Alice Sara Ott - Beseelte Transparenz im Vollgriff
ALICE SARA OTT – BESEELTE TRANSPARENZ IM VOLLGRIFF
Versuch einer Standortbestimmung, eventuell bald mögliche Einordnung in die „großen Pianisten unserer Zeit“ und Versuch einer Beschreibung der Charakteristik ihres Klavierspiels
Am 17.10.2010 erhielt sie zusammen mit Olga Scheps den „Echo Klassik“ als Nachwuchskünstlerin des Jahres. Am 7.11.2010 sprang sie kurzfristig für Lang Lang ein und spielte in der Londoner Barbican Hall mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Daniel Harding das Erste Klavierkonzert von Franz Liszt. Am selben Tag Porträt in „Titel Thesen Temperamente“ (ARD). Am 13.11.2010 Porträt in „Capriccio“ (BR). Am 13.11.2010 in Magdeburg und am Tag darauf in Leipzig (live übertragen in MDR Figaro) stand Tschaikowskys Erstes Klavierkonzert auf dem Programm, zusammen mit Krzysztof Urbanski und dem MDR Rundfunkorchester. Dazu auch Kurzporträt im MDR Fernsehen. Am 15.11.2010 Porträt in „Kulturzeit“ (3sat). Am 26.11.2011 debütierte Alice Sara Ott beim Lucerne Festival in der Lukaskirche mit einem Solo Recital. Am 5.12.2010 gibt es in der Münchner Philharmonie im Gasteig Griegs Klavierkonzert a-moll mit der Tschechischen Philharmonie Prag unter Ariel Zuckermann (Bericht folgt). Im Dezember folgen noch zwei Konzerte in den Niederlanden, Anfang 2011 geht die Künstlerin auf Japan-Tournee.
Sie ist also schon „ganz drin“ im Geschäft. Von der „Deutschen Grammophon“ (DGG) beworbene CDs, Konzerte rund um die Welt, Fernsehauftritte. Der Aufbruch einer Künstlerin mitten in eine Pianistenkarriere, aber auch mitten in einer vieles brutal demaskierenden „Götterdämmerungs“-Zeit vielfach erwünschter Beliebigkeit.
Hat sie das Zeug zu einer großen Karriere? Gehört sie dann in den wohl nie mehr geschriebenen aktuellen Folgeband von Joachim Kaisers „Großen Pianisten unserer Zeit“?
(Ich glaube hier passt der Text trotzdem besser hin als einen eigenen Thread dafür zu öffnen.)
Alice Sara Ott, im August 1988 in München geboren, japanische Mutter, deutscher Vater, schon in früher Kindheit Preise bei Klavierwettbewerben, Studium bei Karl Heinz Kämmerling am Mozarteum Salzburg, mit 15 Jahren die erste CD, mit 20 Jahren Vertrag mit „der“ Klassik Company schlechthin, „Kollegin“ also von Lang Lang, Hélène Grimaud, Yuja Wang, Rafal Blechacz und Yundi Li. Professionelle Homepage. Bis Ende 2010 drei CDs bei der DGG. Auftritt in einem Club für die „ZDF Aspekte“, Auftritt bei „3 nach 9“, Interview für das BR Szenemagazin „U21“, Promotion für die Chopin Walzer CD mit Klavier auf der ehemaligen Lenin-Werft in Danzig, Fotosessions als Model für die Vermarktung der CDs, Konzertplakate mit ihr als „Star“ (trotz auch anderer Mitwirkender), Autogrammkarten bei ebay, Clips mit Liszt, Chopin und Ausschnitten aus Beethovens „Waldstein“ und „Appassionata“ Sonaten bei youtube. Möglichkeit zur facebook Freundschaft.
Aufmerksam geworden auf sie bin ich nicht durch die Werbung der Plattenfirma, sondern durch einen Konzertmitschnitt vom 6.8.2010 vom Festival La Roque D'Anthéron, gesendet in BR-Klassik am 25.8.2010. Frédéric Chopins Valses brillantes op. 34 Nr. 1-3 und Valses op. 64 Nr. 1 und 2, dann Franz Liszt, 6 Grandes Études de Paganini, als Zugabe Johannes Brahms, Walzer gis-Moll op. 39/3. Interpretatorisch ungleich mehr beseelte Musik als auf sich aufmerksam machen wollende Selbstpräsentation, das ließ aufhorchen. Auffallende Tendenz, die Virtuosität nie zum Selbstzweck auszukosten, sich nicht mit ihrer Hilfe vordergründig den Erfolg zu sichern und Bewunderung zu heischen, sondern die Begabung zur wie selbstverständlich erscheinenden technischen Bewältigung auch schwerster Klaviermusik einzusetzen, um die Poesie der Musik auch im Virtuosen zu entfalten.
Mein Eindruck: Beseelte Transparenz im Vollgriff.
Die erste CD – Franz Liszt ((RAM/BR ram 50402, erschienen im Mai 2004)
Das Cover spielt mit dem japanischen Wunderkind-Image und somit schielend auf den japanischen Markt. Fotos einer 14jährigen Pianistin, japanische Schriftzeichen über den europäischen.
Jede der 6 Grandes Etudes de Paganini (1832) hat ihre Seele, das macht diese Aufnahme deutlich. Alice Sara Ott spielt hier überraschend „alterslos“. Ihr Klavierspiel wirkt reif, ohne diese Reife mit vordergründiger Überlegenheit auszuspielen. Man hört die Substanz der Musik, nicht die Leistung der Interpretin. Diese Musik, so gespielt, ist weit weg von brillantem Selbstzweck. Die Nr. 3 „La Campanella“ („Das Glückchen“) gehört zu Liszts bekanntesten Werken. Emil Gilels hat diese Etüde im Februar 1954 in Paris elegant, delikat und virtuos gespielt, zu hören in der „Klavier Kaiser“ Box. Das ist bester Konzertprunk, Alice Sara Ott wirkt hier natürlich (noch) viel zurückhaltender. Besonders berühmt ist auch die Nr. 6, Variationen über Paganinis Caprice in a-Moll, über die auch Brahms, Lutoslawski, Rachmaninow, Boris Blacher, Andrew Lloyd Webber und viele andere Komponisten Variationen geschrieben haben. Wer so ein Werk aufnimmt, „kann“ es natürlich spielen. Insofern staunt man nicht in erster Linie über die Fingerfertigkeit der Pianistin, sondern vielmehr über ihr auch hier beseeltes Spiel.
Die 6 Consolations („Tröstungen“) hat Liszt 1850 vollendet. Der leichte, unbeschwerte Blick einer 15jährigen auf diese Stücke (berühmt vor allem Nr. 3, ein Nocturne, Nr. 4, der Stern, auch Nr. 5, die „himmlische Liebe“) nimmt für sich ein. Die Consolations sind sicher auch weiser, grüblerischer, pathetischer vorstellbar als in dieser wie ich finde schön transparenten, liebevoll „jungen“ Interpretation.
Selbst bei der berühmten Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 ist Alice Sara Ott die Seele der Musik hörbar wichtiger als der Effekt. Zumindest ich höre es so, ich höre es nicht kalkuliert, nicht als äußerlich aufoktroyiertes Interpretationsprinzip.
Diese CD erschließt sich mir als die Talentprobe einer echten Musikerin, keines auf Jungstar gedrillten Wunderkindes.
Im November 2007 lag der Zeitschrift Fono Forum eine CD der Reihe „Edition Klavier-Festival-Ruhr“ bei, diesmal mit Alice Sara Ott und Werken von Beethoven, Liszt und Schumann. Enthalten in der Box "Edition Klavier Festival Ruhr - Portraits III". Das ist quasi die "inoffizielle" zweite CD, da zuerst Zeitschriftenbeilage, dann Teil einer Box. Besprechung wird nachgeliefert.
Die dritte CD – Franz Liszt, Etudes d´execution transcendante (DGG 477 8362, erschienen im Mai 2009, vor Weihnachten 2010 im verbilligten Preissegment ab 7,95 € verfügbar)
Der optische Einstieg bei der DGG (Digipack Hülle und Beiheft zur CD) verkauft eine hübsche junge Frau, und trotz der aufgeklebten Werbezitate, die die musikalische Substanz herausstreichen, suggeriert die Aufmachung, der Inhalt der CD sei irgendwie egal, man solle die CD wegen des Covers erwerben. Der Versuch der Firma, auf jeden Fall Publikum jenseits des musikalischen Zielpublikums anzusprechen.
Der musikalische Einstieg bei der DGG also (um den geht es dann doch) mit einem richtigen Prüfstein, den nicht viele im Repertoire haben, ein von Liszt in letzter Fassung 1852 veröffentlichter virtuos gewaltiger Zyklus, der alles abfordert an Technik und Musikalität. Lazar Bermans Aufnahme ist berühmt. Mit Boris Berezovsky gibt es eine DVD vom Festival La Roque D'Anthéron aus dem Jahr 2002, ein grandioser zwölfteiliger Kraftakt, man kann (auch auf youtube) dem Pianisten bei seinen aberwitzig wilden Sprüngen auf die Finger schauen, toll aufgebaute Spannungsbögen, voll „wissender Impulsivität“. Hört man diese kraftvoll-virtuosen Aufnahmen mit Berman oder Berezovsky, liest man in den Noten mit, so erwartet man „voll angreifende“, technisch atemberaubende Bravourakte. Den meisten sind Namen vorangestellt: Nr. 1 Preludio, Nr. 3 Paysage (Landschaft), Nr. 4 Mazeppa, Nr. 5 Feux follets (Irrlichter), Nr. 6 Vision, Nr. 7 Eroica, Nr. 8 Wilde Jagd, Nr. 9 Ricordanza (Erinnerung), Nr. 11 Harmonies du soir (Abendklänge) und Nr. 12 Chasse-neige (Schneetreiben).
Alice Sara Otts Aufnahme entstand im Juni 2008 in der Friedrich-Ebert-Halle in Hamburg-Harburg. Wie schon bei der ersten CD, die ja ebenfalls Liszt gehörte, zeigt sich die Künstlerin nicht als Fortissimo-Auftrumpferin, sie achtet vielmehr auf Transparenz, Poesie und Leichtigkeit, auf die Seele der Musik, ausgehend von stupender, glasklarer Technik. Es geht nicht darum, wie toll Alice Sara Ott diese Musik spielt (deren virtuoser Grundton ja ohnedies nicht verleugnet werden kann und will), sondern wie substanziell gut diese Musik eigentlich komponiert ist. Ob Landschaft, Mazeppa-Ritt, Irrlichter oder Vision, ob Erinnerung oder Schneetreiben – die Anschlags-Transparenz gibt jedem Stückcharakter eine signifikante, irisierend „leichte“ Durchhörbarkeit bei aller vollgriffiger Massivität zwischendurch.
Die vierte CD – Frédéric Chopin, Complete Waltzes (DGG 477 8095, erschienen Januar 2010)
Die Vermarktungsstrategie, das gut verkaufbare Äußere herauszustreichen, wird bei Cover und Beiheft beibehalten. Ein Foto zeigt Alice Sara Ott am Klavier am Gelände der ehemaligern Lenin-Werft in Danzig. Politisches Statement oder Promotionstrategie?
17 Walzer hat Chopin komponiert, dazu kommen zwei weitere passende Werke in Es-Dur, KK IVa 14 stammt aber wahrscheinlich nicht von Chopin, wie die Henle Notenausgabe aufschlüsselt. Alice Sara Ott hat alle 19 Stücke im August 2009 im Teldex Studio in Berlin eingespielt. Sie betont, jeder Walzer habe einen eigenen Charakter.
Zunächst höre ich mir die Chopin Walzer aber mit Artur Rubinstein an (CD Box The Chopin Collection, RCA Victor GD 60822), eingespielt am 25.6.1963. Rubinstein spielt im Gegensatz zu Alice Sara Ott nur 14 Walzer, von denen ohne Opuszahl nur KK IVa 15. Charmant, musikantisch, weltmännisch, souverän, selbstverständlich – das ist ein Standard, den Rubinstein im besten Sinn offenbar jederzeit abrufbar hingelegt hat. Aus der Schlichtheit einiger Vorlagen holt Rubinstein ein „wissendes Geheimnis“. Diese Chopin Walzer Rubinsteins wirken (auch im allerbesten Sinn) wie beiläufig-souveräne Salonmusik. Selbstverständliches Repertoire der ganz Großen.
Alice Sara Ott empfindet jeden einzelnen Walzer musikalisch individueller. Die Abschnitte innerhalb der Stücke werden im Charakter deutlicher differenziert. Alice Sara Ott versucht, die Seele der Musik, die Empfindsamkeit, zum Klingen zu bringen. Einige Walzer erhalten dadurch einen gewichtigeren Grundton als bei Rubinstein. Op. 34/2 und KK IVb 11 etwa wirken dunkler, unheimlicher, wie durch einen Schleier. Op. 42 und KK IVa 15 kommen hingegen als spritzige „Gustostückerl“ daher. Alice Sara Ott spielt die Walzer bewusster, aber doch auch schwerelos. Wunderbar behutsam gelingt der Künstlerin etwa KK IVb 10 Es-Dur.
Wie bei den „Consolations“ von Liszt mag man auch hier den unschuldig-naiven Blick der Jugend durchhören, bei aller Charakterstück-Differenzierung.
Die fünfte CD – Klavierkonzerte von Tschaikowsky und Liszt (DGG 477 8779, erschienen im September 2010)
Die erste CD der Künstlerin mit Klavierkonzerten, die dritte, die auf das hübsche Aussehen am Cover und im Beiheft großen Wert legt, bringt noch dazu zwei absolute Top-Hits des Repertoires, wohl „die“ virtuosen Klavierkonzerte schlechthin. Im November 2009 in der Münchner Philharmonie im Gasteig zusammen mit den Münchner Philharmonikern unter Thomas Hengelbrock aufgenommen (Tschaikowsky live, Liszt ohne Publikum), zeigt sich Alice Sara Ott auch bei Tschaikowskys Konzert b-moll op. 23 und bei Liszts Konzert Es-Dur als Erzählerin und Sängerin am Klavier, die das Virtuose der Seele der Musik unterordnet. Ihr transparentes technisches Können ermöglicht sensible Farbschattierungen. Vor allem die lyrischeren Passagen kommen in beiden Werken sehr schön zur Geltung. (Ihr Tschaikowsky Konzert wirkte in der MDR Liveübertragung am 14.10.2010 aber dann doch etwas konzertant-mutiger. Anders mutig dort ihre Zugaben-Entscheidung: Beethovens „Für Elise“…)
Noch startet Alice Sara Ott durch, man darf auf Bach, Mozart, mehr Beethoven, auf Schubert, Schumann, mehr Chopin, auf Brahms warten, auf Raritäten, auf Werke aus dem 20. Jahrhundert, auf viel mehr. Vielleicht improvisiert sie auch? Transparente technische Möglichkeiten, Fähigkeit zum beseelten Eintauchen in die Poesie der Musik – wer weiß was sie für die und die Musikwelt für sie bereithält.
Mein vorläufiger Eindruck: beseelte Transparenz im Vollgriff.