Telemann: Tafelmusik
Entstehung
Am 9. Dezember 1732 erschien in einer Hamburger Zeitschrift folgende Anzeige:
ZitatDie Liebhaber der Music haben im künfftigen 1733. Jahr ein großes Instrumental-Werck, Tafel-Music genannt, von der Telemannschen Feder zu gewarten, es besteht aus 9 starcken Stücken mit 7 und aus so vielen schwachen mit 1, 2, 3 bis 4 Instrumenten. Man praenumerieret bey jedem Quartale 2 Rthl. Hamburger Werth, und zwar das erste mal auf Neu-Jahr. Die Ausgaben geschehen auf drey mal, als an Himmelfahrt, Michaelis und Weynachten. Die Namen der Praenumerierenden sollen dem Wercke beygedruckt werden.
Angekündigt wurde also ein neues Werk Telemanns, das in drei Teilen aus neun Orchesterstücken ("starcke Stücke") und neun Kammermusikstücken ("schwache Stücke") besteht. Der Preis von acht Reichstalern für ein Expemlar war im voraus in vier Raten zu je zwei Reichstalern zu bezahlen. Der Gesamtpreis entspricht nach heutigem Wert ungefähr 600 Euro, die Interessenten liessen sich aber von dieser stolzen Summe nicht abschrecken: Die Liste der "Praenumerierenden", die dem Druck wie angekündigt beigefügt wurde, umfasst über 200 Namen. Neben Fürsten und reichen Adligen finden sich dort auch Namen von Musikern wie Michel Blavet (Flötenvirtuose und Musiksuperintendent des Grafen von Clermont, er orderte gleich zwölf Exemplare), Johann Joachim Quantz (Hofkomponist, Kammermusiker und Flötenlehrer Friedrichs des Großen), Johann Georg Pisendel (Konzertmeister der Dresdner Hofkapelle) und Georg Friedrich Händel, der sich später für seine eigenen Kompositionen aus Telemanns Werk bediente (was damals nicht als Plagiat, sondern als Referenz gegenüber dem Musikerkollegen angesehen wurde).
Der Druck erschien übrigens nicht als Partitur, sondern er bestand – den damaligen Gepflogenheiten und Anforderungen der Praxis entsprechend – aus sieben Stimmheften.
Musikgeschichtlicher Hintergrund
Als Telemanns Werk 1733 erschien, hatte Musik als Bereicherung der kulinarischen Genüsse bei der fürstlichen Tafel bereits eine längere Tradition. Hofkapellmeistertitel wie "Director der Capell- und Taffel-Music" weisen ebenso darauf hin wie zahlreiche Sammlungen, die mit entsprechenden Titeln im Druck erschienen, beispielsweise
- Banchetto musicale (Johann Hermann Schein, 1617)
- Musicalische Tafelfreudt (Isaak Posch, 1621)
- Taffel-Consort (Thomas Simpson, 1621)
- Taffel-Confect (W. Briegel, 1672)
- Mensa sonora (H. I. F. Biber)
- Tafel-Music (Gottfried Heinrich Stölzel, Sammlung von szenischen Kantaten)
- Ohren-vergnügendes und Gemüth-ergötzendes Tafel-Confect (Valentin Rathgeber, 1733)
Somit ist Telemanns "Tafelmusik" gleichzeitig Abschluss und Gipfelpunkt einer langen Reihe von ähnlichen Werken anderer Komponisten, wobei sich die Musik allerdings immer mehr von ihrer reinen Unterhaltungsfunktion emanzipierte. Die "Tafelmusik" entstand in einer Zeit des Wandels von der höfischen zur bürgerlichen Musikkultur.
Das Werk
Telemanns "Tafelmusik" als Gesamtwerk besteht aus drei gleich aufgebauten Teilen (im Druck werden sie "Production" genannt) mit jeweils sechs Einzelwerken:
- Suite mit einleitender französischer Ouvertüre und mehreren nachfolgenden Tanzsätzen
- Quartett (drei Soloinstrumente und Basso continuo)
- Konzert mit mehreren Soloinstrumenten
- Trio (zwei Soloinstrumente und Basso continuo)
- Solo (ein Soloinstrument und Basso continuo)
- Finale ("Conclusion") in gleicher Besetzung und Tonart wie die Suite zu Beginn
Die typisch französische Form der Orchestersuite durchsetzt Telemann mit Elementen des italienischen Concerto grosso: In jeder Suite gibt es eine Solistengruppe (Concertino - bei der ersten Suite zwei Traversflöten und Violoncello, bei der zweiten Trompete und Oboe und bei der dritten zwei Oboen und Fagott). Die einleitende Ouvertüre folgt dem üblichen Muster: langsame Einleitung mit scharf punktiertem Rhythmus, schneller fugierter Mittelteil, langsamer Schluss. Die sich anschliessenden Tanzsätze sind teilweise stark stilisiert und werden in der zweiten Suite nur noch durchweg als "Air" bezeichnet.
Die nachfolgenden vier Werke (Quartett, Konzert, Trio, Solo) folgen bis auf wenige Ausnahmen dem Satzmuster der Sonata da chiesa (vier Sätze mit der Tempofolge langsam – schnell – langsam – schnell). Die "Conclusionen" sind nicht nur Abschluss und Kehraus, sie bilden durch gleiche Besetzung und Tonart mit der einleitende Suite gewissermaßen eine Klammer um die gesamte "Production".
Aber Telemann wäre nicht Telemann, wenn es innerhalb dieser Einheitlichkeit nicht eine erstaunliche Vielfalt gäbe. Die einleitenden Suiten unterscheiden sich neben Tonart und Besetzung der Solistengruppe natürlich vor allem durch den Charakter der nachfolgenden Tanzsätze, der geschickt auf die Instrumente der Solistengruppe abgestimmt ist. Die Vielfalt setzt sich bei den "schwachen Stücken" fort: Während das erste Quartett eine Standardbesetzung hat (Traversflöte, Oboe, Violine), ist die Besetzung des zweiten (zwei Traversflöten und Blockflöte, alternativ Fagott) sehr ungewöhnlich. In den Trios musizieren im ersten und dritten Teil jeweils zwei gleiche Instrumente (Violinen bzw. Traversflöten), während das Trio im zweiten Teil mit Traversflöte und Oboe besetzt ist. In den Soli nutzt Telemann sehr geschickt die Charakteristika des jeweiligen Instruments (Traversflöte, Violine, Oboe). Bei den Konzerten findet man als Soloinstrumente im ersten Konzert Traversflöte, Violine und Violoncello, im zweiten drei Violinen und im dritten zwei Hörner. Beim "Affect" reicht die Spannweite von fröhlicher Ausgelassenheit bis zu herber Strenge (Quartett im dritten Teil) und Melancholie (erster Satz des Trios im zweiten Teil und des Solos im dritten Teil).
Aufnahmen
Stellvertretend für die Gesamtaufnahmen, die seit den 1960er Jahren auf LP bzw. CD erschienen sind, seien hier vier genannt und kurz erläutert:
Concerto Amsterdam, Frans Brüggen: keine historischen Instrumente, typischer Kammerorchesterklang der 1960er Jahre mit dominierenden Streichern und reichlich Vibrato
Concentus musicus, Nikolaus Harnoncourt: historische Instrumente, relativ stark besetztes Orchester – meines Wissens die erste Gesamtaufnahme auf historischen Instrumenten
Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel: historische Instrumente, kleineres Orchester und extremere Tempi als bei Harnoncourt
Camerata des 18. Jahrhunderts, Konrad Hünteler: historische Instrumente, erste Aufnahme mit konsequent kleiner (solistischer) Besetzung des Orchesters
Viele Grüße,
Fugato