ZitatDas Problem ist, dass - ob es uns gefällt oder nicht - von Lully bis Barenboim viele "Despoten" unter den Dirigenten künstlerisch überwältigende Ergebnisse vollbracht haben.
Da tut sich für mich gleich ein ganzer Sack von Fragen auf.
Wo sind die Grenzen des Despotismus? Rechtfertigt das "überwältigende Ergebnis" grundsätzlich alles? Oder zunimdest: wieviel rechtfertigt es? Panem et circenses? Wobei ja noch zu berücksichtigen wäre, daß die Opfer die "anderen" sind, diejenigen, die das überwältigende Ergebnis zwar überhaupt erst ermöglichen, nicht aber in personam die Meriten davon geniessen. Steht der Künstler über dem guten Benehmen, über der Art und Weise, wie gesittete und gebildete Mitteleuropäer üblicherweise miteinander umgehen? Akzeptieren wir das in anderen Situationen auch, wenn jemand in der Öffentlichkeit andere beschimpft, beleidigt, bloßstellt und rumbrüllt, weil ihm etwas nicht passt? Finden wir dort auch Entschuldigungen? Oder ist das dort eher die Verhaltensnorm für den Pavianfelsen? Kennzeichen von Defiziten in der sozialen Kompetenz? Bei Jugendlichen nennt man so etwas "verhaltensauffällig"...
Es gibt einen Unterschied zwischen Autorität und Kompetenz auf der einen Seite und Despotismus und schlechtem Benehmen auf der anderen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Niemand hat etwas gegen sachlich begründete und vorgetragene Kritik. Und jede derartige Kritik kann in einer Weise vorgebracht werden, die dem Kritisierten erlaubt, das Gesicht zu wahren. Aber es gibt für niemanden in Führungsposition, auch nicht für Dirigenten, eine nachvollziehbare Notwendigkeit, sich wie ein Unteroffizier auf einem wilhelminischen Kasernenhof zu benehmen. Leider ist nicht jeder geeignet, Macht über andere ausüben zu dürfen...
In Preussen gab es mal die Ideologie, daß die "Kerls" vor ihrem Feldwebel mehr Angst haben müssen, als vor dem Feind. Treppenwitz der Geschichte: DIESE Armee war gegen den ersten vergleichbaren Gegner nicht sonderlich erfolgreich ("Der König hat eine Bataille verloren..."), das aber nur nebenbei. Beispiele, bei denen es trotzdem "funktioniert" hat, sind nicht wirklich aussagefähig, denn das Gegenbeispiel, wie es denn gewesen wäre, wenn sich der Dirigent anders verhalten hätte, unter ansonsten unveränderter Konstellation, existiert ja nicht. Ein direkter Vergleich ist somit nicht möglich. Die Ableitung, daß das Ergebnis DESWEGEN so überwältigend war, WEIL sich der Chef daneben benommen hat, ist daher schon formal-logisch nicht zulässig. Wir wissen nicht, ob Lully oder Barenboim bei anderem Führugsstil zu nicht noch überwältigenderen, zumindest aber ebensolchen Ergebnissen gekommen wäre! Bei allem, was wir heute über die Psychologie von Führungsprozessen wissen, ist letzeres allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
Und ganz nebenbei: Mobbing ist u.U. justiziabel, sowohl bei denen, die es betreiben, als auch bei Vorgesetzten, die es zulassen. Für Bossing gilt das deutlich verschärft. Wer als Vorgesetzter einen Mitarbeiter drangsaliert oder bloßstellt, steht mit einem Bein vor dem Kadi. "Künstlerisches Motiv" zählt dort nicht.