern ein sakraler Bereich und z.B. Predigen haben Offenbarungsanspruch, der von der Gemeinde, also von den Besuchern üblicherweise geteilt wird. Wenn zusätzlich vorgeschlagen wird, die Kantaten des WOs an den vorgesehen Festtagen aufzuführen, wird Rezeption des WOs mit dem Kirchejahr (wie es ja auch die WO-Kantaten vorsehen) und dem damit verbunden Offenbarungsanspruch noch enger verknüpft.

    Was bedeutet es also nach diesen Zitaten für einen mit dem religiösen Kontext des WOs vertrauten Hörer, der einen Gottesdienst (mit vorgesehener WO-Kantate) besucht, dem aber weder das adventliche Ambiente, noch der christliche Sakralanspruch irgend etwas bedeutet, weil er z.B. das Sakrale nur in seiner eigenen Religion findet bzw. Agnostiker ist, also nur der WO-Kantate(n) wegen die Kirche bzw. den Gottesdienst besucht; dem es auch vorstellbar ist, sich das WO bzw. einzelne Kantaten daraus eben so gut im Konzertsaal reinzuziehen ?

    Er wäre nach dieser Auffassung nicht mehr beeindruckt , sondern weniger beeindruckt , weil die Musik damit eben auch den Charakter des Besonderen verliert und erheblich an Wirkung einbüßt.(Zitat) Das bedeutet nach der Argumentation der Zitate auch, dass besagter Hörer, der also nicht der Überzeugung ist, dass z.b. Jesus der Messias (Christus) ist und wiederkommt, dann nicht in dem Genuss der besonderen Wirkung der Musik des WO s gelangt und damit das WO weniger adäquat hört.

    Oder aber das adventliche Ambiente, die Platzierung der Kantaten an den vorgesehenen Festtagen hätten bloß dekorativen „ Charakter, um die Wirkung der Musik des WOs zu verstärken. Aber die Beschränkung aufs rein Dekorative ist vermutlich in den Beiträgen von Fugato bzw. BerlinBigBear bzw. in dem Sprachbild ursprünglicher Sitz des Alltags“ nicht intendiert (und widerspräche –nebenbei – auch dem Selbstverständnis von gläubigen Christen). Wenn es aber doch dekorativ gemeint ist, dann wäre dem entgegenzuhalten: Die große Wirkmächtigkeit, die aus einer musikalisch sinnvollen Wiedergabe der Kantaten des Bachschen WOs resultiert, benötigt keine Verstärkung durch bloß dekorativen Zusatz.

    Zitat

    Was nicht heißt, dass man diese Musik nur in der Kirche hören soll, oder das Hörer ohne christlichen Hintergrund keinen Zugang zu dieser Musik hätten.

    Ja, einverstanden.

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Das bedeutet nach der Argumentation der Zitate auch, dass besagter Hörer, der also nicht der Überzeugung ist, dass z.b. Jesus der Messias (Christus) ist und wiederkommt, dann nicht in dem Genuss der besonderen Wirkung der Musik des WO s gelangt und damit das WO weniger adäquat hört.

    Nicht weniger adäquat, sondern eher distanzierter und mit weniger innerer Beteiligung. Zweifellos erlebt ein Hörer, der die religiösen Inhalten nicht nur kennt, sondern auch teilt, das WO anders (nicht objektiv besser oder schlechter!) als ein Hörer, der sie kennt, aber nicht teilt (oder ein Hörer, der sie weder kennt noch teilt).

    Aber die Beschränkung aufs rein Dekorative ist vermutlich in den Beiträgen von Fugato bzw. BerlinBigBear bzw. in dem Sprachbild ursprünglicher Sitz des Alltags“ nicht intendiert

    Nein, sondern das genaue Gegenteil, nämlich die Musik vom rein Festlich-Dekorativen zu emanzipieren und ihr ihren ursprünglichen Platz ("Sitz im Leben") wiederzugeben. Im Gottesdienst in der Leipziger Thomas- und Nicolaikirche wurde zu Bachs Zeit normalerweise vor und nach der Predigt eine Kantate aufgeführt bzw. der erste Teil der Kantate vor, der zweite nach der Predigt. Im Winter wurde nur eine Kantate aufgeführt, um den Gottesdienst zu verkürzen, da die Kirchen nicht geheizt waren, also wäre der ursprüngliche Platz nach der Predigt - wobei der Kantatentext inhaltlich an den jeweiligen Predigttext anknüpft. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Kantaten so eine intensivere Wirkung auf den Hörer entfalten, als wenn sie konzertant en bloc aufgeführt werden.

    Viele Grüße,
    Fugato

  • Zitat

    Nicht weniger adäquat, sondern eher distanzierter und mit weniger innerer Beteiligung.

    Distanzierter mag sein, doch nicht automatisch mit geringerer innerer Beteiligung.

    Zitat

    Zweifellos erlebt ein Hörer, der die religiösen Inhalten nicht nur kennt, sondern auch teilt, das WO anders (nicht objektiv besser oder schlechter!)

    ja !

    Zitat

    Im Gottesdienst in der Leipziger Thomas- und Nicolaikirche wurde zu Bachs Zeit normalerweise vor und nach der Predigt eine Kantate aufgeführt bzw. der erste Teil der Kantate vor, der zweite nach der Predigt. Im Winter wurde nur eine Kantate aufgeführt, um den Gottesdienst zu verkürzen, da die Kirchen nicht geheizt waren, also wäre der ursprüngliche Platz nach der Predigt - wobei der Kantatentext inhaltlich an den jeweiligen Predigttext anknüpft. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Kantaten so eine intensivere Wirkung auf den Hörer entfalten, als wenn sie konzertant en bloc aufgeführt werden.

    Es ist auch folgende Hörerreaktion denkbar: Die Bachsche Musik der z.B. WO-Kantaten hat so immense Stärke und Kraft, dass ihre Autonomie (also dass sie eben nicht bloß der Liturgie dienstbar sein mag, ihre Funktion sich darin nicht erschöpft) die Predigten bzw. die religiösen Rituale bedeutungslos, nichtsagend werden lässt...

    Beim Editieren der Dezember-WO-Mitschnitte hat mich der Mitschnitt aus Hamburg (St. Michaelis) unter Schoener vom Dezember 2010 (wurde an 2 Tagen aufgeführt) bisher etwas enttäuscht.
    Dieser kommerzielle, aber recht billige Mitschnitt mit St. Michaelis unter Günther Jena ist wesentlich gelungener, da passionierter, deutlicher und engagierter musiziert.

    Meine Erwartungen an das DSO unter Beringer aus Berlin vom 18.12. mit dem Windsbacher Knabenchor (den ich sehr mag) waren auch zu hoch gesteckt.

    Sehr wahrscheinlich wird aber der gestrige BR-Klassik-Mitschnitt aus München vom 11. 12. 2010 (beide Teile) mit der Akademie für Alte Musik unter Peter Dijkstra bei mir Favoritenstatus erhalten. Was ich an Ausschnitten mir daraus reingezogen habe, fand ich bisher ganz ausgezeichnet. :juhu: :juhu: :juhu:

    Dass eine unbekannte Kreiskontorei aus Hannover-Letter, die sich überwiegend aus Laienmusikern rekrutiert und die vermutlich bestimmten Ansprüchen/Anforderungen in Capriccio nicht gerecht werden kann, die ersten drei WO-Kantaten dennoch in bewundernswürdiger Art und Weise sehr lebendig und engagiert wiedergeben kann, konnte ich am 10.12. 2010 live erfahren: Ein großes WO-Live-Erlebnis ! :juhu: :juhu: :juhu:

    Aber ich will – wenn’s irgendwie geht - mir bestimmte Bachwerke möglichst „antizyklisch“ reinziehen; d.h. das WO frühestens ein paar Wochen nach Jahreswechsel und die Passionen bzw. H-Moll-Messe Messe nicht während der Osterzeit.....

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

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