Franz Liszt: Klaviersonate h-moll - Die große Klavierreise ins Ich
Neben Ludwig van Beethovens Hammerklavier-Sonate op. 106 und vor allem nach Franz Schuberts eine Sonate bereits zu einem einsätzigen Werk zusammenführender „Wanderer-Fantasie“ op. 15 (D 760) gilt die Klaviersonate h-moll von Franz Liszt (1811-1886), komponiert in Weimar 1852/53 und erschienen im Jahr 1854 (Robert Schumann gewidmet), mit ihren etwa 30 Minuten Spieldauer ohne Pause, als größte und technisch wie musikalisch anspruchsvollste Klaviersonatenkomposition des 19. Jahrhunderts.
Gerne auch einer Werkeinführung von Alfred Brendel aus dem Jahr 1981 folgend (nachzulesen in seinem Buch „Über Musik“, Piper Verlag), finden sich sechs Themen in diesem Werk, die mannigfaltige Durchführungen und Verarbeitungen erfahren. Die ersten drei Themen werden zu Werkbeginn unmittelbar hintereinander vorgestellt. Thema 1 verblüfft mit einem Stillstand, einem Innehalten, mit Ruhe und Vertiefung, mit dem vorsichtigen Abstieg in ein Irgendwohin, Thema 2 (der Vergleich mit Goethes Werk liegt nicht nur für Brendel nahe) stellt Faust (also den „Akteur“) vor, Thema 3 den mephistophelisch plappernden, alles hinterfragenden Charakter. Die Themen 4 bis 6 treten später in Erscheinung. Thema 4 präsentiert sich beim ersten Auftreten nahezu orchestral mächtig als Grandioso (ab Takt 105), Thema 5 sorgt für das Lyrische (ab Takt 153; also Gretchen! Brendel zeigt deutlich auf, dass es mit Thema 3 verwandt ist, quasi des Teufels lyrischer Gegenpol, die andere Seite der Medaille) und Thema 6 steht für die geistliche, religiöse Entrückung (Andante sostenuto, ab Takt 331).
Ebenfalls Brendel folgend, lässt sich das Werk in fünf Abschnitte gliedern.
a) Exposition, erste Durchführung, erste Scheinreprise
b) Rezitativ
c) „Langsamer Satz“ (Andante) – Mittelteil mit zweiter Durchführung
d) Fugato. Zugleich zweite Scheinreprise, dritte Durchführung und „Scherzo“
e) Reprise und Abschied
Es ist aber wirklich nicht zwingend notwendig, diese Abschnitte hörend mitzuvollziehen. Der Sog der Musik erschließt sich bei „gelebter“ Interpretation jedem offenen Hörer individuell, egal welche musikwissenschaftliche Vorbildung er mitbringt.
Indem das Werk mit vorsichtigem Anklopfen und absteigenden Tonfolgen in eine imaginäre Stille führt, aus der heraus sich der Akteur und sein diabolischer Widerpart melden und das Geschehen in Gang bringen, signalisiert Liszt von Anfang an den epischen, erzählerischen, dramatischen Ansatz der Komposition, der weit über rein Pianistisch-Virtuoses hinausweist, der die Interpretinnen und Interpreten ganzheitlich fordert, bis zum diese Epik genial abrundenden ruhigen Ausklang, den Liszt letztendlich einem ursprünglich skizzierten Fortissimo-Schluss vorgezogen hat.
Liszts h-moll Sonate lässt bei einer spannenden Interpretation die etwa 30 Minuten Spieldauer wie im Fluge vergehen, außer die Interpretation legt es auf bewusste Längen an. (Die Spannweite der Interpretationen reicht von ca. 25 bis ca. 34 Minuten.) Indem man das eröffnende G zweimal hintereinander anschlägt (die meisten tun es wirklich als spitzes Staccato, manche neigen aber durchaus auch zu einem Non legato), begibt man sich auf eine extrem weite Reise und muss auch bald ganz offenbaren, was für ein Menschentyp man ist – es muss also eine Reise vor allem auch ins Ich werden, ins Ich des Komponisten wie des Interpreten und im Idealfall genauso ins Ich der Hörer. Mit dem Grandioso (ab Takt 105) wird der Grad der Selbstbeherrschung bzw. der Wille zur Exaltiertheit messbar, das vorgeschriebene Fortissimo lässt sich völlig unterschiedlich auskosten. Und spätestens ab Takt 120, mit dem Beginn des ersten Rezitativabschnitts, wo die Musik „spricht“, entfaltet sich die Persönlichkeit der Interpreten vollends. Hier ist man „ganz auf sich allein gestellt“, man kann sich nicht hinter wilden Läufen und brillanten Akkordfolgen verstecken. Das wird ab Takt 153 mit dem ersten Auftreten von „Gretchen“ fortgesetzt: Romantischer Kitsch oder wirklich die große Liebe? Echtes Gefühl? Totale Hingabe? Oder doch nur ein Vorläufer von Richard Clayderman, auf einem Schloss in Cornwall in einer Rosamunde Pilcher Verfilmung vor parfümierten Strohwitwerinnen das Gefühlsklavier streichelnd? Auch das Andante sostenuto (ab Takt 331, „der zweite Satz“) erfordert einen besonders beseelten Ansatz. (Persönlicher „abseitiger“ Gedanke: In Takt 347 „falle“ ich assoziativ immer in die „Tendenz“ zu Chopins Ballade Nr. 1 g-moll op. 23 – hier könnte man mit dessen Hauptthema fortsetzen.) Eine weitere markante Passage, schon gegen das Ende zu: Geht man ab Takt 682 mit den Prestissimo-Oktaven und der ekstatischen Fortsetzung voll auf Risiko? Legt man erst so richtig los, hat man also noch echte Reserven, oder muss man da – ach du lieber Himmel – auch noch drüber? Die letzten Minuten schließlich, wieder Andante sostenuto (ab Takt 711) – vollendete Verklärung oder lyrisch bewusste Abrundung? Interpretatorisch eröffnen sich ganze Kosmen an Nuancierungsmöglichkeiten.
Es kann, nein es muss für die Menschen am Klavier wie für die Zuhörerschaft im Idealfall mit der Erfahrung des Durchlebens und Erlebens dieser Sonate Robert Musils Kunstdefinition zutreffen: „Was bleibt von der Kunst? Wir. Als Veränderte.“
Aus der Vielzahl an Aufnahmen hier einmal ein Anfang mit dem Versuch der Schilderung der persönlichen Höreindrücke:
Vladimir Horowitz (1903-1989) – Auf Leben und Tod
CD BMG/RCA 09026 61415 2
Aufnahme: 1977
Spieldauer 30:00 Minuten
Zwischen Klavierzertrümmerung und Weltflucht. Es geht hier um alles, um Leben und Tod. Ein ungeheuerlicher spieltechnischer und spirituell-magischer Kraftakt sondergleichen! Wie muss dann erst die von Joachim Kaiser in seinem Standardwerk „Die großen Pianisten in unserer Zeit“ gerühmte Aufnahme von 1932 sein!
Martha Argerich (geb. 1941) – Die Leidenschaftliche
CD Box DGG 453 566-2
Aufnahme: Juni 1971, München, Residenz, Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften
Spieldauer 25:49 Minuten
Eine impulsive Tigerin, angriffslustig, zupackend, teilweise noch irrwitzig schneller als Horowitz, aber doch insgesamt „irdischer“, nicht ganz so radikal.
Ivo Pogorelich (geb. 1958) – Der Verlorene
CD DGG 429 391-2
Aufnahme: Dezember 1990, Hannover, Congress Centrum, Beethovensaal
Spieldauer 33:44 Minuten
Im Pathos gewichtiger als Horowitz und Argerich. Nimmt wenig Pedal, akzentuiert besonders deutlich. Ein großer Erzähler und Poet. Stärke: die rezitativischen Passagen, die bei ihm unvergleichlich verloren klingen. Scheint sich total in der Musik zu verlieren. Die Zeit bleibt stehen.
Alfred Brendel (geb. 1931) – Der menschliche Denker
CD Philips 475 8247
Aufnahme: Oktober 1991, Neumarkt in Deutschland
Spieldauer 29:12 Minuten
Eine sehr bewusste, sympathisch „menschliche“, das Klavier liebevoll schonende Aufnahme eines klugen Denkers mit weichem Klavieranschlag.
Hélène Grimaud (geb. 1969) – Die verhalten Impulsive
CD DGG 477 8766
Aufnahme: September 2010, Berlin, Rundfunk-Zentrum
Spieldauer 30:13 Minuten
Eine der neuesten Aufnahmen. Lebendige Spontaneität, vieles wirkt auch bei ihr wie aus dem Augenblick heraus. Beim Fortissimo nimmt sie sich aber eher verhalten zurück. Vorliebe für Arpeggien, für gebrochene Akkorde.
Krystian Zimerman (geb. 1956) – der beseelte Musiker
CD DGG 431 780-2
Aufnahme: Februar und März 1990, Kopenhagen, Tivoli, Konzertsaal
Spieldauer: 30:37 Minuten
Für mich auf jeden Fall (egal was noch kommt) eine der ganz großen, bedeutenden Aufnahmen des Werks. Echte Leidenschaft, echte Liebe. Nobel, gleichzeitig konzertant, differenziert und ausgefeilt, aber vor allem: ungemein musikalisch. Diese Aufnahme hat Seele wie sonst nur wenige, sie entfaltet Schattierungen sondergleichen.
Mikhail Pletnev (geb. 1957) – erzählt einen großen Roman
CD DGG 457 629-2
Aufnahme: Dezember 1997, Hannover, Congress Centrum, Beethovensaal
Spieldauer 33:46 Minuten
Setzt zahlreiche Marksteine, bewusste Zäsuren, „Kapitel“ gewissermaßen. Ein Meister des „epischen Rubato“. Manchmal drohen die läuferisch virtuosen Teile zu etüdenhaft abgerollt zu werden. Das fängt Pletnev aber in allen rezitativischen und lyrischen Momenten voll persönlichkeitsstarker Poesie auf. Bei ihm entfaltet sich die Sonate zu einem großen Schicksalsroman.
Freunde dieser großen Sonate, die Capriccio-Arena für sie habe ich mir erlaubt mit meinem Eintrag Nr. 50 freizugeben...