Franz Liszt – "der irrende Ritter aller möglichen Orden"
In diesem Thread sollen Stimmen zu Franz Liszt gesammelt werden. Wie schätzt Ihr Liszts Bedeutung in der Musikgeschichte ein? Interessiert Euch seine Musik (oder seine Person)? Hört Ihr oft Liszts Werke? Welche? Mögt Ihr sie oder nicht?
Ich vermute, dass sich nicht eben viele Anhänger des Komponisten einfinden werden, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Man liest hier gelegentlich gleichgültige oder abfällige Bemerkungen über Liszt. Nur drei Threads – über die Lieder, das Klavierwerk allgemein und über die h-moll-Sonate – existieren bei Capriccio (Chopin: 7, Schumann: 13). Bei „Eben gehört“ sieht man fast nie Liszt-CDs, mit Ausnahme der h-moll-Sonate (und dies auch erst seit Alexanders Threaderöffnung).
In diesem Fall scheint das von mir erwartete Meinungsbild bei Capriccio sich nicht sehr von dem der ganzen musikinteressierten Öffentlichkeit zu unterscheiden: Natürlich, Teile des Klavierwerks wurden und werden von vielen Pianisten im Repertoire geführt, mit der h-moll-Sonate an der Spitze. Aber diese bekannteren Werke sind nur die Spitze des Eisbergs: Im größten Aufnahmeprojekt, das je in der Geschichte der Tonaufzeichnung von einem einzelnen Künstler unternommen wurde, hat der Pianist Leslie Howard das Gesamtwerk Liszts für Klavier eingespielt: insgesamt 99 CDs (zum Vergleich: Schumann ca. 15, Chopin ca. 20). Die sinfonischen Dichtungen aus den 1850ern gelten zwar musikgeschichtlich als Markstein in der Geschichte der Sinfonik im 19. Jahrhundert, werden aber nur selten aufgeführt und wohl nicht viel häufiger gehört. Von den Liedern ist, wenn überhaupt, nur eine Handvoll bekannt – immerhin wagt sich Hyperion im Jubeljahr an eine Gesamteinspielung. Die Oratorien und die Sakralmusik? Das Orgelwerk?
Ich selbst kenne vieles nicht und habe auch zu einigen mir bekannten Werken ein gespaltenes Verhältnis: so beeindruckend Teile der sinfonischen Dichtungen und der Faust-Sinfonie immer wieder sind, so sehr bin ich dann doch manchmal gelangweilt – z.B. bei harfenumrauschten lyrischen Passagen, vorzugsweise in Des-dur. Viele der bekannteren Klavierwerke, nicht nur die h-moll-Sonate, finde ich großartig: an der Spitze die späten Klavierstücke, die zur traurigsten und schwärzesten Musik überhaupt gehören. Die zwei großen Orgelwerke (Fantasie und Fuge über Ad nos und Präludium und Fuge über den Namen BACH) habe ich inzwischen kennen- und schätzengelernt, woran ein Capriccio-User nicht ganz unbeteiligt war. Aber die beiden großen Oratorien (Elisabeth und Christus) habe ich noch nie zur Gänze gehört, irgendwann steige ich immer genervt aus…
Schon zu Lebzeiten war Liszts Erfolg als Komponist begrenzt: In den 1830ern und 40ern verkauften sich Chopins Klavierwerke weitaus besser, Liszt wurde überwiegend als Pianist geschätzt. Das änderte sich auch dann nicht, als er sich seit ca. 1850 auf das Gebiet der Orchestermusik verlagerte und eine Zeitlang als Haupt der „Neudeutschen“ agierte – sehr schnell wurde Liszt in der öffentlichen Wahrnehmung von Richard Wagner überflügelt. In seinen letzten beiden Jahrzehnten war er nach wie vor eine Berühmtheit, aber seine Werke wurden eher selten und widerwillig aufgeführt. Hans von Bülow, Liszts Schüler und temporärer Schwiegersohn, hat bis an das Ende seiner Karriere aus Dankbarkeit gegen den Lehrer und Förderer dessen Klavierwerke aufgeführt, ohne viele von ihnen wirklich zu schätzen. Immerhin hat Liszts emsiges Wirken als Lehrer eine ihm treu (bisweilen hündisch) ergebene Schülerschar hervorgebracht, die dann wiederum durch ihre Schüler die Geschichte des Klavierspiels maßgeblich prägte. Liszt war der erste moderne Pianist. Der technische Durchbruch, der ihm in den dreißiger und vierziger Jahren gelang, war in der Geschichte des Klaviers beispiellos. Alle nachfolgenden Schulen waren Zweige seines Baums. (Alan Walker)
Wie aber steht es um Liszts Bedeutung als Komponist? Ein fast schon zum Topos gefrorenes Urteil lautet, Liszt sei größer als Anreger denn als Schöpfer großer Werke gewesen. Zwei sehr unterschiedliche Komponisten haben erstaunlich ähnlich geurteilt.
Arnold Schönberg 1911: Obwohl sein Werk anscheinend hinter gewissen Ansprüchen zurückbleibt, darf man nicht übersehen, wie viel an rein Musikalisch-Neuem […] darin steckt. War er doch einer derjenigen, die den Kampf gegen die Tonalität eingeleitet haben; durch Themen sowohl, die nicht unbedingt auf ein solches Zentrum hinweisen, wie auch durch viele harmonische Einzelheiten, deren musikalische Ausschöpfung von den Nachfolgern besorgt wurde. Darin überhaupt, in den vielen Anregungen, die er seinen Nachfolgern hinterließ, ist seine Wirkung vielleicht größer als die Wagners.
Béla Bartók 1936: Liszts Werke wirkten befruchtender auf die nachfolgenden Generationen als die Wagners. […] Wagner hatte seine Aufgabe in vollem Umfang bis ins letzte Detail so perfekt gelöst, daß man ihn eigentlich nur noch sklavisch nachahmen konnte […]. Liszt dagegen lässt in seinen Werken so viele neue Möglichkeiten anklingen – ohne sie selbst bis zum letzten ausgeschöpft zu haben –, daß von ihm unvergleichlich viel stärkere Impulse ausgehen als von Wagner.
Schönberg weist (wenig überraschend) vor allem auf harmonische Neuerungen hin. Bereits 1833 komponierte Liszt ein Klavierstück ohne Taktart und ohne vorgezeichnete Tonart, mit scheinbar unzusammenhängenden Harmonien, langen Pausen und freien Kadenzen. Bekannter sind das zwölftönige Anfangsthema der Faust-Sinfonie, die wie aus der Zeit gefallenen Quartschichtungen des Prometheus-Beginns und die Auflösung der Tonalität in den späten Klavierstücken. Als weitere musikgeschichtliche Errungenschaft gilt Liszts innovative Verschmelzung von Viersätzigkeit und Sonatensatzform, am bekanntesten in der h-moll-Sonate, aber auch in der Dante-Sonate, dem A-dur-Klavierkonzert und den sinfonischen Dichtungen realisiert.
Möglicherweise ist der Mangel an geschlossenen, „gelungenen“ Werken Liszts aber auch auf eine Skepsis des Komponisten gegenüber dem trtadierten Werkbegriff zurückzuführen. Die Zahl der Werke Liszts, die nur in einer Version vorliegen und nicht thematisch auf andere zurückgreifen, macht nur wenig mehr als ein Fünftel seines Gesamtwerks aus (D. Redepennig). Oft sind die verschiedenen Fassungen als gleichberechtigt zu betrachten. Zum einen bei den Klavierfassungen eigener (oder auch fremder) Orchesterwerke: Hier fertigt Liszt meist keine reinen Klavierauszüge an, sondern nimmt einschneidende Änderungen vor, komponiert das ursprüngliche Werk weiter. Die vielen "Transkriptionen" von Werken anderer Komponisten wollte Liszt ja auch als eigenständige Kompositionen verstanden wissen. Gerade im Spätwerk Liszts finden sich dann viele Stücke, die von vornherein für verschiedene Besetzungen komponiert werden: Das kurze Klavierstück Am Grabe Richard Wagners (mit Zitaten des Abendmahls- und des Glockenmotivs aus Parsifal) existiert auch in einer Orgel- und in einer Streichquartettfassung. Schließlich Werke, die bei gleichem "poetischen" Inhalt, der sich in der identischen Überschrift manifestiert, unterschiedlich ausfallen: die beiden Trauergondeln (wobei die zweite selbst wiederum in zwei Fassungen für Klavier solo und für Klavier mit Violine oder Violoncello vorliegt) oder die beiden thematisch verwandten, aber sonst sehr verschiedenen Fassungen von Aux cyprès de la Villa d'Este. Bereits für die Dante-Symphonie hat Liszt zwei ganz verschiedene Schlüsse komponiert, wobei er die Entscheidung für die eine oder andere Variante dem Dirigenten überlässt. Wolfgang Dömling hat darauf hingewiesen, dass eine solche Ästhetik im 19. Jahrhundert, das einen Kult um das "Originalwerk" betrieb, absolut unzeitgemäß war. Die Verweigerung einer eindeutig fixierten Werkgestalt (die bei Zeitgenossen Liszts zu Irritationen führte) gibt dem Gesamtwerk des Komponisten eher einen bemerkenswerten "work-in-progress"-Charakter.
Bleibt noch ein Blick auf das Persönlichkeits- und Sozialprofil Liszts, das zu den erstaunlichsten eines Komponisten im 19. Jahrhundert gehört. Das beginnt mit der Nationalitätenfrage: Liszt, der keinerlei ungarische Vorfahren hatte und die ungarische Sprache nie erlernte, betrachtete sich selbst als Ungar. Im deutschsprachiger Umgebung aufgewachsen, lebte Liszt seit seinem zwölften Lebensjahr in Paris und wurde dank seiner perfekten Assimilierung und Beherrschung der Sprache vielfach als Franzose wahrgenommen. Das hinderte ihn nicht daran, sich seit der Mitte des Jahrhunderts in Weimar explizit als Erneuerer deutscher Kultur zu verstehen. Schließlich warf sich Liszt, der seit seinen Jugendjahren gelegentlich einer schwärmerischen Religiosität huldigte, der größten supranationalen Organisation an den Hals: der katholischen Kirche.
Sein Kosmopolitismus brachte ihm im Zeitalter des Nationalismus Probleme ein; Liszt selbst empfand sich – trotz voluntaristischem Ungartum und Katholizismus – zunehmend als heimatlos und pendelte verbittert zwischen Weimar, Pest und Rom hin und her. In politischen Fragen verweigerte er schließlich jede Stellungnahme. Die Hinwendung des zeitweise glühenden Saint-Simonisten und Anhängers der Revolutionen von 1830 und 1848 zum Katholizismus ist gar nicht mal so ungewöhnlich. Allerdings neigte Liszt immer dazu, allen möglichen Weltanschauungen und Richtungen gleichzeitig anzugehören: er sei der irrende Ritter aller möglichen Orden, so Heinrich Heine 1844. Merkwürdig mutet es auch an, wenn der mehrfach öffentlich in freien Liebesbeziehungen lebende und bis ins Alter häufig wechselndem Geschlechtsverkehr frönende Liszt Papst Pius IX. beim Singen von Bellini-Arien am Klavier begleitet, die niederen Weihen empfängt, sich in das Gewand eines Abbé kleidet und die Ernennung zum Direktor der Sixtinischen Kapelle erhofft – natürlich vergeblich.
Zu den sympathischsten Wesenszügen Liszts zählen seine uneigennützige Förderung von Schülern und Kollegen sowie seine Großzügigkeit: außer Ludwig II. hat wohl niemand Wagner (nicht nur) finanziell so unter die Arme gegriffen wie Liszt. Die zeitweise enthusiastische Freundschaft endete in einer Hassliebe, bei der sich beide nichts schenkten. Größte Bedeutung hat Liszts Förderung von osteuropäischen Komponisten gehabt: viele, in Russland etwa Borodin, haben es ihm gedankt. Auch Smetana, der sich als völlig unbekannter 24jähriger brieflich an Liszt um Hilfe wandte, empfing sofort großzügigste Unterstützung, was zu einer lebenslangen, ungetrübten Freundschaft beider Komponisten führte.
Viele Grüße
Bernd