Interpretation und Instrumentalästhetik

  • Zweifel hege ich, ob Dynamik sich allein festmacht in "laut" und "leise", sondern in den Graden der Differenzierung.

    Deshalb schrieb ich ja auch: "das verfügbare Spektrum zwischen den leisesten und den lautesten Tönen". Verfügbar ist dieses Spektrum natürlich nur, wenn man es auch differenziert und kontrolliert abrufen kann.

    Natürlich ist grobdynamisch der Steinway einem Stein überlegen- in der Feindynamik bezweifle ich das.

    Er ist, wenn er gut intoniert und reguliert ist, auch feindynamisch überlegen. Das liegt weniger an den Filz- bzw. Leder-Hammerköpfen sondern an der enorm weiterentwickelten Anschlagsmechanik und Dämpfung.

    Ich empfinde beim Hören des von Dir angebrachten Beispiel des Brahms- Konzerts das "klangliche Wiederfinden" eher im "Aufnehmen des Klangs" im Gespräch zwischen Naturhorn und Clavier als Du im Ausgleich, das ausgeglichen "gleich stark" zu wünschen.

    Du hast mich entweder falsch verstanden oder ungenau gelesen: "Klangliche Gleichmäßigkeit" über die Register hinweg wünsche ich mir nicht als musikalisches Ergebnis sondern als instrumentale Voraussetzung, um dann gerade unterschiedlich gestalten zu können. Ein Flügel, bei dem die Diskant-Region "abbricht", würde hier ausgerechnet beim zitierten Hornruf und damit beim Ziel der musikalischen Phrase schwächeln. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass das im Sinne der Musik sei. Wenn Du hier das "Aufnehmen des Hornklangs" hören willst (was ich verstehe), braucht das Instrument gerade im Diskant eine entsprechende klangliche Länge. Ich behaupte dabei übrigens gar nicht, dass irgendein moderner Flügel "ideal" sei: Diskant-Töne sind bei jedem Flügel um ein Mehrfaches kürzer als Basstöne, was ich als ausgesprochen misslich empfinde, weil ja sehr oft die führende Stimme eher oben liegt und damit oft nur mit erheblichen "Ausgleichsmaßnahmen" überhaupt als solche hörbar gemacht werden kann. Ich hoffe deshalb sehr, dass der instrumententechnische Fortschritt nicht aufhört. Ich hätte auch gern eine bessere Möglichkeit, forte-piano-Anschläge zu kontrollieren, überhaupt Akzente mehr zu differenzieren, Töne in ihrem klanglichen Verlauf besser steuern zu können, sie auch ohne Pedal differenziert dämpfen zu können usw.. Was man da alles mit den Goldberg-Variationen machen könnte...

    Christian

  • Während mir z.B. bei Ausführungen zu Flöten und Oboen des 18. Jhds. in vieler Hinsicht einleuchtet, dass die Komponisten die "Ungleichmäßigkeiten" und den besonderen Klang von durch Gabelgriffe u.ä. erzeugten Tönen ausgenutzt haben, ist das "reife" Cembalo des 17. u. 18. Jhds. m.E. ein Instrument mit einem ziemlich gleichmäßigen Klang vom Bass bis zum Diskant; jedenfalls verglichen mit den meisten Hammerklavieren zwischen ca. 1750 und 1820. Ich habe daher gewisse Zweifel, dass Komponisten Ende des 18. Jhds. von den Ungleichmäßigkeiten der Hammerklaviere (die sich so auf Cembali nicht finden) begeistert waren und sie kompositorisch ausgenutzt haben. Es hatte sich hier eben noch kein Gleichgewicht eingestellt, sondern das kam bei Klavieren evtl. erst im mittleren Drittel des 19. Jhds. (wobei die Entwicklung dann auch nicht stehen geblieben ist). Die Musiker waren (größtenteils) angetan von den dynamischen Möglichkeiten und nahmen dafür die Mängel des Hammerklaviers gegenüber dem Cembalo in Kauf.


    ad Holzbläser: Ich bin mir nicht sicher, ob die Komponisten das "ausgenuzt" haben, oder ob das nicht einfach ein klangliches Charakteristikum der entsprechenden Musik ist. Wie auch immer: den Spielern wurde/wird auf historischen Holzblasinstrumenten mehr Kontrolle über die klangliche Realisierung abverlangt, als auf modernen.

    ad "reife Cembali" und ihrem "ziemlich gleichmäßigen Klang vom Bass bis zum Diskant": Das ist eine Frage der Intonation und der Regulierung (das gibt's auch auf Kielinstrumenten) und weniger eine der Tonerzeugung. Ich sehe da ehrlich gesagt keinen Unterschied zu den Hammerklavieren. Den gibt es eher zwischen Cembali und Spinetten/Virginalen bzw. zwischen Hammerflügeln und Tafelklavieren (und auch Klavichorden). Das hängt damit zusammen, daß bei Flügeln - egal wie dort die Tonerzeugung stattfindet - das Trägheitsmoment der Tasten unabhängig vom Ton ist (alle Hebel gleich lang), während beim Spinett/Virginal/Tafelklavier/Klavichord die Tasten in Abhängigkeit von der Tonhöhe (m.E.) unterschiedlich lang sind, was natürlich spieltechnische Konsequenzen mit sich bringt. So sind z.B. Töne auf "langen" Tasten wegen deren höheren Trägheitsmoment weniger schnell zu repetieren, als auf kurzen, auch wenn sie vom Anschlagsdruck durch Zusatzgewichte (erhöhen das Trägheitsmoment noch zusätzlich) oder durch angepassten Drehpunkt ausbalanziert sind.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Vielleicht verwechsele ich Klangfarbe und Dynamik. Mir geht es nur um das Endresulat; ich weiß nicht, ob das an der Mechanik oder woran es liegt.
    Aber ich habe selbst bei gut aufgenommen und ziemlich "gleichmäßig" klingenden historischen Hammerklavieren fast immer den Eindruck der "Unvollkommenheit" und Unausgeglichenheit, des leicht "klapprigen", "stolpernden". Beim Cembalo habe ich diesen Eindruck so gut wie nie. Die Töne verklingen hier eben *alle* ziemlich schnell, während beim Hammerflügel um 1800 der Diskant superklimprig ohne Tragfähigkeit ist, im Gegensatz zum mittleren Register.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • ad Holzbläser: Ich bin mir nicht sicher, ob die Komponisten das "ausgenuzt" haben, oder ob das nicht einfach ein klangliches Charakteristikum der entsprechenden Musik ist. Wie auch immer: den Spielern wurde/wird auf historischen Holzblasinstrumenten mehr Kontrolle über die klangliche Realisierung abverlangt, als auf modernen.

    Ganz sicher haben die Komponisten das klangliche Charakteristikum der jeweiligen Instrumente ausgenutzt. Es ist ja schon auffallend, daß Sonaten und Konzerte für bestimmte Instrumente (fast) immer ein sehr eingeschränktes Tonartenspektrum nutzen (immer so ca. 4-5 benachbarte Dur-Tonarten und entsprechende Paralleltonarten). "Ausflüge" in andere Tonarten bedingen klangliche Effekte, die dann natürlich im Sinne der barocken Affektenlehre eingesetzt werden. Das kann man z.B. sehr gut an den obligaten Bläserpartien im Bachschen Oratorien-Werk erkennen.

    Ich möchte auch nicht unkommentiert stehen lassen, daß den Spielern auf historischen Holzblasinstrumenten mehr Kontrolle über die klangliche Realisierung abverlangt. Eher umgekehrt wird ein Schuh daraus, auf historischen Instrumenten werden mehr Möglichkeiten zu Verfügung gestellt, immer vorausgesetzt natürlich, man hat sein Instrument im Griff. Während man auf modernen Blasinstrumenten bei barocken oder klassischen Sonaten oft nach Klangfarbenschattierungen suchen muß oder Abphrasierung (z.B. bei Vorhaltsbildungen) bewußt dynamisch und klangfarbentechnisch forcieren muß, ergeben sie sich bei historischen Blasinstrumenten in der Regel fast von selbst.


    Ich hoffe deshalb sehr, dass der instrumententechnische Fortschritt nicht aufhört. Ich hätte auch gern eine bessere Möglichkeit, forte-piano-Anschläge zu kontrollieren, überhaupt Akzente mehr zu differenzieren, Töne in ihrem klanglichen Verlauf besser steuern zu können, sie auch ohne Pedal differenziert dämpfen zu können usw.. Was man da alles mit den Goldberg-Variationen machen könnte...

    Es tut mir leid, bei mir verkrampft sich alles, wenn ich von einem instrumententechnischen Fortschritt lese. Ich sehe und höre eine Veränderung. Für mich ist es aber am ehesten noch mit dem Begriff "Evolution" zu fassen, denn in der Tat hat man sich mit dem angeblichen Fortschritt immer große Verluste eingehandelt. Die Erweiterung des Tonumfanges (bei Blasinstrumenten) und das Schaffen von "gleichmäßig" klingenden Registern (die gibt es am ehesten noch bei Flügeln) bedeutete einen erheblichen Verlust an Klangfarben und -charakteristika. Fortschritt würde für mich bedeuten, daß man mehr Möglichkeiten hinzugewonnen hat ohne Verlust bestehender Möglichkeiten. Das ist bei keinem einzigen Instrument der Fall, nicht einmal bei der Orgel (da könnte man es, genügend Kleingeld und Platz vorausgesetzt, realisieren). So hat sich eben jede Zeit ihr Instrumentarium geschaffen und die Komponisten die passende Musik dazu.

    Die von Dir ersehnten Möglichkeiten am Klavier wären sicher ganz schön. Allerdings habe ich einen anderen interpretatorischen Ansatz. Ich gehe immer von den Möglichkeiten des Instrumentes aus und versuche diese in den Dienst der jeweiligen Musik zu stellen. Natürlich bedeutet das für mich, Instrumente aus der Zeit der Entstehung der jeweiligen Komposition zu verwenden, da ich ja schließlich weiß, daß der Komponist diesen Klang bei seiner Komposition im Ohr hatte, um die Möglichkeiten dieses Instrumentes wußte. Alles, was ich zu einer guten Realisierung der Komposition benötige, steckt also in diesem Instrument.
    Daß man die Goldbergvariationen auch auf einem modernen Flügel spielen kann - natürlich! Für mich ist das aber schon eine nicht unerhebliche Bearbeitung. Freilich eine Bearbeitung, die ich mit Genuß hören kann (auch wenn er bei mir niemals so groß war und vermutlich auch je sein wird wie auf einem entsprechenden Cembalo). Das ist etwas, was ich für mich inzwischen auch für Mozart-Sonaten konstatieren kann, eben weil ich den modernen Flügel als klanglich asketisch, als zu wenig charakteristisch gegenüber dem "unausgeglichenen" zeitgenössischen Instrument empfinde.

    3 Mal editiert, zuletzt von Bigaglia (26. Dezember 2015 um 10:41)

  • Genau. Ein historisch korrekt piepsendes Blockflöten-Trio offenbart den musikalischen Gehalt der Goldberg-Variationen ganz sicher viel besser.


    Historisch korrekt würden die Blockflöten niemals piepsen!
    Aber ganz im Ernst: die Bearbeitung für Blockflöten, so sie die Noten des Bachschen Originales, wiederzugeben vermag, wäre ganuso berechtigt, wie die Bearbeitung auf modernem Flügel. Denn letztendlich geschieht ja nichts anderes: die Musik wird mit anderen Klängen und Möglichkeiten als vom Komponisten gedacht gespielt!

  • Historisch korrekt würden die Blockflöten niemals piepsen!
    Aber ganz im Ernst: die Bearbeitung für Blockflöten, so sie die Noten des Bachschen Originales, wiederzugeben vermag, wäre ganuso berechtigt, wie die Bearbeitung auf modernem Flügel. Denn letztendlich geschieht ja nichts anderes: die Musik wird mit anderen Klängen und Möglichkeiten als vom Komponisten gedacht gespielt!

    Die Vorstellung, ein Komponist hätte genau eine klangliche Möglichkeit zur Wiedergabe bei der Komposition im Ohr gehabt, fände ich naiv.

    So hast Du das auch nicht so gesagt - darum der Konjunktiv oben, um möglichen Verteidigungsreflexen vorzubeugen.

    Vielleicht gilt das mit der eindeutigen klanglichen Realisierung nicht immer in dieser Schärfe.

    Man sagt gerne: "Bach hat Werk X für das Instrument Y komponiert".

    Mag sein, dass es für manche Werke genau in dieser Schärfe gilt, z. B. für den Dritten Teil der Klavierübung. Das Präludium Es-Dur für Streicher oder Bläser oder Pedalcembalo? Hm.

    Mag aber auch sein, dass für manche Werke etwas anderes gilt: "Bach hat Musik X komponiert, die auf dem Instrument Y ausführbar ist". Das verschiebt den Blick weg von dem einzelnen Aspekt "Klang" hin auf das Ganze. Musik ist ja auch Struktur. Nicht nur ein rein klangsinnliches Erlebnis, sondern auch eines für den Intellekt. Der Intellekt ist sehr wohl der Abstraktion fähig, auch der Abstraktion von einer klanglichen Realisierung.

    Bach hat ein Präludium in E-Dur komponiert, das man auf einer unbegleiteten Violine vortragen kann (in BWV 1006). Was ihn nicht davon abhielt, es auch (für sich) auf dem Clavichord zu spielen (so Berichte aus Bachs Umfeld) oder es gar der Orgel anzuvertrauen und von einem für Bachs Verhältnisse großen Ensemble begleiten zu lassen; Streicher, Oboen, drei Trompeten und Pauken (Nr. 1 aus Kantate Nr. 29).

    Wäre es da nicht richtiger, zu sagen, Bach hat das Präludium E-Dur zwar so komponiert, dass man es mit einer Geige alleine spielen kann (wenn man kann), aber der strukturelle Reichtum der Musik ließ (für ihn) auch völlig andere klangliche Realisierungen zu. Im Klartext: Volles Orchester gegen die Intimität einer unbegleiteten Violine.

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • aber der strukturelle Reichtum der Musik ließ (für ihn) auch völlig andere klangliche Realisierungen zu.

    Diese Beobachtung wurde in diesem Forum aber schon mehrfach durchgekaut, andererseits schadet es natürlich nicht, richtige Erkenntnisse immer und immer wieder zu verbreiten. :hammer1:
    Frohe Grüße

  • Wäre es da nicht richtiger, zu sagen, Bach hat das Präludium E-Dur zwar so komponiert, dass man es mit einer Geige alleine spielen kann (wenn man kann), aber der strukturelle Reichtum der Musik ließ (für ihn) auch völlig andere klangliche Realisierungen zu. Im Klartext: Volles Orchester gegen die Intimität einer unbegleiteten Violine.

    Ja und Nein!

    Melodie, Aufbau und Harmonik sind natürlich Aspekte einer Komposition, die über eine konkrete klangliche Realisierung hinausweisen. Dennoch hat Bach, um jetzt der Einfachheit halber bei ihm zu bleiben, seine Komposition meines Wissens auch immer bearbeitet, wenn er sie einem anderem Instrument, zumindest einer anderen Art der Klangerzeugung zugewiesen hat. Wie er das E-Dur-Praeludium auf dem Clavichord gespielt hat, wissen wir nicht, vermutlich hat er aber auch da Töne ergänzt. Und der Unterschied zwischen dem Praeludium für Violine solo und der Sinfonia für konzertierende Orgel und Orchester ist ja ohrenfällig. Ich würde da auch nicht mehr von der gleichen Komposition sondern von zwei Komposition auf dem gleichen thematischen Material beruhend sprechen.

    Näher beieinander liegen vielleicht da das 4. Brandenburgische Konzert und das Cembalokonzert F-Dur, das ja eine Bearbeitung des 4. BrKo ist. Aber auch hier fanden Veränderungen statt (G-Dur -> F-Dur, der Violinpart wurde nicht eins zu eins in Cembalo übertragen, Änderungen im Instrumentarium "Flauti d'echi" etc.) Ich denke, daß der Komponist schon eine genaue klangliche Vorstellung von seinem Werk hatte, wenn er es einer Besetzung zu schrieb.

    Etwas anders könnte die Sachlage sein, wenn bestimmte Sonatensammlungen mit relativ offenen Instrumentiertungsbezeichnungen veröffentlicht wurden. Da könnte oft aber auch der Verkaufswunsch des Verlegers Pate gestanden haben. Originäre Violinsonaten loten den Tonumfang des Instrumentes anders aus, als Werke, die als Flötensonaten gedacht sind und aus Verkaufsgründen auch der Violine zugewiesen wurden.

  • Wäre es da nicht richtiger, zu sagen, Bach hat das Präludium E-Dur zwar so komponiert, dass man es mit einer Geige alleine spielen kann (wenn man kann), aber der strukturelle Reichtum der Musik ließ (für ihn) auch völlig andere klangliche Realisierungen zu. Im Klartext: Volles Orchester gegen die Intimität einer unbegleiteten Violine.

    Der Unterschied zu nachträglichen Bearbeitungen fremder Hand ist eben der, dass Bach hier ein neues Werk geschaffen hat. Die Verwendung bereits komponierter Werke ist ja nicht nur bei Bach sondern auch insgesamt in dem musikalischen Schaffen, und insbesondere im Barock, eine gängige Praxis. So steckt die h-Moll Messe ja voller Parodien. Daher handelt es sich bei der Sinfonia zur Kantate BWV29 nicht um eine Bearbeitung sondern eine Neuschöpfung. Die Versionen von Saint-Saens oder Rachmaninov sind Bearbeitungen, und nutzen mit dem Klavier auch ein Instrument welches für dieses Werk vollkommen neu ist.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Natürlich war die Instrumentenwahl im 18. Jahrhundert viel offener als in heutiger E-Musik. Aber die Offenheit beschränkt sich zunächst auf die Instrumente, die aus dieser Zeit stammen, nicht, weil es keine anderen gab, sondern weil sie aufgrund ihres gemeinsamen historischen Ortes ästhetische Verwandtschaft besitzen und nicht von ungefähr so gut zusammen harmonieren (Anders, als z. B. eine Barockoboe mit einer "modernen" Geige").

    Ich habe mittlerweile ein Cembalo und ein Klavier zuhause und spiele beides – momentan mehr Cembalo, was aber am derzeitigen Repertoireschwerpunkt liegt. Unbestritten, dass das Klavier in vieler Hinsicht wesentliche Möglichkeiten hinzugewonnen hat, die Christian ja z. T. auch bereits erwähnt hat. Doch gerade weil diese Möglichkeiten so wesentlich sind (z. B. dynamisch), glaube ich mittlerweile besonders intensiv zu erleben, dass die jeweilige Musik mit diesen Möglichkeiten gar nicht gerechnet hat, also gar nicht dafür komponiert ist. Die Möglichkeiten, die allerdings verloren gegangen sind – auch, wenn es kein Nullsummenspiel ist und es rein quantitativ viel weniger sein mögen –, sind unglaublich wichtig, denn gerade wenn es nicht viele sind, muss man damit rechnen, dass der Komponist sie besonders intensiv und differenziert einkalkuliert hat.
    Wenn ich etwa eine Württembergische Sonate von C. P. E. Bach am Cembalo spiele, bin ich jedes Mal verblüfft, wie jede einzelne Phrase durch ihre originelle Setzweise wieder einen ganz individuellen Sound produziert und so kongenial auf das Instrument abgestimmt ist. So manche spätere Sonate aus den Kenner- und Liebhaber-Sonaten lege ich hingegen gar nicht erst auf, weil ich schon beim Anblick des Notenbildes erkenne, dass sie auf dem Cembalo unbefriedigend klingen wird.

    Deutlicheres Beispiel: Wenn ich eine Toccata von Frescobaldi oder eine Lamentation von Froberger spiele, brauche ich kein Crescendo über zwei Takte mit einem anschließenden Diminuendo über zwei Takte zurück zu machen. Die Musik ist nicht in solchen Kategorien gedacht und ich glaube, kaum jemand würde einen solchen Effekt als Gewinn empfinden.
    Hingegen die reine Terz eines C-Dur- oder D-Dur-Dreiklangs möchte ich nicht für eine gleichstufige opfern, ebensowenig die unterschiedlich großen diatonischen und chromatischen Halbtöne eines "harten Ganges" (passus duriusculus) – beides würde die Farbskala, mit welcher der Komponist komponiert hat, um ein Wesentliches reduzieren.

    Ob jetzt die Verfügbarkeit von mehr Tonarten ein Hinzugewinn von Farbe ist gegenüber dem Verlust etwa unterschiedlich großer Halbtöne, lässt sich nicht quantitativ bemessen. Für eine Musik, die entfernte Tonarten sowieso nicht benutzt oder mit besonderem Effekt für entrückte Passagen einsetzt, ist sicherlich letzteres wichtiger.

    Jedenfalls: Ich möchte den Steinway nicht vermissen, und wenn er nicht abgespielt ist (geschieht nach meinem Empfinden bei Steinways besonders schnell) und gut gespielt wird, kann er einen Klang von für mein Empfinden göttlich anmutender Eleganz erzeugen. Aber ich möchte daran Musik hören und spielen, die all seine Vorteile auch miteinbezieht – wenn ich eine Württembergische Sonate daran spiele, stellt sich dieses Empfinden bei mir nicht ein, deshalb hat mir die Musik früher auch nie gefallen. Eine Beethoven Sonate unmittelbar gegenübergestellt klang für mich "fortschrittlicher", dabei ist nur die Diskrepanz zum Instrument gesunken.

    P.S.: Was sagt das jetzt über Bach? Ist es nicht erstaunlich, dass Bach seit bald 200 Jahren Menschen auf allen möglichen Instrumenten begeistern kann, was bei wohl keinem anderen Barockkomponisten in vergleichbarer Weise der Fall ist? Für mich klingt Bachs berühmte Chaconne, gespielt von Rubinstein in der Fassung von Busoni auf einem modernen Flügel überwältigend, selbst die Orchesterfassung von Stokowski kann ich mit Genuss hören – wüsste ich nicht, sie ist von Bach, würde ich sie vielleicht einfach für ein großartiges spätromantisches Orchesterwerk halten.
    Vielleicht sagt das aber mehr über die Verwandtschaft des spätromantischen Satzes zum Bach'schen als über die Wahl des Instruments?

  • Deutlicheres Beispiel: Wenn ich eine Toccata von Frescobaldi oder eine Lamentation von Froberger spiele, brauche ich kein Crescendo über zwei Takte mit einem anschließenden Diminuendo über zwei Takte zurück zu machen. Die Musik ist nicht in solchen Kategorien gedacht und ich glaube, kaum jemand würde einen solchen Effekt als Gewinn empfinden.
    Hingegen die reine Terz eines C-Dur- oder D-Dur-Dreiklangs möchte ich nicht für eine gleichstufige opfern, ebensowenig die unterschiedlich großen diatonischen und chromatischen Halbtöne eines "harten Ganges" (passus duriusculus) – beides würde die Farbskala, mit welcher der Komponist komponiert hat, um ein Wesentliches reduzieren.

    Ob jetzt die Verfügbarkeit von mehr Tonarten ein Hinzugewinn von Farbe ist gegenüber dem Verlust etwa unterschiedlich großer Halbtöne, lässt sich nicht quantitativ bemessen. Für eine Musik, die entfernte Tonarten sowieso nicht benutzt oder mit besonderem Effekt für entrückte Passagen einsetzt, ist sicherlich letzteres wichtiger.

    Genau das trifft die Problematik in ihrem Kern! Deswegen ist für meine Aufassung immer das Instrumentarium der Entstehungszeit, natürlich verbunden mit einer entsprechenden Temperatur, die bessere Wahl. Sie kann jedenfalls mehr Details offenbaren als ein "falsches" Instrument, das aufgrund fehlender Möglichkeiten gar nicht die Chance dazu hat!

  • Dennoch hat Bach, um jetzt der Einfachheit halber bei ihm zu bleiben, seine Komposition meines Wissens auch immer bearbeitet, wenn er sie einem anderem Instrument, zumindest einer anderen Art der Klangerzeugung zugewiesen hat.

    Da würde ich begrifflich noch weiter gehen: Bereits die Erstfassung ist eine mögliche Bearbeitung des zugrunde liegenden Materials.

    Wie er das E-Dur-Praeludium auf dem Clavichord gespielt hat, wissen wir nicht, vermutlich hat er aber auch da Töne ergänzt.

    Ja, genau so ist es belegt.

    der Unterschied zwischen dem Praeludium für Violine solo und der Sinfonia für konzertierende Orgel und Orchester ist ja ohrenfällig. Ich würde da auch nicht mehr von der gleichen Komposition sondern von zwei Komposition auf dem gleichen thematischen Material beruhend sprechen.

    Siehe oben. - Der Verlauf der Komposition ist genau derselbe, dieselbe Anzahl von Takten, dieselben Modulationen. Gedankenexperiment als Gegenbeweis: Wäre die BWV-29-Fassung nicht von Johann Sebastian, sondern von C. Ph. E., so würde wohl niemand von einer neuen Komposition sprechen, oder?

    Daher handelt es sich bei der Sinfonia zur Kantate BWV29 nicht um eine Bearbeitung sondern eine Neuschöpfung.

    Wäre die BWV-29-Fassung nicht von Johann Sebastian, sondern von C. Ph. E., so würde wohl niemand von einer neuen Komposition sprechen, oder?

    Das Thema "Präludium aus BWV 1006" zeigt ganz gut die Problematik beim Abgrenzen von Komposition und Bearbeitung.

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ...
    Das ihn hingegen "Welten" von Gould trennen, könnte man nur annehmen wenn man die Eigenwilligkeiten des Letzteren als Maßstab nimmt.
    ...

    Da hab ich mich vermutlich missverständlich ausgedrückt: Ich finde, dass zwischen den beiden Gould'schen Aufnahmen Welten liegen.

    Jein (Fettes Brot, 1996)

  • Siehe oben. - Der Verlauf der Komposition ist genau derselbe, dieselbe Anzahl von Takten, dieselben Modulationen. Gedankenexperiment als Gegenbeweis: Wäre die BWV-29-Fassung nicht von Johann Sebastian, sondern von C. Ph. E., so würde wohl niemand von einer neuen Komposition sprechen, oder?

    Der strukturelle Rahmen einer Komposition, also Melodie, formaler Aufbau und Harmonik, sind aber nicht die alleinigen Kriterien, wenn es gilt, die Frage Bearbeitung oder eigenständige Komposition zu klären.

    Ich denke wir haben es hier durchaus mit zwei kompositorischen Ideen zu tun:
    Im Falle des Prelude der Violinsonate BWV 1006 haben wir es mit einer stilisierten, in jedem Fall ausnotierten Improvisation zu tun. Also einem Prelude wie es etwa in Hotteterres "L'art de préluder" beschrieben wird. Es dient dem Musiker dazu sich auf dem Instrument einzuspielen, die Finger warm zu machen und sich in Affekt und Tonart einzufinden. Nur um Einwänden vorzubeugen: ich habe oben bereits stilisiert geschrieben, es handelt sich mit Sicherheit um eine ausführliches und kompliziertes Einspielen!
    Das ist ein Element, das der Sinfonia BWV 29 abgeht, die gleiche melodische und harmonische Ausgestaltung wird hier als Konzertsatz präsentiert. Freilich sind die Ritornelle rudimentär und thematisch nicht gebunden. Und dennoch kann man ganz gut zwischen Tutti-Abschnitten und Solo-Abschnitten, in denen das Orchester reine Begleitfunktion übernimmt unterscheiden. Hier wirken die Figurationen der Orgel wie virtuoses Akkordspiel im Sinne eines italienischen Concerto.

    Angesichts dieses Veränderung eines wesentlichen zugrunde liegenden sinnstiftenden Elementes fällt es mir im Falle von BWV 29 sehr schwer von einer Bearbeitung des BWV 1006 zu sprechen. Ich sehe da tatsächlich zwei unterschiedliche Kompositionen. Da spielt auch keine Rolle, wer dieses Komposition erstellt hätte. Selbst im Falle Carl Philipp Emanuels würde sich meine Meinung nicht ändern.
    Ich möchte noch einmal betonen, daß für mich nicht entscheidend ist, daß Bach irgendwelche Stimmen hinzukomponiert hat, sondern daß sich die sinnstiftende Idee des Stückes geändert hat. Um vielleicht eine anderes Werk vergleichend hinzuzuziehen: Mozart hat für mich Händel Messias tatsächlich bearbeitet, arrangiert, da er zwar Stimmen (für die Bläser) hinzukomponiert hat, aber nicht die sinnstiftende Idee verändert hat.
    Natürlich ist die Fassung für Tasteninstrument, die ich heute morgen nicht vor Ohren hatte, inzwischen aber vergleichend nachgehört habe, im Gegensatz zur Sinfonia aus BWV 29 eine Bearbeitung und keine eigenständige Komposition.

  • Der strukturelle Rahmen einer Komposition, also Melodie, formaler Aufbau und Harmonik, sind aber nicht die alleinigen Kriterien, wenn es gilt, die Frage Bearbeitung oder eigenständige Komposition zu klären.

    Hat auch niemand behauptet, oder? Aber was sind Deine Kriterien, um "Bearbeitung" von "Neukomposition" abzugrenzen?

    Im Falle des Prelude der Violinsonate BWV 1006 haben wir es mit einer stilisierten, in jedem Fall ausnotierten Improvisation zu tun.

    Das ist zunächst mal eine Behauptung. M. E. haben wir es bei BWV 1006 Nr. 1 mit einer geordneten Form zu tun. Erst eher statische Harmonik am Anfang - ca. 32 Takte auskomponiertes E-Dur, dann Quintfallharmonik, die in einen 23 Takte langem Abschnitt in der Subdominante A-Dur mündet, dann eher üblich kadenzierende Harmonik ... Was ist das Argument dagegen, dass der harmonische Verlauf "im Großen" geplant ist?

    Das ist ein Element, das der Sinfonia BWV 29 abgeht, die gleiche melodische und harmonische Ausgestaltung wird hier als Konzertsatz präsentiert.

    Moment - aber die Solostimme spielt genau dasselbe wie in BWV 1006. Wieso ist das jetzt weniger improvisiert als das andere? Ich meine: Beides ist notierte Musik. Selbst wenn es irgendwann mal aus einer Improvisation hervorgegangen sein sollte (wie z. B. das Ricercar à 3 aus dem MO; für wie viele Bachsche Werke für Tasteninstrument mag das noch gelten?), ist es jetzt eben keine mehr.

    Angesichts dieses Veränderung eines wesentlichen zugrunde liegenden sinnstiftenden Elementes fällt es mir im Falle von BWV 29 sehr schwer von einer Bearbeitung des BWV 1006 zu sprechen.

    Was genau war jetzt das sinnstiftende Element in BWV 1006 Nr. 1 und was ist es in BWV 29 Nr. 1? Gibt es überhaupt jeweils nur eine sinnstiftende Idee?

    Es wäre in jedem Falle hilfreich, wenn die nun retrograd aufzubauende Argumentation angesichts einer zweiten Bearbeitung standhielte: Die Fuge aus der g-Moll-Sonate hat Bach für Orgel bearbeitet (in d-Moll). Auch hier sind Stimmen hinzu gekommen.

    Hier nochmal meine These: Obwohl der klangliche Rahmen von BWV 1006 Nr. 1 in BWV 29 Nr. 1 signifikant verändert ist, sind die in BWV 29 Nr. 1 komponierten Elemente als Möglichkeit bereits in BWV 1006 Nr. 1 enthalten, so dass der Aspekt der Bearbeitung m. E. deutlich gegenüber dem Aspekt der Komposition überwiegt. "Bearbeitung" würde ich auch eher auf der handwerklichen Ebene sehen, "Komposition" eher auf der künstlerischen. (Naklar gibt es Schnittmengen.) M. a. W.: BWV 29 Nr. 1 hätte auch von einem Schüler Bachs angefertigt worden sein können.

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hat auch niemand behauptet, oder? Aber was sind Deine Kriterien, um "Bearbeitung" von "Neukomposition" abzugrenzen?

    Ich denke, beim Lesen meines Posts 251 wird klar, was für mich das entscheidende Kriterium ist, nicht von eine Bearbeitung sondern von einer Komposition zu sprechen! Zur Klarstellung noch einmal meine These: beiden Sätzen liegt eine unterschiedliche kompositorische Idee zu Grunde.


    Das ist zunächst mal eine Behauptung. M. E. haben wir es bei BWV 1006 Nr. 1 mit einer geordneten Form zu tun. Erst eher statische Harmonik am Anfang - ca. 32 Takte auskomponiertes E-Dur, dann Quintfallharmonik, die in einen 23 Takte langem Abschnitt in der Subdominante A-Dur mündet, dann eher üblich kadenzierende Harmonik ... Was ist das Argument dagegen, dass der harmonische Verlauf "im Großen" geplant ist?

    Ich sehe nicht, warum eine Planung eines harmonischen Verlaufes einer improvisatorischen Idee eines Stückes widersprechen sollte. Vielen barocken Improvisationen liegt ein harmonisches Gerüst zu Grunde, etwa die berühmten Grounds wie Bergamasca. Auch La Follia wäre ein entsprechendes Baßmodell. Oder Improvisationen im 20 Jahrhundert: bei vielen Jazz-Impros wird ein Harmonieverlauf festgelegt, über dem sich dann der oder die Solisten entfalten und entwickeln.
    Der ganze Satz ist ja letztendlich fast ausschließlich im stile brisé oder stile luthé gehalten, auskomponierte motivische Arbeit fehlt völlig. Letztendlich wäre der Satz beinahe durch Notation von Akkorden, wie wir es aus französischer Lauten- oder Cembalomusik kennen, zu erfassen. Dadurch spreche ich dem Satz stark improvisatorischen Charakter zu.


    Moment - aber die Solostimme spielt genau dasselbe wie in BWV 1006. Wieso ist das jetzt weniger improvisiert als das andere? Ich meine: Beides ist notierte Musik. Selbst wenn es irgendwann mal aus einer Improvisation hervorgegangen sein sollte (wie z. B. das Ricercar à 3 aus dem MO; für wie viele Bachsche Werke für Tasteninstrument mag das noch gelten?), ist es jetzt eben keine mehr.

    Ja, aber in BWV 29 ist sie in ein festes Begleitkonzept eingebunden. Der Satz hat nun eine kompositorische Anlage, die sich formal in Tutti- und Soloabschnitten spiegelt. Dadurch erhält der Satz ein starreres Konzept, quasi ein Korsett, in das die Solostimme hinein gelegt wird. Die Solostimme ist unverändert, nur der Rahmen hat sich komplett verändert. Die Solostimme bewegt sich nicht mehr im freien Raum, sie bewegt sich in einem festen Rahmen, in einem Gefüge. Zudem gliedert dieser Rahmen die Solostimme, er hat eine formale Funktion (Solo/ Tutti-Abschnitte) und ist nicht nur reine Begleitung. Dadurch wirkt der Satz weniger improvisiert, eben weil ihm der improvisatorische Raum genommen wird. Die Solostimme muß sich in BWV 29 im metrischen Rahmen der übrigen Stimmen bewegen, das muß sie in BWV 1006 nicht.


    Was genau war jetzt das sinnstiftende Element in BWV 1006 Nr. 1 und was ist es in BWV 29 Nr. 1? Gibt es überhaupt jeweils nur eine sinnstiftende Idee?

    Meine These lautet:
    BWV 1006/1 ist eine notierte, stilisierte aber doch eben eine Improvisation im stile brisé/ stile luthé
    BWV 29/1 ist ein Konzertsatz im italienischen Stil mit Solo- und Tuttiabschnitten. Die Figurationen sind in Dreiklangsbrechungen gehalten.
    kompositorische Idee von 1006/1 ist Improvisation, kompositorische Idee von BWV 29/1 ist konzertierende Ausgestaltung, virtuose Figuration
    Die gleiche Stimme übernimmt in beiden Sätzen eine unterschiedliche Funktion.


    Auch hier sind Stimmen hinzu gekommen.

    Es ist völlig unerheblich, ob Stimmen dazu kommen oder nicht. Es wäre ja auch denkbar, zu BWV 1006/1 einen Basso continuo zu schreiben, der gleichwohl eine Rahmen bildet, der Solostimme aber die improvisatorische Freiheit läßt, also ihre Funktion nicht umdeutet. Etwas in dieser Richtung geschieht ja in der Fassung von BWV 1006/1 für Tasteninstrument, in denen die Baßtöne, die während der Akkordbrechung liegen bleiben, quasi die Funktion eines Basso continuo übernehmen. So etwas geschieht im Barock häufiger, so sind etwa Boismoirtiers suiten op.35 mit oder ohne Baß aufführbar, ohne daß die Solostimme in den eröffnenden Prelude in ihrem improvisatorischen Praeludieren durch den Baß gehindert oder eingeschränkt würde.


    Hier nochmal meine These: Obwohl der klangliche Rahmen von BWV 1006 Nr. 1 in BWV 29 Nr. 1 signifikant verändert ist, sind die in BWV 29 Nr. 1 komponierten Elemente als Möglichkeit bereits in BWV 1006 Nr. 1 enthalten, so dass der Aspekt der Bearbeitung m. E. deutlich gegenüber dem Aspekt der Komposition überwiegt. "Bearbeitung" würde ich auch eher auf der handwerklichen Ebene sehen, "Komposition" eher auf der künstlerischen. (Naklar gibt es Schnittmengen.) M. a. W.: BWV 29 Nr. 1 hätte auch von einem Schüler Bachs angefertigt worden sein können.

    Dann möchte ich Deine Argumentation zuspitzen: auch BWV 1006/1 hätte von einem Schüler Bachs angefertigt worden sein können.
    Ob allerdings ein Schüler Bachs auf die Idee gekommen wäre, aus einem solchen Prelude einen konzertierenden Satz zu machen, also diese Neubelichtung der gleichen Stimme vorzunehmen, wage ich sehr zu bezweifeln.
    In meiner Beurteilung von BWV 29/1 als Komposition und nicht als Bearbeitung spielt die veränderte klangliche Gestalt keine Rolle. Für mich spielt lediglich die kompositorische Faktur des Satzes und die veränderte Rolle der "Solostimme" eine Rolle. Ich würde auch nicht konstatieren wollen, das alle in BWV 29/1 komponierten Elemente in BWV 1006/1 bereits enthalten sind. Der durch Tonrepetitionen figurierte Orgelpunkt mit seiner eine starre metrische Form vorgebenden Qualität taucht in BWV 1006 nicht auf und ist auch kompositorisch nicht angelegt. Gerade dieses Element nimmt aber in BWV 29/1 einen wichtigen Raum ein.

    Es gibt im Kantatenwerk Bachs einige Sätze, an denen sich die Frage Bearbeitung oder Komposition auf Basis bestehenden Materials diskutieren läßt. Wenn wir im Weihnachtlichen Festkreis bleiben wollen, fällt einem natürlich gleich der Eröffnungschor von BWV 110 ein.

    2 Mal editiert, zuletzt von Bigaglia (27. Dezember 2015 um 01:25)

  • We agree to disagree ... :cincinsekt:

    Ich sehe nicht, warum eine Planung eines harmonischen Verlaufes einer improvisatorischen Idee eines Stückes widersprechen sollte. Vielen barocken Improvisationen liegt ein harmonisches Gerüst zu Grunde, etwa die berühmten Grounds wie Bergamasca. Auch La Follia wäre ein entsprechendes Baßmodell. Oder Improvisationen im 20 Jahrhundert: bei vielen Jazz-Impros wird ein Harmonieverlauf festgelegt, über dem sich dann der oder die Solisten entfalten und entwickeln.

    Es ist richtig, dass es zu verschiedenen Zeiten Improvisationsmodelle mit vorgegebenem Bassmodell bzw. harmonischen Gerüst gab. Diese Modelle hatten und haben aber zwei Eigenschaften: (1) sie sind eher kurz: 4/8/12/16 Takte; (2) sie werden mehrmals wiederholt. - Beides liegt in BWV 1006/1 nicht vor. Insofern ist der Satz "Ich sehe nicht, warum eine Planung eines harmonischen Verlaufes einer improvisatorischen Idee eines Stückes widersprechen sollte." im Zusammenhang von BWV 1006/1 IMHO wenig hilfreich, da er nicht den geplanten harmonischen Verlauf unter der Hypothese "Improvisation" erläutern hilft. Die Hypothese "Improvisation" wird für BWV 1006/1 nicht dadurch plausibler, dass es Werke gibt, denen achttaktige harmonische Muster zugrunde liegen, über die auch improvisiert werden konnte.

    Der ganze Satz ist ja letztendlich fast ausschließlich im stile brisé oder stile luthé gehalten

    Hast Du mal style-brisé-Stücke von Pachelbel gesehen? In den Choralpartiten für Orgel oder im Hexachordum apollinis? Die haben m. E. durchaus eine andere Faktur (siehe nächster Absatz). Bei der Einleitung von BWV 944, bei BWV 999 und natürlich beim Präludium aus BWV 846 würde ich viel eher vom style brisé sprechen als bei BWV 1006/1. Zumal eine Violine auch eher ein ungewöhnliches Instrument für diesen Stil ist.

    Das wichtigste Argument ist aber der Reichtum der Bewegungsmuster in BWV 1006/1. Im style luthé herrscht meist ein, höchstens zwei Bewegungsmuster vor, paradigmatisch im Präludium von BWV 846. In BWV 1006/1 haben wir in den ersten acht Takten alleine schon vier verschiedene Muster: (1) auskomponierter Mordent mit abwärts gerichteter Akkordbrechung (Takt 1+2); (2) Auf- und absteigendes Tetrachord interpoliert mit Diskantpedal (Takt 3 und 5); (3) absteigende Tonleitern (Takt 4 und 6); (4) aufsteigende Tonleitern (Takt 7 und 8). Zumal Tonleiterfiguren für den style brisé in dieser Häufigkeit mehr als untypisch sind.

    Ja, aber in BWV 29 ist sie in ein festes Begleitkonzept eingebunden. Der Satz hat nun eine kompositorische Anlage, die sich formal in Tutti- und Soloabschnitten spiegelt.

    Kannst Du mal ein paar Solo- und Tuttiabschnitte explizit benennen? In italienischen Konzerten sind die ja eher lang. Also 2, 3 oder 4 Takte würden m. E. noch keinen Abschnitt konstituieren.

    Die Solostimme muß sich in BWV 29 im metrischen Rahmen der übrigen Stimmen bewegen, das muß sie in BWV 1006 nicht.

    Oder umgekehrt: Man könnte aus der Bearbeitung BWV 29/1 schließen, dass Bach sein Preludio BWV 1006/1 eher metrisch fest gespielt dachte. ;) (Beweise das Gegenteil ...)

    Meine These lautet:
    BWV 1006/1 ist eine notierte, stilisierte aber doch eben eine Improvisation im stile brisé/ stile luthé
    BWV 29/1 ist ein Konzertsatz im italienischen Stil mit Solo- und Tuttiabschnitten.

    Siehe oben - m. E. trifft weder style luthé/brisé auf BWV 1006/1 zu noch "Konzertsatz mit Solo- und Tuttiabschnitten" auf BWV 29/1. Wo sind die Zwischensätze in abweichender Tonart, die fürs italienische Konzert typisch sind? Wo sind die Hauptsätze in verschiedenen Tonarten?

    Damit Deine These überhaupt eine Aussage enthält, müsstest Du klare Definitionen für "Improvisation im style brisé/luthé" und für "Konzertsatz im italienischen Stil" angeben.

    Im Übrigen hatte ich Deine These so verstanden, dass beiden Sätzen eine unterschiedliche kompositorische Idee zugrunde liegt.

    Der durch Tonrepetitionen figurierte Orgelpunkt mit seiner eine starre metrische Form vorgebenden Qualität taucht in BWV 1006 nicht auf und ist auch kompositorisch nicht angelegt.

    Ich meine, man könne nicht einerseits das Vorliegen des "Style brisé" behaupten und dann eine starre Metrik leugnen ... (natürlich kann man, es macht die Argumentation halt höchst anfechtbar, so wie hier) ... repetitive, metrisch gleichbleibende Muster sind doch gerade konstituierend für diesen Stil. Oder was verstehst Du unter diesem Stil?

    Die durch Tonwiederholungen sich ergebenden Orgelpunkte sind sehr wohl in BWV 1006 zu finden. Nehmen wir als Beispiel die Takte 17 bis 28 in BWV 29/1. Im Bass findet sich auf den Achteln 2 bis 6 jeweils ein "d", auf Achtel 1 eine Achtelpause. Eben dieses d taucht (als d'') in der Solostimme in den meisten dieser Takte repetiert auf (17, 20-23, 26-28). Das meine ich mit "das Material der Bearbeitung ist bereits im Original vorhanden".

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • in der Tat hat man sich mit dem angeblichen Fortschritt immer große Verluste eingehandelt

    Schöne Theorie. Wo genau liegt der "große Verlust", der durch das Sostenuto-Pedal eingehandelt wurde? Oder durch die Repetitionsmechanik? Die Meingast-Rolle?

    Die von Dir ersehnten Möglichkeiten am Klavier wären sicher ganz schön. Allerdings habe ich einen anderen interpretatorischen Ansatz. Ich gehe immer von den Möglichkeiten des Instrumentes aus und versuche diese in den Dienst der jeweiligen Musik zu stellen. Natürlich bedeutet das für mich, Instrumente aus der Zeit der Entstehung der jeweiligen Komposition zu verwenden, da ich ja schließlich weiß, daß der Komponist diesen Klang bei seiner Komposition im Ohr hatte, um die Möglichkeiten dieses Instrumentes wußte. Alles, was ich zu einer guten Realisierung der Komposition benötige, steckt also in diesem Instrument.

    Das ist ja auch ok so. Ich gehe halt von der Partitur aus. Und da reichen mir bei vielen Werken die Möglichkeiten keines einzigen Instrumentes wirklich aus...

    die Bearbeitung für Blockflöten, so sie die Noten des Bachschen Originales, wiederzugeben vermag, wäre ganuso berechtigt, wie die Bearbeitung auf modernem Flügel. Denn letztendlich geschieht ja nichts anderes: die Musik wird mit anderen Klängen und Möglichkeiten als vom Komponisten gedacht gespielt!

    Nein, die Berechtigung oder Nicht-Berechtigung entscheidet sich am künstlerischen Gelingen, nicht an dem, was der Komponist gedacht hat. Wenn Du mir eine überzeugende Einspielung der Goldberg-Variationen mit Blockflöten-Trio zeigst, bin ich sofort einverstanden, ob Bach das nun so gewollt hat oder nicht. Der ist eh tot. Ich bezweifle allerdings, dass es eine solche Einspielung gibt. Mit modernen Flügel kenne ich eine ganze Reihe. Das ist der entscheidende Unterschied.

    Christian

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