Franz Liszt: Klaviersonate h-moll - Die große Klavierreise ins Ich

  • Franz Liszt: Klaviersonate h-moll - Die große Klavierreise ins Ich

    Neben Ludwig van Beethovens Hammerklavier-Sonate op. 106 und vor allem nach Franz Schuberts eine Sonate bereits zu einem einsätzigen Werk zusammenführender „Wanderer-Fantasie“ op. 15 (D 760) gilt die Klaviersonate h-moll von Franz Liszt (1811-1886), komponiert in Weimar 1852/53 und erschienen im Jahr 1854 (Robert Schumann gewidmet), mit ihren etwa 30 Minuten Spieldauer ohne Pause, als größte und technisch wie musikalisch anspruchsvollste Klaviersonatenkomposition des 19. Jahrhunderts.

    Gerne auch einer Werkeinführung von Alfred Brendel aus dem Jahr 1981 folgend (nachzulesen in seinem Buch „Über Musik“, Piper Verlag), finden sich sechs Themen in diesem Werk, die mannigfaltige Durchführungen und Verarbeitungen erfahren. Die ersten drei Themen werden zu Werkbeginn unmittelbar hintereinander vorgestellt. Thema 1 verblüfft mit einem Stillstand, einem Innehalten, mit Ruhe und Vertiefung, mit dem vorsichtigen Abstieg in ein Irgendwohin, Thema 2 (der Vergleich mit Goethes Werk liegt nicht nur für Brendel nahe) stellt Faust (also den „Akteur“) vor, Thema 3 den mephistophelisch plappernden, alles hinterfragenden Charakter. Die Themen 4 bis 6 treten später in Erscheinung. Thema 4 präsentiert sich beim ersten Auftreten nahezu orchestral mächtig als Grandioso (ab Takt 105), Thema 5 sorgt für das Lyrische (ab Takt 153; also Gretchen! Brendel zeigt deutlich auf, dass es mit Thema 3 verwandt ist, quasi des Teufels lyrischer Gegenpol, die andere Seite der Medaille) und Thema 6 steht für die geistliche, religiöse Entrückung (Andante sostenuto, ab Takt 331).

    Ebenfalls Brendel folgend, lässt sich das Werk in fünf Abschnitte gliedern.
    a) Exposition, erste Durchführung, erste Scheinreprise
    b) Rezitativ
    c) „Langsamer Satz“ (Andante) – Mittelteil mit zweiter Durchführung
    d) Fugato. Zugleich zweite Scheinreprise, dritte Durchführung und „Scherzo“
    e) Reprise und Abschied

    Es ist aber wirklich nicht zwingend notwendig, diese Abschnitte hörend mitzuvollziehen. Der Sog der Musik erschließt sich bei „gelebter“ Interpretation jedem offenen Hörer individuell, egal welche musikwissenschaftliche Vorbildung er mitbringt.

    Indem das Werk mit vorsichtigem Anklopfen und absteigenden Tonfolgen in eine imaginäre Stille führt, aus der heraus sich der Akteur und sein diabolischer Widerpart melden und das Geschehen in Gang bringen, signalisiert Liszt von Anfang an den epischen, erzählerischen, dramatischen Ansatz der Komposition, der weit über rein Pianistisch-Virtuoses hinausweist, der die Interpretinnen und Interpreten ganzheitlich fordert, bis zum diese Epik genial abrundenden ruhigen Ausklang, den Liszt letztendlich einem ursprünglich skizzierten Fortissimo-Schluss vorgezogen hat.

    Liszts h-moll Sonate lässt bei einer spannenden Interpretation die etwa 30 Minuten Spieldauer wie im Fluge vergehen, außer die Interpretation legt es auf bewusste Längen an. (Die Spannweite der Interpretationen reicht von ca. 25 bis ca. 34 Minuten.) Indem man das eröffnende G zweimal hintereinander anschlägt (die meisten tun es wirklich als spitzes Staccato, manche neigen aber durchaus auch zu einem Non legato), begibt man sich auf eine extrem weite Reise und muss auch bald ganz offenbaren, was für ein Menschentyp man ist – es muss also eine Reise vor allem auch ins Ich werden, ins Ich des Komponisten wie des Interpreten und im Idealfall genauso ins Ich der Hörer. Mit dem Grandioso (ab Takt 105) wird der Grad der Selbstbeherrschung bzw. der Wille zur Exaltiertheit messbar, das vorgeschriebene Fortissimo lässt sich völlig unterschiedlich auskosten. Und spätestens ab Takt 120, mit dem Beginn des ersten Rezitativabschnitts, wo die Musik „spricht“, entfaltet sich die Persönlichkeit der Interpreten vollends. Hier ist man „ganz auf sich allein gestellt“, man kann sich nicht hinter wilden Läufen und brillanten Akkordfolgen verstecken. Das wird ab Takt 153 mit dem ersten Auftreten von „Gretchen“ fortgesetzt: Romantischer Kitsch oder wirklich die große Liebe? Echtes Gefühl? Totale Hingabe? Oder doch nur ein Vorläufer von Richard Clayderman, auf einem Schloss in Cornwall in einer Rosamunde Pilcher Verfilmung vor parfümierten Strohwitwerinnen das Gefühlsklavier streichelnd? Auch das Andante sostenuto (ab Takt 331, „der zweite Satz“) erfordert einen besonders beseelten Ansatz. (Persönlicher „abseitiger“ Gedanke: In Takt 347 „falle“ ich assoziativ immer in die „Tendenz“ zu Chopins Ballade Nr. 1 g-moll op. 23 – hier könnte man mit dessen Hauptthema fortsetzen.) Eine weitere markante Passage, schon gegen das Ende zu: Geht man ab Takt 682 mit den Prestissimo-Oktaven und der ekstatischen Fortsetzung voll auf Risiko? Legt man erst so richtig los, hat man also noch echte Reserven, oder muss man da – ach du lieber Himmel – auch noch drüber? Die letzten Minuten schließlich, wieder Andante sostenuto (ab Takt 711) – vollendete Verklärung oder lyrisch bewusste Abrundung? Interpretatorisch eröffnen sich ganze Kosmen an Nuancierungsmöglichkeiten.

    Es kann, nein es muss für die Menschen am Klavier wie für die Zuhörerschaft im Idealfall mit der Erfahrung des Durchlebens und Erlebens dieser Sonate Robert Musils Kunstdefinition zutreffen: „Was bleibt von der Kunst? Wir. Als Veränderte.“

    Aus der Vielzahl an Aufnahmen hier einmal ein Anfang mit dem Versuch der Schilderung der persönlichen Höreindrücke:

    Vladimir Horowitz (1903-1989) – Auf Leben und Tod
    CD BMG/RCA 09026 61415 2
    Aufnahme: 1977
    Spieldauer 30:00 Minuten
    Zwischen Klavierzertrümmerung und Weltflucht. Es geht hier um alles, um Leben und Tod. Ein ungeheuerlicher spieltechnischer und spirituell-magischer Kraftakt sondergleichen! Wie muss dann erst die von Joachim Kaiser in seinem Standardwerk „Die großen Pianisten in unserer Zeit“ gerühmte Aufnahme von 1932 sein!

    Martha Argerich (geb. 1941) – Die Leidenschaftliche
    CD Box DGG 453 566-2
    Aufnahme: Juni 1971, München, Residenz, Plenarsaal der Akademie der Wissenschaften
    Spieldauer 25:49 Minuten
    Eine impulsive Tigerin, angriffslustig, zupackend, teilweise noch irrwitzig schneller als Horowitz, aber doch insgesamt „irdischer“, nicht ganz so radikal.

    Ivo Pogorelich (geb. 1958) – Der Verlorene
    CD DGG 429 391-2
    Aufnahme: Dezember 1990, Hannover, Congress Centrum, Beethovensaal
    Spieldauer 33:44 Minuten
    Im Pathos gewichtiger als Horowitz und Argerich. Nimmt wenig Pedal, akzentuiert besonders deutlich. Ein großer Erzähler und Poet. Stärke: die rezitativischen Passagen, die bei ihm unvergleichlich verloren klingen. Scheint sich total in der Musik zu verlieren. Die Zeit bleibt stehen.

    Alfred Brendel (geb. 1931) – Der menschliche Denker
    CD Philips 475 8247
    Aufnahme: Oktober 1991, Neumarkt in Deutschland
    Spieldauer 29:12 Minuten
    Eine sehr bewusste, sympathisch „menschliche“, das Klavier liebevoll schonende Aufnahme eines klugen Denkers mit weichem Klavieranschlag.

    Hélène Grimaud (geb. 1969) – Die verhalten Impulsive
    CD DGG 477 8766
    Aufnahme: September 2010, Berlin, Rundfunk-Zentrum
    Spieldauer 30:13 Minuten
    Eine der neuesten Aufnahmen. Lebendige Spontaneität, vieles wirkt auch bei ihr wie aus dem Augenblick heraus. Beim Fortissimo nimmt sie sich aber eher verhalten zurück. Vorliebe für Arpeggien, für gebrochene Akkorde.

    Krystian Zimerman (geb. 1956) – der beseelte Musiker
    CD DGG 431 780-2
    Aufnahme: Februar und März 1990, Kopenhagen, Tivoli, Konzertsaal
    Spieldauer: 30:37 Minuten
    Für mich auf jeden Fall (egal was noch kommt) eine der ganz großen, bedeutenden Aufnahmen des Werks. Echte Leidenschaft, echte Liebe. Nobel, gleichzeitig konzertant, differenziert und ausgefeilt, aber vor allem: ungemein musikalisch. Diese Aufnahme hat Seele wie sonst nur wenige, sie entfaltet Schattierungen sondergleichen.

    Mikhail Pletnev (geb. 1957) – erzählt einen großen Roman
    CD DGG 457 629-2
    Aufnahme: Dezember 1997, Hannover, Congress Centrum, Beethovensaal
    Spieldauer 33:46 Minuten
    Setzt zahlreiche Marksteine, bewusste Zäsuren, „Kapitel“ gewissermaßen. Ein Meister des „epischen Rubato“. Manchmal drohen die läuferisch virtuosen Teile zu etüdenhaft abgerollt zu werden. Das fängt Pletnev aber in allen rezitativischen und lyrischen Momenten voll persönlichkeitsstarker Poesie auf. Bei ihm entfaltet sich die Sonate zu einem großen Schicksalsroman.

    Freunde dieser großen Sonate, die Capriccio-Arena für sie habe ich mir erlaubt mit meinem Eintrag Nr. 50 freizugeben...

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Herzlichen Dank, lieber Alexander, für diese tolle Einführung! Ich war mal eine Zeit lang sehr angetan von dieser so leidenschaftlichen und vielschichtigen Musik. In der Zeit haben sich ganze 18 Aufnahmen bei mir angesammelt, ich glaube, die gleiche Menge habe ich sonst nur noch von Schumanns "Carnaval".
    Das ist aber lange her, und ich erinnere mich nur noch, dass mir die Aufnahme von Alexis Weissenberg und die von Clifford Curzon besonders gut gefielen; beide versuchen den leidenschaftlichen Gestus der Musik nicht noch durch eine besonders exaltierte Interpretation zu verdoppeln, was dieser Sonate m.E. nicht gut tut, sondern bleiben relativ sachlich und dabei genau.

    Aber, wie gesagt: ewig nicht mehr gehört. Ich stelle mal die Liste meiner Aufnahmen rein. Höre auch gerne mal wieder in eine rein und schreibe was drüber, falls an irgendeiner Stelle besonderes Interesse besteht:
    Weissenberg, Cortot, André Watts, Arrau, Curzon, Gilels, Ernst Levy, Cziffra, Jean-Marc Luisada, Zimerman, Berman (2), Argerich, Pollini, Pletnev, Demidenko, Richter, Horowitz.

    Richter (live 1965, aus der Brilliant-Box) läuft gerade:

    Finde ich scheußlich. Übertrieben bedeutungsschwanger zu Anfang, besinnungsloses Gehacke und mengenweise falsche Töne in den schnellen Passagen, sang- und klanglos in den lyrischen, dazu die ewig viel zu schwere linke Hand, die mich bei Richter immer wieder stört.

    Grüße
    vom Don

  • Lars Vogt hat übrigens vor kurzem seine Interpretation der h-moll-Sonate vorgelegt:

    Allerdings kenne ich die Aufnahme noch nicht - interessant finde ich die Programmzusammenstellung: Vogt hat die h-moll-Sonate mit Schumanns Fantasie in C-Dur kombiniert ;+)

    Der Livemitschnitt von Emil Gilels wurde hier ja schon erwähnt - muss ich unbedingt mal wieder hören!

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Für Neulinge ein Tipp: Je nachdem welche Erwartungshaltung man hat - es ist schon ein sehr komplexes Werk, auf das man sich bewußt einlassen wollen sollte. Ich glaube es ist auf keinen Fall Musik zum Nur-Nebenbeihören. Es kann durchaus ein Gewinn sein, den Themen zu folgen (wann tauchen sie wieder auf, wie tauchen sie auf, Beispiel Fugato - "Faust diskutiert mit Mephisto"). Ich kann mir auch vorstellen, dass 30 Minuten hier sehr lang werden können wenn man so eine Klaviermusik nicht gewohnt ist. Leichte Kost ist diese Sonate "für Ungeübte" sicher nicht.
    Was mich beim bisherigen Hörvergleich fasziniert: Hier kommt niemand (von den Interpreten) drum herum, so ziemlich alles zu geben, technisch wie vom Ausdruck her. Manches finde ich bei manchen weniger zwingend als bei anderen, aber ich habe vor jeder Interpretation weiter den allerhöchsten Respekt, egal welcher Name dafür steht. (Gewisse ganz Große sind es zurecht, das zeigt sich schon auch, es mindert aber nicht die Leistung "der zweiten Reihe".)

    Hier zwei weitere Höreindrücke.

    Agustin Anievas (geb. 1934) – großes Theater
    CD EMI 2 35733 2
    Aufnahme: Juni und Juli 1971, London, Abbey Road Studios
    Spielzeit: 27:36 Minuten
    Ein Dramatiker, entwirft großes Theater im besten Sinn. Atemberaubende Technik. Weniger Psychologie, mehr Theaterdonner. Es geht auch so. Und wie! Zugabe!

    Barry Douglas (geb. 1960) – das Glasperlenspiel
    CD BMG/RCA Victor 09026 61221 2
    Aufnahme: 17. bis 19.6.1991, Watford, Town Hall
    Spielzeit 30:40 Minuten
    Neben anderen Werken von Liszt hier auch Weberns Variationen op. 17 und Bergs Sonate op. 1. Glasklarer Anschlag als Markenzeichen der Interpretation. Sehr bewusst, sehr durchdacht. Gefahr allzu deutlicher Kalkulation (Andante sostenuto!), ähnlich Pletnev auch zu etüdenhafter Buchstabierung der raschen, virtuosen Passagen.

    Fortsetzung folgt.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lieber Alexander,

    danke für die Vorstellung der Aufnahmen von Douglas und Anievas! Douglas kenne ich zumindest dem Namen nach, Anievas kannte ich bisher überhaupt nicht. Du hast ja in Deinem Eröffnungsposting die Interpretation von Horowitz angesprochen:

    Zitat

    Vladimir Horowitz (1903-1989) – Auf Leben und Tod
    CD BMG/RCA 09026 61415 2
    Aufnahme: 1977
    Spieldauer 30:00 Minuten
    Zwischen Klavierzertrümmerung und Weltflucht. Es geht hier um alles, um Leben und Tod. Ein ungeheuerlicher spieltechnischer und spirituell-magischer Kraftakt sondergleichen! Wie muss dann erst die von Joachim Kaiser in seinem Standardwerk „Die großen Pianisten in unserer Zeit“ gerühmte Aufnahme von 1932 sein!


    Zur Horowitz Aufnahme von 1932: die ist in der Tat atemberaubend - auch wenn die Aufnahmequalität sicher besser sein könnte .... sie ist aber gut genug, um den Ausnahmerang dieser Einspielung erahnen zu können. Insbesondere die Stretta hat es in sich.

     

    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Ich gebe offen zu, daß ich mit der h-moll-Sonate nicht gerade "befreundet" bin - wie mit Liszt generell nicht, dessen Kühle gepaart mit Virtuosität mich bislang noch nicht so recht angesprochen hat. Doch die schöne Einführung, lieber Alexander, könnte mich veranlassen, das noch einmal zu überprüfen, auch wenn ich von der Sonate nur eine einzige Aufnahme bei mir finde, doch die ist, glaube ich, gar nicht so übel:

    Es spielt Nikolai Demidenko (Hyperion, aufg. 1992).

    Bei Gelegenheit mehr. ;+)

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ebenfalls Brendel folgend, lässt sich das Werk in fünf Abschnitte gliedern.
    a) Exposition, erste Durchführung, erste Scheinreprise
    b) Rezitativ
    c) „Langsamer Satz“ (Andante) – Mittelteil mit zweiter Durchführung
    d) Fugato. Zugleich zweite Scheinreprise, dritte Durchführung und „Scherzo“
    e) Reprise und Abschied

    Es ist aber wirklich nicht zwingend notwendig, diese Abschnitte hörend mitzuvollziehen. Der Sog der Musik erschließt sich bei „gelebter“ Interpretation jedem offenen Hörer individuell, egal welche musikwissenschaftliche Vorbildung er mitbringt.

    Schon richtig, trotzdem fände ich eine Diskussion über die Struktur der Sonate interessant: Sie gilt ja als wichtigstes Beispiel für die Integration des viersätzigen Aufbaus einer Sonate in einen einzigen Sonatenhauptsatz, also für die romantische :D Synthese zweier klassischer :D Formprinzipien. Charles Rosen behauptet zwar, das hätte eigentlich schon Schumann im (ursprünglich ja auch alleinstehenden) Kopfsatz seines a-moll-Klavierkonzerts geleistet - was ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann. Bei Liszt kommt außerdem noch eine Art Bogenform dazu: das Ende führt zum Anfang zurück, und der (nicht nur dynamische) Höhepunkt liegt ziemlich genau in der Mitte des Werks (Apotheose des Grandioso-Themas im "langsamen Satz").


    Wie auch immer, Wagner fand die Sonate toll, als Karl Klindworth sie ihm in London vorspielte - und ich schließe mich ihm da ausnahmsweise vorbehaltlos an :D.

    Die von Dir, lieber Alexander, zitierte Einführung Brendels in das Werk war mir damals, als ich die Sonate kennenlernte, auch sehr hilfreich. So wie ich die Aufnahme Brendels (die aus den frühen 80ern, nicht die spätere) in ihrer musikalischen Souveränität immer noch bestechend finde. Auch wenn einige Experten vorhin wieder herausgefunden haben, dass Brendel kein Liszt-Pianist war.

    Verschlossen bleiben mir dagegen bisher sowohl die klassische Virtuoseninterpretation von Horowitz wie auch die unglaublich langsame Lesart Afanassievs (43 Minuten, wenn ich nicht irre).


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Charles Rosen behauptet zwar, das hätte eigentlich schon Schumann im (ursprünglich ja auch alleinstehenden) Kopfsatz seines a-moll-Klavierkonzerts geleistet - was ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann.

    Kurzes OT: Ich hab den Rosen zwar nicht gelesen, aber eine viersätzige Sonate steckt natürlich nicht drin im Kopfsatz von op. 54. Dafür aber eine dreisätzige Konzertform, die man schon ganz gut erkennen kann, wie ich finde. Aber das sollte man in einem entsprechenden Thread diskutieren, den wir wohl noch gar nicht haben...

    :wink:

    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Die Vorbilder sind wohl eher die im Eingangsposting schon erwähnte Wandererfantasie, die von einem Thema bestimmt wird, auch wenn die noch 4 getrennte (allerdings für Schubert recht kurze) Sätze, von der Liszt ja eine Fassung mit Orchester erstellt hat und die beiden Beethovenschen Finalsätze, in denen sich ebenfalls die Überlagerung von Mehrsätzigkeit und den Teilen der Sonatenform erkennen lässt: op.133 und besonders der Schlusssatz der 9. Sinfonie. Letzterer beginnt als Variationensatz, das erste "Seitenthema" ist der alla marcia B-Dur-Abschnitt, zugleich Scherzando/Scherzo, die erste Durchführung das instrumentale Fugato, der "langsame Satz" dann "Seid umschlungen", erneute Durchführung (Chor-Doppelfuge), Reprise und Coda.

    Kater Murr

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Eine Diskussion zur Struktur der Sonate lese ich gerne, beteiligen werde ich mich, derzeit "den Seelen der Aufnahmen nachspürend", eher nicht daran. Bitte um Verständnis.

    Das Faustische im Interpretationsansatz, also weniger vom gesamtstrukturellen formalen Aufbau her, sondern vom emotional besetzbaren Dreieck Faust - Gretchen - Mephisto, von Liszt selbst offenbar für dieses Werk nicht "vorgeschrieben", aber von Interpreten wie Brendel oder Arrau deutlich hervorgehoben, gefällt mir sehr gut. Ich glaube auch dass es für Hörerinnen und Hörer ohne Notenkenntnisse und ohne den Willen, das Werk strukturell durchhören zu wollen, ein guter Anhaltspunkt sein kann, diese durchschnittlich 30 Minuten "durchzuhalten".

    Das erste Mal gehört habe ich diese Sonate im Wiener Musikverein am 13.1.1982 in einem Konzert des Wiener Pianisten und Hochschullehrers Alexander Jenner, der davor "zwei nette kleine Einspielstücke" bot, Beethovens Sonate c-moll op. 111 und Chopins Sonate b-moll op. 35, ein Konzert, das mich damals ungeheuer beeindruckt hat, der Werke und der Leistung wegen. An Details kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Aufzeichnungen zu Kulturthemen liegen konsequenter erst seit 1986 vor, so also auch nicht zu meiner zweiten Live-Konzerteerfahrung mit dieser Sonate im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses im Herbst 1985 mit dem damals als Junggenie gefeierten Dimitris Sgouros. Das erste Mal bewußt von Tonträger gehört habe ich die Sonate im Jahr 1988 mit Leonid Brumberg. Den ersten Hörvergleich unternahm ich im Herbst 1995 mit Rafael Orozco (Aufnahme vom März 1990, virtuos, expressiv) und Igor Ardasev (Aufnahme vom Dezember 1990, kühler, glasklar, distanzierter). Die Horowitz-Aufnahme von 1977 wurde am 27.1.1998 im Radiosender Ö 1 gespielt, ich habe sie damals auch "zwischen Himmel und Hölle" empfunden. Das dritte Mal live hörte ich die Sonate im Wiener Musikverein am 12.2.1998 mit Stefan Vladar, der es verstand, den großen Bogen zu spannen und der das Werk kurzweilig, aus einem Guß bot, mit weichem Anschlag, wie Brendel auch. Ich habe damals notiert, Vladar habe das Werk "mit Anstand und Bravour bewältigt". Ö 1 sendete am 13.10.1998 eine Konzertaufzeichnung vom 14.5.1998 aus dem Brahmssaal des Wiener Musikvereins. Barbara Moser, die Pianistin dieser Aufzeichnung, spielte die Sonate mit ausgefeilter Technik, mit poetischer Gestaltungskraft - eine starke Leistung (fand ich damals), aber wie bei Ardasev fehlte etwas die "Weisheit". (Vielleicht würde ich dies heute anders empfinden.) Im September 1990 (auffallend, wie viele Aufnahmen um 1990 herum entstanden!) nahm Barbara Moser die Sonate schon für CD auf (1998 im Zusammenhang mit der Radioaufzeichnung gehört), mit stupender Technik, poetisch gut durchfühlt, aber insgesamt mehr die Technik vorweisend als Reife und Durchgeistigung. (So mein damaliger Höreindruck.) Nach 12 Jahren Pause also nun der konsequente Hörvergleich.

    Mein Grundansatz: Eine Aufnahme mit Klavierauszug hören und innerlich wirken lassen. Danach mindestens ein paar Stunden Hörpause, ideal ist mindestens ein Tag bis zur nächsten Aufnahme, wenn nicht mehrere. Mit Beginn der neuen Interpretation versuchen zu vergessen was war, alles, am besten die ganze Welt. Sich völlig neu hineinfallen lassen. (Dafür ist dieses Werk ideal. Wie die Interpretinnen und Interpreten die G-Oktaven spielen und die absteigenden Tonfolgen - da tun sich meist wirklich neue Welten auf...) Natürlich fallen Detailunterschiede auf, aber mir geht es mehr um das große Ganze, um den Gesamteindruck, und da vor allem um das eigentlich Unerklärliche, um die Seele der Musik. Nichtsdestotrotz habe ich auch den allerhöchsten Respekt vor den "menschlichsten" Aufnahmen.

    Was Einzelne aus dieser Sonate herausholen, wohin sie führen, woher sie kommen, wohin sie gehen, ist unglaublich.

    Ich hoffe ich nehme Gurnemanz jetzt nichts weg, aber wie es der Zufall will hat er gestern ausgerechnet auf diese Aufnahme verwiesen, die ich vorhatte zu hören. Gedacht - geschehen - und gestaunt.

    Nikolai Demidenko (geb. 1955) – Nicht von dieser Welt
    CD Hyperion/Helios CDH55184
    Aufnahme: 5. und 6.2.1992, Suffolk, The Snape Maltings
    Spielzeit 32:53 Minuten
    Die beiden Abstiege des Beginns zum Zerreißen gespannt, extrem langsam. Das verheißt Kontraste. Aber man kriegt unendlich viel mehr. Demidenko „lebt“ das Werk, in Dramatik, Wut, Trotz und Poesie. Er achtet dabei sehr genau auf Präzision in der Wiedergabe des Notentextes, passt auf, dass nichts verwischt wird. Das unerklärliche Geheimnis der ganz Großen – nicht Tastendonner und Kitsch, sondern ein beseeltes Wunder. Das „Gretchen“ Thema etwa, oder wie er „aus dem versunkenen Nichts heraus“ das Fugato entwirft – unbeschreibliche Momente genialen Klavierspiels. „Es“ ist einfach da. Hören und staunen. Drei Minuten länger als der Durchschnitt sind hier drei Minuten Zeitgewinn. Ich behaupte: Eine Jahrhundertaufnahme.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lieber Alexander,
    ich möchte mich erst einmal auf diesem Wege für diesen tollen thread bedanken.

    Dein sehr gewissenhaftes Vorgehen, was die Hörvergleiche angeht, finde ich bemerkenswert und ja, so sollte es sein.

    Dein Beispiel sollte sich jeder zu Herzen nehmen, finde ich.

    Selber bin ich zwar ein Bewunderer der Liszt- Sonate, aber kein Experte. Insoferne ist dieser thread für mich sehr, sehr lohnend, denn ich kann sehr vieles daraus "mitnehmen" und lernen.

    Seit meiner Kindheit bin ich eine Fan des letzthin im hohen Alter verstorbenen Earl Wild.
    Wild hat in den 40ern als noch junger Mann über den Rundfunk eine Live- Aufnahme dieser Sonate gemacht, welche mir ziemlich den Atem raubt.

    Hörschnipsel kann man sich hier anhören:

    "http://www.ivoryclassics.com/jukebox/jukebo…t=0&scrollTop=0" "

    Ich denke, der link sollte funktionieren, man muß dann aber die Sonate noch einmal extra anklicken.......

    Vielleicht stößt dies ja auf Dein Interesse?

    Lieben Gruß,
    Michael

  • Vielleicht stößt dies ja auf Dein Interesse?

    Hallo Michael,

    ich bin zwar nicht Alexander und ich kenne die Liszt'sche Klaviersonate auch nicht besonders gut. Aber die ersten Hörminuten der Aufnahme klingen ja wirklich irre. Da bezweifle ich ja, daß ich die Sonate überhaupt kenne ;+)

    Das muß ich mir etwas wacher mal genauer anhören. Danke für den Tip.

    Viele Grüße,

    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

  • Liebe Mela,
    Wild kann man mit einem perfekt eingestellten Ferrari vergleichen. Wenn er perfekt eingestellt war, dann gab es quasi (denke ich) zu seiner Zeit keinen virtuoseren Pianisten als Ihn.
    Natürlich war er aber kein Ferrari sondern ein Mensch, und häufig war auch er halt nicht "perfekt eigestellt". Er war dann zwar immer noch saugut, schoß aber über's Ziel hinaus oder spulte nur seine Runden ab.

    Jedenfalls ist er ein sehr bemerkenswerter Pianist gewesen, der äußerst sympathisch keine Berührungsängste auch mit "leichterer" Musik hatte. Ein sehr warmherziger (ja.... :hide: ) und liebenswerter Mensch, der in jedem Falle zu den ganz großen Pianisten gezählt werden muß.

    Viele Grüße,
    Michael

  • Lieber Michael,

    ich kenne Wild bisher nur dem Namen nach. Wie gesagt, morgen muß ich mir das nochmal anhören. Ich fürchte, dann wird doch noch eine Bestellung fällig. Seufz... ;(

    ;+)

    Viele Grüße,

    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

  • Ich dachte, er würde noch leben, sehe aber eben, dass Earl Wild im Januar diesen Jahres verstorben ist. Er hat ja im hohen Alter noch bemerkenswerte Aufnahmen gemacht.

    Diese alte Aufnahme ist schon ein ein Hammer, sehr speziell. Ich hatte sie lange nicht mehr gehört, aber dieses Flirrende, Unruhige und Nervöse darin hat mich gleich wieder angezogen. Wild spielt die Sonate kraftvoll und virtuos, mit brillanten Akzenten und scharfen Kontrasten; sehr ästhetisch auch. Mich reißt er mit, dieser etwas selbstverliebte, natürlich-romantische Tastenlöwenstil des jungen Earl Wild. Finde ich viel besser als seine spätere Einspielung, die gemäßigter daherkommt.

    Gruß, Cosima

  • Vielen Dank für die wertvollen Earl Wild Empfehlungen!

    Sergio Fiorentino (1927 - 1998) - Eine Momentaufnahme
    CD Appian Pubications & Recordings APR 5562
    Aufnahme: 18. und 19.10.1997 (auch andere Werke von Liszt), Berlin, Konzertsaal Siemensvilla
    Spielzeit: 30:24
    Eine der letzten Aufnahmen des in Neapel geborenen und verstorbenen Pianisten. Beherzt zupackend, impulsiv, gibt hörbar alles. Einige Fehlgriffe sind nicht retuschiert - das finde ich sehr ehrlich und authentisch. Es vermittelt mir den Eindruck, der Interpret sagt: "So ist mir dieses Durchspielen gelungen und dazu stehe ich." Bei dieser Aufnahme (hört man sie mit dem Notentext vor sich) merkt man auch, dass der Pianist "harmonisch" denkt, er greift manchmal statt einzelner vorgeschriebener Töne gleich die Harmonie dazu oder versetzt die Harmonien in andere Lagen.

    Weiter geht es von mir aus frühestens am 29.12., bis dahin wünsche ich allen frohe Festtage oder zumindest viele erbauliche Stunden mit Musik!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Yundi Li (geb. 1982) – Demonstriert Facettenreichtum
    CD DGG 471 585-2
    Aufnahme: Oktober 2002, Berlin, Teldex-Studio
    Spielzeit 29:57 Minuten
    Zeigt was er kann und verteilt Rosen. Spielt auf der Klaviatur der Gefühle. Technisch beeindruckend. An der Seele der Musik arbeiten Menschen oft ihr Leben lang. Den Anfang hat er gemacht. Zukunft hat er sicher auch. Keineswegs nur als Mädchenschwarm.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Oleg Marshew (geb. 1961) – Dem Geheimnis auf der Spur
    CD Danacord DACOCD 653
    Aufnahme: Februar 2006, Aalborg (Dänemark)
    Spielzeit 29:20 Minuten
    Ein Geheimtipp! Marshew entfaltet ein gewaltiges Seelengemälde. Auffallend sind einige bewusste Abtönungen. Liszt ist (wie ich es empfinde) in dieser Interpretation Chopin ganz nahe. Sehr transparentes und gleichwohl hochemotionales Klavierspiel. Großartige Steigerungsbögen, gelebte Verinnerlichungen. Außerdem auf der CD enthalten: Carl Tausigs Klavierfassung von Liszts Symphonischer Dichtung „Tasso“ und Liszts eigenes Arrangement des „Gretchen“ Satzes aus der Faust-Symphonie.

    Im nächsten Jahr folgen hier weitere persönliche CD-Höreindrücke. Zumindest zweimal werde ich (wenn alles klappt) das Werk auch live hören, am 5.2. in der Münchner Philharmonie im Gasteig (Kissin) und am 17.3. in Liszts Geburtsort Raiding (Pogorelich).

    Allen einen guten Rutsch ins (Nicht nur-)Liszt-Jahr 2011!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lazar Berman (1930 – 2005) – Totale Identifikation
    CD Saga Classics/CNR Music 22 223292
    Aufnahme: März 1958, London
    Spielzeit 27:54 Minuten
    Eine der 17 (!) Aufnahmen dieses Pianisten. Mein Höreindruck: Ein unglaubliches pianistisches Feuerwerk, totale Identifikation, zwischen wilden Entladungen und völligem Stillstand. Hier zählt nur die Gegenwart, hier heben einander Vergangenheit und Zukunft auf. Sicher eine der tollsten Aufnahmen des Werks – und (zumal erst recht im Second Hand Bereich) oft spottbillig zu haben.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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