Autoritär oder kollegial? Über den Führungsstil im Orchester
Anlaß für diese Eröffnung ist ein Hinweis von Arundo Donax anderenorts, den ich gerne aufgreife:
Der bekannte Oboist Albrecht Mayer hat sich kürzlich bemerkenswert offen über die Erfahrungen geäußert, die er bei den Berliner Philharmonikern machen durfte/mußte, nachzulesen in einem Interview der Frankfurter Rundschau ("Sie wollten mich brechen"). Er spricht von "unmenschliche(m) Druck": In seiner Anfangszeit dort (in den 1990ern) hätten die Alten versucht, die Jungen zu biegen und zu brechen, geprägt vom Herbert von Karajan: "Zweifelsfrei hat Karajan viel für die Philharmoniker geleistet, aber seine Ära war für die Musiker eine freudlose. Die haben immer den Stiefel im Nacken gespürt. Fehler waren fatal, und Karajan allein hat bestimmt, was falsch oder richtig, was schlecht oder gut war. Es gab ja keinerlei Interpretationsspielraum. Wenn Karajan sagte: So und kein bisschen anders hat’s zu klingen, wurde das eisern durchgezogen."
Dagegen der Nachfolger Claudio Abbado, den Mayer offen verehrt: "Ich genieße die himmlischen Gefilde, in die er uns geführt hat, diese Kollegialität, das Fingerspitzengefühl im Umgang miteinander. Abbado war ein Glücksfall für die Philharmoniker, weil er uns nicht beschnitten hat wie Bonsaibäumchen. Er reicht seinen Musikern die ausgestreckte Hand, er hat bewiesen, dass man andere zu Höchstleistungen motiviert, gerade weil man mit ihnen kommuniziert, weil man ihnen mit Respekt begegnet – vor ihrer Meinung und ihrem Talent."
Mayer unterscheidet die Autokraten, neben Karajan Sergiu Celibidache und Daniel Barenboim, von den kollegialen Chefs, neben dem "souveränen Maestro" Abbado auch Sir Simon Rattle.
Die hier angesprochene Problematik findet sich nicht nur dort, wo Musik gemacht wird; dergleichen gibt es auch in Firmen, in Sportvereinen, überall dort, wo es Hierarchien gibt, wo geführt wird. Auch das wird im Interview angesprochen.
Doch zurück zur Musik. Mayer sagt, daß auch das Ergebnis autokratischer Führung (bei Karajan) entsprechend gewesen sei: "unfrei, irgendwie nach Straflager" habe es geklungen. Frage: Gilt so etwas generell, gilt das überhaupt? Kann etwa ein autokratischer Dirigent, der auf die Bedürfnisse seiner Musiker keine Rücksicht nimmt, eine authentische Aufnahme einer Mahler-Symphonie zustandebringen, bei der individuelles Leiden geradezu Thema ist? Oder können - z. B. bei einer Beethoven-Symphonie - die armen Orchesterleute ihren Frust produktiv nützen und eine besonders trotzige und aggressive und damit womöglich werkgerechte Interpretation schaffen?
Oder, ganz allgemein gefragt: Was meint Ihr (Musiker wie Hörer) zu Albrecht Mayers Äußerungen?