BACH, Johann Sebastian: Johannes-Passion BWV 245

  • Ich habe die Aufnahme und halte sie für den Knaller schlechthin. Die Rezensionen bei amazon gehen schon in die richtige Richtung. Wenn man mit diesem hochlebendigen, bisweilen aggressiven Zugang zu einer Passionsmusik einverstanden ist ...

    Dem kann ich nur zustimmen. Ich halte diese Aufnahme für äußerst gelungen.

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    Kleiber, Erich (live: 22.09.1938, Buenos Aires) – Koloman von Pataky, Herbert Janssen, Margherita Perras (fälschlich als Margarita Perkas), Karin Maria Branzel, Emanuel List, Coro e Orquestra des Teatro Colón [127:31]

    Eine Passion mitten im September? Man mag sich fragen, warum Erich Kleiber die Bach’sche Johannes-Passion 1938 weitab der Passionszeit im Teatro Colón in Buenos Aires aufführte. War es ein Kommentar zur Sudetenkrise, zum drohenden Krieg Deutschlands mit der Tschechoslowakei, in der Kleiber seine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Leidensgeschichte?

    Wie man diese Aufführung auch verstehen mag: der Mitschnitt dieser Aufführung der Johannes-Passion ist der älteste, der uns gegenwärtig vorliegt.

    Insgesamt ist es keine Aufnahme, die ich jenem Klassikfreund empfehlen würde, der nur eine oder auch nur zwei Einspielungen des Werkes in seinem heimischen CD-Regal unterbringen will. Dafür ist allein schon die Tonqualität verantwortlich, die zwar streckenweise erstaunlich gut, im Großen und Ganzen jedoch so schlecht ist, dass sie den Kern des Begriffes „Passion“ für den heutigen Hörer ganz intensiv nachvollziehbar macht. Da rauscht und knackt es nicht nur, es gibt nicht bloß ständige massive Schwankungen in der Lautstärke: das Band leiert streckenweise dermaßen, dass die Tonarten in den Stücken selbst verzerrt werden und deren Verhältnisse von Satz zu Satz bisweilen dermaßen verschwimmen, dass es dem wenig Wackeren kalt den Rücken hinunterlaufen muss.

    Erschwert wird der Hörgenuss auch dadurch, dass der Mitschnitt zwar ziemlich, aber doch nicht vollkommen komplett ist. Es fehlen an den überraschendsten Stellen immer wieder ganze Takte, was bisweilen schon sehr irritieren kann. Komplett fehlt das Bass-Arioso „Betrachte, meine Seel’“, wobei ich nicht glaube, dass nun gerade dieses als einziges gestrichen wurde. Ich mutmaße einfach einmal, dass es nicht mehr vorliegt. Hier eine kleine Übersicht über die Lücken:

    Nr. 1: Takt 55, 3. Zählzeit fehlt; beim Da capo fehlt das Orchestervorspiel, der Chor setzt direkt ein
    Nr. 5: Takt 4, 4. Zählzeit – Takt 5, 3. Zählzeit fehlt
    Nr. 15: Takte 13-15 fehlen
    Nr. 17: 2. Strophe fehlt
    Nr. 19: fehlt
    Nr. 20: Takt 1 fehlt; Takt 11, 2. Zählzeit bis Takt 18 fehlen; nur die Orchestereinleitung wird wiederholt
    Nr. 27a: Takt 1 fehlt
    Nr. 28: Takte 15 und 16 fehlen
    Nr. 29: Takte 1 und 2 fehlen
    Nr. 39 Takte 1-12, Zählzeit 2 (Orchestervorspiel) fehlen


    Darüber hinaus ist die Herangehensweise Kleibers an das Werk in Teilen für mich kaum noch zu ertragen. Ich sage bewusst „in Teilen“, denn hier und dort zeigt die Aufnahme auch, wie gut Bach auch in den 30er Jahren klingen konnte.

    Allen voran zu loben ist Koloman von Pataky als Evangelist. Pataky bringt alles mit, was ich mir auch heute wünsche, wenn es um diese Partie geht: eine leicht geführte Stimme mit klarem Timbre, kraftvoll, aber immer ganz frei und ohne Anstrengung. Daneben: ein ganz unverkrampfter, gewissermaßen „natürlicher“ Umgang mit dem Text, nicht zuviel Schnickschnack in der Ausdeutung – wenn man natürlich von dem einen oder anderen Moment absieht, der mir dem Zeitgeschmack geschuldet zu sein scheint (z.B. das Weinen Petri). In „Ach, mein Sinn“ oder bei der Darstellung der Geißelung hingegen hat er es nicht leicht. Kleibers Dirigat ist hier dermaßen zäh, so wenig bewegt, dass ich das Gefühl habe, es ginge überhaupt nicht voran. Was soll der Solist da noch retten? Technische Schwierigkeiten bereitet Pataky dennoch nichts. Überzeugen kann das aber dennoch nicht. Überhaupt sind die Arien (und die beiden großen Chorsätze) die Schwachpunke dieser Deutung. Dass man Wucht und langsames Tempo auch in jenen Jahren als angemessenen Ausdruck der „Größe“ des Werkes sah, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber die Arien? Die sind oft so breit, dass auch ein so hervorragender Dirigent wie Kleiber das, was er da macht, nicht mehr zusammenhalten kann. Die guten Solisten helfen ein wenig darüber hinweg, weil sie dennoch so gut singen, wie es eben geht.

    Sopranistin Margherita Perras hat es da noch verhältnismäßig gut, da Kleiber für „Ich folge Dir gleichfalls“ ein einigermaßen fließendes Tempo wählt. Sie gefällt mir nicht nur aufgrund ihrer schönen, hell gefärbten, aber dennoch sehr körpervollen Stimme, sondern speziell wegen ihrer vollkommen allürenfreien Darstellung und der Tatsache, dass sie sehr gut artikuliert, selbst wenn Kleiber die ohnehin schon heiklen Arie „Zerfließe, mein Herze“, in der manch eine Sopranistin mehr oder weniger zur Vokalise neigt, im Schneckentempo musizieren lässt.

    Karin Maria Branzel ist ein echter Alt mit voluminöser, aber nicht dicker Stimme, warmem Ton und hervorragender Artikulation. Auch sie kommt mit Kleibers Tempovorstellungen zurecht, wenngleich auch sie es nicht verhindern kann, dass „Von den Stricken meiner Sünden“ aufgrund des gewählten Tempos vollkommen auseinanderbricht. Da betreibt sie eher Schadensbegrenzung als hohe Gestaltungskunst. Anders jedoch „Es ist vollbracht!“, das ja ohnehin langsam gespielt und von Kleiber auch nicht in extra slow motion gespielt wird. Hier kann man hören, wie überzeugend Branzel unter normalen Zuständen Bach interpretieren konnte.

    Ähnlich geht es Emanuel List, der die Bass-Partie(n) übernimmt. Er bringt einen starken, aber nicht aufdringlichen Bass mit und ein untrügliches Gefühl für die szenische Gestaltung der Rezitative. Macht es Spaß ihm dort zuzuhören, so kämpft er in seinen Arien ziemlich mit Kleibers Trägheit. Schade ist, dass er sich in „Eilt ihr angefochtnen Seelen“ offensichtlich verzählt und dermaßen herauskommt, dass es die halbe Arie braucht, bis er wieder hineingefunden hat. „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ klingt dann wieder, als verstreiche man ganz wenig Butter auf zuviel Brot.

    Lediglich Herbert Jenssen Darstellung der Christus-Partie erreicht mich nicht. Nicht nur, dass mir sein etwas kartoffeliger Bariton nicht gefällt (dem das tiefe Register vollkommen abgeht). Auch die Charakterisierung der Figur ist in meinen Ohren nicht stimmig. Zuerst sehr sanft, etwas salbadernd, dann vor den Hohepriestern mit erstaunlich viel Biss, vor Pilatus erstaunlich blass, auf Golgatha unerfreulich larmoyant.

    Ist das jetzt zur Genüge benannte Problem wahrhaftig ein solches, so möchte ich doch nicht verschweigen, dass dieser erste aller Mitschnitte auch seine Meriten hat. Angedeutet habe ich es schon: die Rezitative, die Vorwärtsbewegung der Handlung gelingt gut. Da klingt es nach durchweg geistlicher Bühne, nach Drama - nicht nach Epos. Hier fügen sich auch die Turbae glänzend ein, sind sie doch – bis auf das kurze, aber heikle „Bist du nicht seiner Jünger einer“ – so packend und griffig musiziert, dass sich so manche spätere Aufnahme hier ein Scheibchen abschneiden könnte. Sicher, der Chor des Teatro Colón ist ein Massenensemble, wie es auch Beechams „Messiah“ gut zu Gesicht gestanden hätte, aber sie singen – wenn auch nicht immer schön – so doch mit Einsatz, Leidenschaft und Überzeugungskraft.

    Hingegen werden der Eingangschor („Herr, unser Herrscher“) und der große Schlusschor („Ruhet wohl“) als das Geschehen umrahmende Monumente musiziert: groß, laut, langsamst. Auch heute nimmt nicht jeder Dirigent diese Chöre eilig. Aber bei Kleiber klingt diese Musik nicht – wie bei Herrweghe, Koopman oder Brüggen - wie mystische Versenkung oder Meditation. Hier klingt sie fast wie tot. Ähnliches gilt - auch dies ein Zeichen der Zeit - für die im breiten Einheitstempo musizierten Choräle, die lediglich dynamisch gegeneinander abegrenzt werden.

    Kleibers Lesart der Johannes-Passion empfinde ich aus heutiger Perspektive als einigermaßen unausgewogen. Damals mag sie beeindruckt, ja im Bereich der Rezitative und Turbae sogar erstaunlich modern geklungen haben. Für den an der Rezeptionsgeschichte des Bach'schen Vokalschaffens ist dies in jedem Fall ein interessantes Dokument.

    :wink: Agravain

  • Werner (1960) – Helmut Krebs, Franz Kelch, Friederike Sailer, Marga Höffgen, Hermann Werdermann, Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn, Südwestdeutsches Kammerorchester Pforzheim [124:10]

    Fritz Werners Bach-Einspielungen gelten als im Schatten Karl Richters stehend, und zwar ungerechtfertigter Weise. Nicholas Anderson, der die Texte im Beiheft zu der oben gezeigten Box verfasst hat, die neben der Johannes-Passion noch die Matthäus-Passion, das Weihnachtsoratorium und die h-moll-Messe enthält, findet für Werners Bach-Exegese blumige Worte:

    „Sein natürliches, feines Gefühl für tänzerische Rhythmen, seine intuitive Ausschöpfung der lyrischen Möglichkeiten einer Phrase und die ansteckend spontane, elektrisierende Energie, mit der er die anschauliche Behandlung eines Textes durch Bach lebendig machen konnte, sind Tugenden, die seinen bemerkenswerten Einblick in diese Musik noch weiter vertiefen.“ (S. Beiheft, S. 30)

    Spontan? Elektrisierend? Energie? Anschaulichkeit? Vergleiche ich Andersons Wahrnehmung mit der meinen, so muss ich zugeben, dass es da im Grunde kaum einen Raum gibt, den ich guten Gewissens als Schnittmenge bezeichnen könnte. Werners Auslotung der Johannes-Passion (und ich darf sagen: dies kann ich auch auf die anderen genannten Großwerke ausdehnen) gehört zu den uninteressantesten, die ich kenne. Selten höre ich ein Bach’sches Werk und ertappe mich dabei, dass ich mich frage, ob es bald vorbei ist. Hier wird’s Ereignis.

    Das für mich entscheidende Problem dieser Einspielung ist a) ein mich nicht ansprechendes Frömmeln – besonders in den Rezitativen; b) die Biederkeit in der Gestaltung; c) die gänzliche Abwesenheit jeglichen Sinns für Dramatik und d) ein rundum schwacher Evangelist.

    Ich will mit dem letzten Punkt beginnen. Helmut Krebs ist ein Sänger, mit dem ich insgesamt nicht viel anfangen kann und der in der Rolle des Bach’schen Evangelisten meines Erachtens gegen aber auch jeden anderen per Tonkonserve zu erlebenden Tenor seiner Epoche abfällt. Nicht nur, dass mir seine kleine kraft- und körperlose Stimme, die immer etwas Falsettierendes hat, nicht gefällt. Viel schlimmer finde ich seinen fast mechanischen Vortrag in den Rezitativen, dessen Duktus sich nicht an der Sprache, sondern lediglich am Notenwert zu orientieren scheint, was bisweilen – beispielsweise bei der vollen Akzentuierung von Nebensilben – ganz fürchterlich klingt. Hinzu kommen gelegentliche technische Schnitzer (Veratmer) und eine wenig schöne, ziemlich breite Vokalfärbung in hoher Lage. Es fehlt an jeder Stelle an Ausdruck, die Darstellung jeglicher Affekte wird fast durchgehend vermieden. Höre ich das, was Krebs hier präsentiert, im Vergleich zu dem, was Pataky, van Kesteren, Altmeyer, Haefliger oder Wunderlich in jener Epoche aus dieser Partie gemacht haben, so empfinde ich ihn als Evangelist der hinteren zweiten Reihe.

    Die Partie des Jesus liegt in den Händen von Franz Kelch. In der Darstellung dieser Partie durch ihn - und natürlich durch Fritz Werner, der hier ja den Weg vorgibt -, wird das mich nicht eben erbauende oben genannte Frömmelnde dieser Einspielung deutlich. Dieser Jesus ist keine handelnde Figur, seine Rezitative sind nicht Teil des Geschehens, sondern weihevolle Auftritte des Gottessohnes, die, wohl um die Andacht des Momentes zu erhöhen, mit einer übergroßen Portion Pathos versehen wurden. Das ist in meinen Ohren zu viel des Guten und meines am Ende nicht. Gar nicht. Hinzu kommt Kelchs eher ältlich klingende, ziemlich schwerfällige Stimme, die einigermaßen unbewegt und unbewegend die Christusworte mehr abwickelt denn gestaltet.

    Erfreulich klingt in meinen Ohren Sopranistin Friederike Sailer, wobei mir ihr mädchenhaftes Timbre insgesamt besser in „Ich folge dir gleichfalls“ gefällt als in „Zerfließe, mein Herze“. Und doch überzeugt mich auch ihre Gestaltung der zweiten Arie („Zerfließe, mein Herze“), weil sie eine sehr schöne, ihr scheinbar ohne Kraftaufwand zur Verfügung stehende Höhe mitbringt.

    Marga Höffgens Alt wirkt in dieser Aufnahme ziemlich schwer, die Stimme hat eine Menge Wobble, klingt in meinen Ohren aber nicht unangenehm. Während ich „Von den Stricken“ als einigermaßen routiniert-behäbig gestaltet empfinde, so gelingt ihr im Wechselspiel mit August Wenziger an der Viola da gamba das „Es ist vollbracht“ ausgesprochen intensiv.

    Hermann Werdermann, der die kleineren Bass-Rollen sowie die Gestaltung der Bass-Arien übernimmt, bringt im Gegensatz zu Krebs und Kelch ein gewisses Gespür für die Szene, für eine gewisse dramatische Gestaltung mit, sodass ich seine Auftritte als Petrus und Pilatus als ausgesprochene Wohltat empfinde, auch wenn mir die schwerfällige Stimme, die keinen schönen Ton und ein recht aufdringliches Vibrato hat, nicht sonderlich gefällt. Sie eignet sich insgesamt besser für die Rezitative, für Arien wie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ und „Mein teurer Heiland“ fehlt ihr die Flexibilität, der leichte Sitz, die Geschmeidigkeit.

    Der Heinrich-Schütz-Chor Heilbronn ist ein Ensemble, das nach dem klingt, was es ist: nach einem im Grunde ordentlichen Laienensemble. Die interpretatorische Leistung, die solch ein Ensemble präsentieren kann, mit derjenigen zu vergleichen, mit der professionelle Spitzenensembles – sei er nun der Monteverdi Choir, das Collegium Vocale Gent oder das Bach Collegium Japan – aufwarten können, ist im Grunde nicht ganz fair. Und dennoch: Auch aus einem Ensemble wie dem Heinrich-Schütz-Chor hätte sich meines Erachtens mehr herausholen lassen. Nicht nur, dass Eingangs- und Schlusschor im Grunde keinerlei differenzierte und schon keine ergreifende Gestaltung erfahren. Auch die Turbae, bei denen es ja regelrecht Spaß macht, ihren dramatischer Impetus herauszukitzeln, kommen ausnahmslos altbacken und ohne Sinn für das ablaufende Drama daher. Wenn das der Hang zum Lyrischen in der Bach’schen Musik ist, der Werner von Anderson nachgesagt wird, dann bricht er nach meinem Empfinden an der falschen Stelle durch. Choräle laut und nicht wirklich vom Text her gedeutet. Zudem hätte sicher noch am Gesamtklang gefeilt werde können (Tenöre!), auch die Genauigkeit in der Absprache von Auslauten („s-s-s-s-s-s“/„t-t-t-t-t-t“) ist nicht so schön.

    Das Spiel des Orchester stellt (mich) vollkommen zufrieden, außerdem kommen streckenweise hervorragenden Solisten (Ausgust Wenziger, Pierre Pierlot, Marie-Claire Alain) zu Einsatz.

    Insgesamt empfinde ich diese Aufnahme gegenüber anderen mir bekannten– ob nun älteren oder jüngeren „Baujahres“ – als insgesamt wenig konkurrenzfähig. Die Faszination, die – schenkt man Anderson Glauben – von Fritz Werners Bach ausgehen soll, erreicht mich hier nicht.

    :wink: Agravain

  • Konrad Junghänel, Mai 2011

    Sabine Goetz (Ancilla), Amaryllis Dieltins, Sopran
    Elisabeth Popien, Alexander Schneider, Alt
    Hans Jörg Mammel (Evangelista), Georg Polutz (Servus), Tenor
    Wolf Matthias Friedrich (Petrus, Pilatus), Markus Flaig (Jesus), Bass

    Ulla Bundies, Anne Harer, Violine
    Volker Hagedorn, Viola
    Mieneke van der Velden, Viola da Gamba
    Maya Amrein, Violoncello
    Matthias Müller, Kontrabass
    Michael Schmidt-Casdorff, Ingo Nelken, Traversflöte
    Katharina Spreckeisen, Henriette Böhm, Oboe
    Karin Gemeinhardt, Fagott
    Carsten Lohff, Orgel

    Konrad Junghänel, Leitung

    Gespielt wird laut Cover die Fassung IV von 1749, doch das darin vorgesehene Cembalo fehlt. Aufhorchen wird man etwa beim Text der Arie „Ich folge dir gleichfalls“ – „ … mein Heiland, mit Freuden“, beim Orgelsolo in „Betrachte, meine Seel“ oder bei der Arie, die unter dem Namen „Erwäge, mein Herze“ bekannt ist und hier mit dem Text „Mein Jesu, ach! dein schmerzhaft bitter Leiden“ gesungen wird; da gibt es Abweichungen zur früher üblicherweise gespielten Mischfassung.

    Der Eingangschor ist nicht von der Sorte, die elektrisiert. Junghänel setzt weder auf schroffe Akzente noch auf Hervorheben der Dissonanzen in den Holzbläsern. Aber man achte auf das agile, profilierte Spiel der hohen Streicher im A-Teil und auf den Gegenpart dazu, das Spiel des B. c. im B-Teil – hier ist viel mehr zu hören als nur Hintergrundgemurmel. Auch der Chor klingt weniger anspringend als vielmehr flehend, ohne dabei Biss und Artikulation vermissen zu lassen. Leider mischen sich die beiden Sopranstimmen nicht ganz ideal (in „Zerfließe, mein Herze“ wird man hören, wie hell Sabine Goetz klingt). (8:47)

    Dieser angenehm unaufdringliche Eindruck setzt sich fort in Turbae wie „Jesum von Nazareth“, „Bist du nicht seiner Jünger einer“, „Wäre dieser nicht ein Übertäter“, „Weg, weg mit dem, kreuzige ihn“, . – Die Dramaturgie der Szenen, insbesondere die Übergänge von einer Nummer zur nächsten, finde ich eher entspannt-erzählend, dennoch stringent.

    Die Choräle werden mit präziser Artikulation und unter Verzicht auf Einheit des Affektes gesungen. Es gibt kurze Binnenfermaten, die den Fluss mMn nicht stören und auch mal Zäsuren. Die Wiedergabe ist auch hier eher auf der verinnerlichten Seite, ohne je langweilig zu sein.

    Die Solisten sind nicht der wesentliche Grund, aus welchem ich diese Aufnahme für begehrlich halten würde. Am besten gefiel mir Wolf Matthias Friedrich, der den Petrus, den Pilatus und die beiden Bassarien mit Chor („Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ und „Mein teurer Heiland“) beisteuert. Die Tiefe ist nicht ganz seine Sache, doch sein Timbre, vor allem die Wärme seines Tons, das freie Schwingen und seinen uneitlen Vortrag fand ich berührend.

    Evangelist Hans Jörg Mammel singt hell, klar und deutlich. Leider hat er nicht viele Farben zur Verfügung (oder zeigt diese nicht), dadurch ist sein Vortrag eher auf der neutral berichtenden als auf der dramatisierenden Seite. Er verzichtet auf äußerliche Hervorhebungen und legt den Ausdruck eher zwischen die Zeilen, was ausgezeichnet in das Konzept der Interpretation passt. – In der Arie „Ach, mein Sinn“ muss er um die Höhe ein wenig kämpfen. Kein Favorit für den Johannes-Evangelisten.

    Markus Flaig legt den Jesus weich und würdevoll an. Dieser Zugang kommt auch dem Arioso „Betrachte, meine Seel“ zugute, wo er vielleicht noch viel angemessener ist. Dieser Satz ist eine der vokalen Oasen dieser Aufnahme.

    Dazu gehört auch „Es ist vollbracht“. Mienecke van der Velden an der Gambe und Elisabeth Popien gelingt es, innerhalb dieser eher entspannten Gesamtwiedergabe einen deutlichen Ruhepunkt zu setzen. Ein Highlight für Gesangsfreunde ist das nicht, wohl aber edles Ensemblemusizieren. Wie überhaupt die ganze Aufnahme.

    Der Klang hat ein kräftiges Fundament, die Instrumentalbässe sind sehr vernehmlich.

    Junghänel bietet vordergründig ein schlichtes, tatsächlich ein expressives Kammerspiel. Die Stärken der Aufnahme sehe ich in ihrem unaufdringlichen und doch bezwingenden Ausdruck, in der entspannten, doch schlüssigen Dramaturgie sowie in der Wiedergabe „wie aus einem Guss“, letzteres sowohl im zeitlichen Verlauf von Anfang bis Ende als auch im Ensemblespiel vom Sopran bis zum Kontrabass. – Nicht meine erste Wahl unter den Johannespassionen; ich mag es etwas zupackender, und die Vokalsolisten sind zwar sehr gut, aber mMn nicht herausragend.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Philippe Pierlot, September 2010

    Maria Keohane (ancilla, Arien), Helena Ek, Sopran
    Carlos Mena, Jan Börner, Alt
    Hans Jörg Mammel (Evangelist), Jan Kobow, Tenor
    Matthias Vieweg (Jesus), Stephan MacLeod (Petrus, Pilatus), Bass

    Ricercar Consort:
    Sophie Gent, Konzertmeisterin und Viola d‘amour
    Gabriel Grosbard, Sandrine Dupé, Anne Pekkala, Maia Silberstein, Guya Martinini, Jin Kim, Violine
    Mika Akiha, Michiyo Kondo, Viola
    Raiiner Zipperling, Julie Borsodi, Violoncello
    Frank Coppieters, Kontrabass
    François Fernandez, Viola d’amour
    Eduardo Egüez, Laute
    Philippe Pierlot, Gambe
    Marc Hantaï, Georges Barthel, Flöte
    Emmanuel Laporte, Jean-Marc Philippe, Oboe und Oboe da caccia
    Alain De Rijckere, Lisa Goldberg, Fagott
    François Guerrier, Cembalo
    Francis Jacob, Orgel

    Philippe Pierlot, Leitung

    Es wird die Erstfassung von 1724 gespielt und mit der Bass-Arie „Himmel, reiße, Welt, erbebe“ und dem Choral „Christe, du Lamm Gottes“ (beide aus der 1725er Fassung) ergänzt.

    Der Eingangschor (8:12) klingt nervös-drängend, Puls und Blutdruck sind erhöht, die Vorhaltsdissonanzen im Holz werden scharf angesetzt, verklingen und schwellen neu an, Violinen und Bratschen weben dichte Linien, Celli und Fagotte sind mit ihren Achteln Quell der Unruhe und Motor der Bewegung. „Herr, Herr, Herr, …“ – ein Ruf, eine Anrufung, dringlich, ernst, bestimmt, etwas elementar Wichtiges ist zu verhandeln. Hier und Jetzt. – Sehr wirkungsvoll ist die Dynamik im Großen, der Aufbau von Steigerungen, das Schaffen von Klangbereichen verschiedener Intensität.

    Dramatische Zuspitzung um der bloßen Zuspitzung Willen ist Pierlots Sache aber nicht. Das wird in Turbae-Chören wie „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ oder „Nicht diesen, diesen nicht“ deutlich, die anderswo schon mal effektvoller zu hören waren. An Präzision und Biss fehlt es aber keinesfalls. Feinsinnig und vibrierend vor Spielfreude und innerer Erregung: „Lasset uns den nicht zerteilen“.

    Die Choräle werden fast ohne Zäsuren oder Binnenfermaten gesungen, Affektwechsel in einer Strophe sind selten. So wirken diese Stellvertretungen der Gemeinde geradezu objektiv. Wunderbar: „In meines Herzens Grunde“; zart und berührend.

    Hans-Jörg Mammel singt hier dramatischer als bei Junghänel; dieser Eindruck rührt aber auch ein wenig vor der direkteren Tonaufnahme her. Seine Farbpalette hat dies leider nicht bereichert. Die Arie „Ach, mein Sinn“ gelingt ihm hier auch nicht souveräner als in der Kölner Aufnahme, Höhenprobleme hier wie dort.

    Matthias Vieweg bietet einen starken, überlegenen Jesus, der weiß, dass alles, was hier geschieht, geschehen muss – ganz in Übereinstimmung mit der Christologie des Evangelisten Johannes. (Beispiel: Bei Matthäus sagt Jesus „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und schreit im Moment des Todes seinen Schmerz laut hinaus, bei Johannes ordnet er noch am Kreuz seine Familienverhältnisse und stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht“).

    Maria Keohane singt ihre beiden Arien mit schwebendem, schlank geführtem Ton, ohne knabenhaft zu klingen. Beweglich in der ersten („Ich folge dir gleichfalls“), verletzlich in der zweiten („Zerfließe, mein Herze“), wunderbar.

    Jan Kobow gefällt mir in seinen wenigen Solo-Beiträge („Erwäge wie sein blutgefärbter Rücken“, „Mein Herz, in dem die ganze Welt“ ) etwas besser als Hans-Jörg Mammel; gleichwohl wird es auch bei ihm eng in der Höhe.

    Stephan MacLeod bringt einen für meine Ohren sehr suggestiven Leidenston in die Arien ein (insbes. „Himmel, reiße“). Auch die Petrus- und Pilatus-Abschnitte sind herrlich gelungen, so dass die Dialoge Jesus/Pilatus zu gesanglichen Höhepunkten der Aufnahme werden. Herrlich ist auch das Arioso „Betrachte, meine Seel“, in welchem er weit ausschwingende Bögen gestaltet. Auch die Arie mit Chor „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ ist exquisit.

    Als Continuo-Instrument kommt mal ein Cembalo, mal eine Orgel, mal beide zum Einsatz. Die Jesusworte werden nur von der Orgel begleitet, der Evangelist von beiden.

    Pierlot wählt einen dramatischen Zugang zu diesem Werk; die in FF April 2013 beschworenen „intimen Töne“ kann ich nur bzgl. der kleinen Besetzung (und bestenfalls im Gegensatz zur Einspielung unter Benoît Haller) nachvollziehen. Akkuratesse und artikulatorisches Profil lassen bei mir keine Wünsche offen. Doch aufgedonnert wird nichts, nichts geschieht um den bloßen Effektes willen. Die einschlägigen Arien erhalten Raum zur Kontemplation. – Die Solisten sind für meinen Geschmack entscheidend besser als bei Junghänel. Sogar Hans-Jörg Mammel, der bei beiden Aufnahmen beteiligt war, singt hier intensiver und dramatischer, wenngleich er vielleicht der einzige (relative) Schwachpunkt ist. – Die beiden Ergänzungen aus der 1725er Version sind willkommen. – Ich bin froh, diese Aufnahme im Regal zu haben.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Benoît Haller, September 2008

    Julien Prégardien, Evangelist
    Benoît Arnould, Jesus
    Dominik Wörner, Petrus und Pilatus
    Tanya Aspelmeier, Salomé Haller, Sopran
    Julien Freimuth, Pascal Bertin, Kontratenor
    Michael Feyfar, Philippe Froeliger, Tenor
    Benoît Arnould, Dominik Wörner, Bass

    La Chapelle Rhénane:
    Guillaume Humbrecht, Clémence Scharning, Benjamin Chenier, 1. Violine
    Julia Fredersdorff, Cécile Moreau, 2. Violine
    Johannes Frisch, Hélène Platone, Bratsche
    Felix Knecht, Violoncello
    Èlodie Peudepièce, Kontrabass
    Jean-Pierre Pinet, Valérie Blassa, Barocktraverse
    Margot Humber, Johanne Maître, Oboe
    Mélanie Flahaut, Fagott
    Emmanuel Vigneron, Kontrafagott
    Sébastien Wonner. Cembalo
    Élisabeth Geiger, Orgel
    Armin Bereuter, François Joubert-Caillet, Viola da gamba

    Benoît Haller, Leitung

    Es wird die Version II von 1725 gespielt, allerdings mit dem Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ aus der Version I von 1724. Echte Hinhörer sind die beiden ersten Zusatzarien der 1725er Fassung: „Himmel, reiße, Welt erbebe“ mit aggressivem Continuo, „Zerschmettert mich, ihr Felsen und Hügel“ mit fetzigem Streicherspiel. Dass „Betrachte, meine Seel“ und „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ durch „Ach, windet euch nicht so“ ersetzt wurde, halte ich hingegen für einen Verlust.

    Der Eingangschor wird von den perkussiven Akzenten auf „1“ und „3“ dominiert. Was machen Kontrabass, Orgel und Kontrafagott (?) da? Sind das die Hammerschläge für die Nägel am Kreuz? Das Cembalo spielt die durchlaufenden Achtel mit, das Holz spielt die Dissonanzen eher zurückhaltend. Die hohen Streicher – ach ja, sie sind auch dabei. Im Hintergrund. – Das Tempo ist nicht allzu schnell (9:22), Benoît lässt sich und seinen Musiker Zeit, jeder Schlag „sitzt“. Wuchtig, elementar, schwarz, bedrohlich, geradezu gewalttätig kommt die Musik daher. Der Chor – „nur“ mitteldeutliche Artikulation, aber geschärfte Klangfarben.

    Die Satzfolge in den einzelnen Szenen ist auf hitzige Dramatik angelegt. Rezitative „fallen“ bisweilen sozusagen in die letzte Note des vorigen Abschnitts hinein. „Bist du nicht seiner Jünger einer“ wird wie auch „Weg, weg“ mit Accelerando gesungen. Ansonsten sind die Turbae blitzsauber, teilweise eher unauffällig, teilweise heftig („Kreuzige, kreuzige“). Im Chorklang fällt das Vibrato der Soprane auf (Salomé Haller?).

    Die Choräle nimmt Haller vergleichsweise linear, mit zurückhaltenden Tempowechseln, wenigen Zäsuren und mit einer eingeschränkten Dynamik, die Extremwerte vermeidet. Gleichwohl wird die zweite Strophe von „Ach, großer König“ an der Unterkante von piano genommen.

    Julien Prégardien halte ich für den besten Evangelisten all dieser jüngeren Aufnahmen. Variabel in Tempo und Klangfarben, gestaltet er die Partie lebendig, von der dramatischen Seite und doch geschmeidig.

    Der Jesus des Benoît Arnould klingt manchmal recht hohl, ohne Klangfülle, trocken und dürr. Seltsam.

    Beim Hören der Arie „Himmel, reiße“ fragte ich mich, warum nicht Dominik Wörner den Jesus sang, dito in den Petrus- und Pilatus-Abschnitten; hier ist eine dunkle, würdige, dicht geführte Stimme zu hören. Auch die andere Zusatzarie „Zerschmettert mich“ mit Michael Feylar ist ein vokaler Höhepunkt dieser Aufnahme; die Stimme schwingt in der Höhe völlig frei, die affektive Bandbreite dieses Sängers bringt die opernnahe Arie bestens zur Geltung. Die anderen Arien gelingen ihm nicht minder gut. – Pascal Bertin war mir in „Es ist vollbracht“ bei aller Perfektion etwas zu sachlich-distanziert, Salomé Haller in „Ich folge dir gleichfalls“ etwas zu affektiert. – Insgesamt ist bei dieser Aufnahme aber eher das Ensemble der Protagonist (eventuell noch der Dirigent).

    Nach dem zweiten, dritten Hören ist der anfängliche Knalleffekt dieser Aufnahme doch ein wenig verhaltener geworden. Trotzdem ist dies eine extreme, druckvolle Interpretation; weniger wegen der Tempi als wegen ihrer dunklen, erdigen, bisweilen schon aggressiven Intensität. Es gibt Momente, in denen dem Hörer die Passion um die Ohren kracht, dafür sind die bedächtigen Momente umso berührender („Es ist vollbracht“) und nicht weniger eindringlich. – Julien Prégardien ist ein großartiger, reich differenzierender Evangelist. – Spannend, hörenswert, aber nicht alleinseligmachend.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • John Eliot Gardiner, live aus dem Kaiserdom zu Königslutter, 22. März 2003
    (Fassung 1724 [?])

    Mark Padmore, Evangelist und Arien
    Hanno Müller-Brachmann, Jesus
    Peter Harvey, Pilatus und Arien

    Katharine Fuge, Joanne Lunn, Sopran
    Bernarda Fink, Alt

    Monteverdi Choir
    English Baroque Soloists
    John Eliot Gardiner

    Im Gegensatz zu den vorangegangenen Aufnahmen ist hier eine chorische Besetzung zu hören: Chor 6/4/4/4, Streicher 5/4/3/3/1.

    Die Aufnahmetechnik finde ich nicht sehr glücklich, die Mikrophone standen offenbar in einigem Abstand von den Musizierenden. Der typische Biss von älteren Wiedergaben Gardiners kann nur erahnt werden.

    Im Eingangschor ist Ausgewogenheit zwischen allen Schichten gegeben: Bläserdissonanzen, Streicherfigurationen, pulsierende Achtel in Celli und Fagott, Akzente auf „1“ und „3“ im B. c., alles ist da, nichts drängt sich vor. Gardiner lässt die langen Bläsertöne mit an- und abschwellenden Bäuchen spielen, wie ein atmender Organismus. Er realisiert eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Ruhe und Bewegung (9:26). –Stark und kräftig klingen die ersten drei Anrufungen, dann wird der Tonfall leichter, ohne an Energie zu verlieren. Die Ausgewogenheit und Durchhörbarkeit aller Teile bleibt auch nach Einsatz des Chores gegeben. –Zu Beginn des B-Teils „Zeig uns durch deine Passion …“ gibt es einen neuen, demütigen Tonfall – wie üblich bis „verherrlicht“.

    Auffällig ist die bildhafte Dramaturgie aufeinander folgender Abschnitte, so gleich anfangs bei der Gefangennahme. Pausen, Übergänge, alles dies ist einer quasi filmnahen Darstellung verpflichtet (freilich ohne Richters Monumentalisierungen). Das Timing trägt wesentlich dazu bei, dass die Geschichte nicht distanziert berichtet wird, sondern den Hörer quasi live in das Geschehen hineinzieht. Die Turbae werden hochpräzise und mit geschärftem rhythmischem Profil gesungen, theatralisch, ohne affektiert zu wirken (mMn – na was denn sonst). Packend.

    Die Choräle lässt Gardiner meist fließend und ohne auffällige Mätzchen singen. Zwar nutzt er eine große Bandbreite von Lautstärken, Ausspracheintensitäten, Farben, Zäsurenlängen, doch weniger innerhalb eines Chorals, als vielmehr, um jedem Choral ein eigenes Profil zu geben. - Extrem ist die a-cappella-Wiedergabe der Strophe „ Ich, ich und meine Sünden“ – die HIPler greifen zu den Mitteln der Romantiker, die Revolution frisst ihre Kinder. – Großes Kino bietet auch der Schlusschoral mit seiner Steigerung, mit der Vorwegnahme der ewigen Seligkeiten. (Nach rund zwei Stunden darf man überraschenderweise beim allerletzten Wort beckmessern: „Ewiglich“ ist falsch ausgesprochen – „ewichlich“ statt „ewiklich“. Erstaunlich. Es heißt zwar „Könich“, aber „köniklich“.)

    Klasse ist die plastische Artikulation von Mark Padmore, die kleinen Einfärbungen („Judas“), die meist leichte und geschmeidige Stimmführung. Seinen beweglichen Vortrag fand ich spannend.

    Hanno Müller-Brachmann legt den Jesus majestätisch und gütig an. Ein Ohrenschmeichler.

    Ein Juwel in dieser Aufnahme ist die Arie „Ich folge dir gleichfalls“ – lebendig, reich artikuliert, doch intim mit Flöten, Cello, Laute und Sopran; Joanne Lunn steuert ihren Silberklang bei und macht diese Nummer zur filigranen Enklave, zu einem Moment der erlösten Welt im Passionsgeschehen. – Auch das Arioso „Betrachte, meine Seel“ mit Peter Harvey hat Ansaugqualitäten fürs Ohr. – Dieselbe Intimität spricht aus dem Instrumentalspiel der „Erwäge“-Arie; andere Sängerinnen und Sänger sind hier vielleicht weniger an der Oberfläche geblieben. – „Zerfließe, mein Herze“ erklingt von Katharine Fuge mit keuschem Ausdruck, der jede durch den Text eventuell nahegelegte Larmoyanz meidet. Auch so ein quasi exterritorialer Moment.

    Hervorhebenswert finde ich die außergewöhnliche Stimmigkeit dieser Aufnahme bei gleichzeitiger Abwesenheit von „Gemachtem“, von „Gewolltem“ (mMn). Das ist selten. Die Timings bei den Übergängen zwischen Sätzen sind prima. Die temposeitigen Zuspitzungen früherer Gardiner-Aufnahmen sind verschwunden, keine Spur von der früher manchmal zu hörenden flotten Glätte und Oberflächlichkeit (Matthäus-Passion, DG). Zur bekannten Akkuratesse tritt die Verinnerlichung. Der Monteverdi Choir zeigt seine bekannten Qualitäten auch in der Live-Situation. Ferner sind die Arien hier insgesamt in stärkerem Maße musikalische und sängerische Höhepunkte im Gesamtverlauf als in den vorgenannten drei Aufnahmen. Eine tolle Aufnahme.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Masaaki Suzuki, April 1998
    (Fassung IV, 1749; im Anhang drei Arien BWV 245a/b/c aus Version II, 1725)

    Gerd Türk, Evangelist und Arien BWV 245b/c
    Chiyuki Urano, Jesus

    Ingrid Schmithüsen, Sopran
    Yoshikazu Mera, Kontratenor
    Makoto Sakurada, Tenor (Arien, Diener)
    Peter Kooij, Bass (Arien, Petrus, Pilatus)

    Bach-Collegium Japan
    Masaaki Suzuki

    Suzuki lässt die Version IV von 1749 spielen. Drei Arien aus der Version II von 1725 gibt es im Anhang als Zugabe. Die Besetzung ist 5/5/5/5 im Chor und 3/3/2/2/1 in den Streichern; dazu Gambe, 2 Flöten, 2 Oboen, Fagott und Kontrafagott, Orgel und Cembalo.

    Der Eingangschor klingt erfreulich unspektakulär. Kein Versuch, irgendetwas „besonders“ zu machen – außer eben handwerklich besonders gut. Wie bei Gardiner 2003 ist alles gut hörbar, nichts steht im Vordergrund, das Continuo ist ebenso präsent wie Celli und Fagott, die höheren Streicher ebenso wie die Holzbläser, die ihre Dissonanzen schmerzlich ausspielen, ohne (für meine Begriffe) in die Gegend des „overacting“ zu geraten. – Der Chor setzt sehr präzise ein und beendet die blockhaften Akkorde ebenso präzise. Keine Schärfe ist zu hören, weder in Vokalfarben noch in der Artikulation. Tja, was ist das – weder dramatisch aufgeladen noch verinnerlicht flehend, weder besonders spektakulär noch irgendwie langweilig, was ist daran nun gut? Vielleicht die Abwesenheit von Mätzchen bei völlig uneitler Darbietung des Reichtums des Satzes.

    Dieser Eindruck setzt sich in den Turbae fort, die blitzsauber gesungen werden, aber nicht als Vehikel zur Präsentation chorischer Virtuosität oder interpretatorischer Eigenwilligkeiten missbraucht werden. Die Dramaturgie der Satzfolge ist eher auf der entspannten Seite.

    Die Choräle werden mit vielen kleinen textbestimmten Binnenzäsuren gesungen, eher als Vortrag eines Gedichtes denn eines Volksliedes, aber recht gleichförmig in der Dynamik. Differenzierung findet im Wesentlichen durch kleine Akzente statt. Dass auch die Japaner Klangmagie beherrschen, höre man im Choral „Durch dein Gefängnis Gottes Sohn“ mit seinem finsteren, doch schwebenden Klang.

    Gerd Türk gehört zu den besseren Evangelisten dieser jüngeren Aufnahmen. Es gibt sicher stärker deklamierende Erzähler, doch die biegsame Stimme Türks passt m. E. hervorragend in das Konzept dieser Aufnahme, da auch er nichts irgendwie „anders“, auffällig oder gewollt macht.

    Der Akzent von Chiyuki Urano ist unüberhörbar, aber mMn nicht störend. Auch er gehört zu den eher würdigen, gütigen Jesussängern.

    Ingrid Schmithüsen hat mir mit ihrem sehr schlank geführten Sopran sehr gut gefallen. Eine Traumstimme für diese Musik, beide Arien, „Ich folge dir gleichfalls“ und „Zerfließe, mein Herze“ habe ich sehr genossen. – Mit Yoshikazu Mera konnte ich noch nie so richtig anfreunden. Das liegt vor allem am Timbre, welches ich ziemlich aseptisch finde; weitaus mehr als in diesem Stimmfach üblich. Dennoch fand ich „Es ist vollbracht“ hinreißend wegen des wunderbar intimen Zusammenspiels. – Makoto Sakurada gefällt mir in seiner zweiten Arie („Mein Jesu, ach! Dein schmerzhaft bitter Leiden“) deutlich besser als in der ersten („Ach, mein Sinn“), in der nicht alle Töne sauber getroffen sind. Seine schlanke Stimme finde ich gut für diese Musik, jedoch wirkte sein Vortrag auf mich etwas distanziert. – Peter Kooij ist für mich ganz klar einer der Pluspunkte dieser Aufnahme. Hinreißend das Arioso „Betrachte, meine Seel“, aber auch die Partien des Petrus und des Pilatus sind ausgezeichnet wiedergegeben.

    Die Arien sind durchaus nicht immer Kontemplationszentren; z. B. werden die beiden ersten Arien bei nicht allzu schnellen Tempi recht lebendig artikuliert („Von den Stricken“, „Ich folge dir gleichfalls“). – Die drei Arien aus der Version II von 1725 sind eine erfreuliche Ergänzung, doch fand ich Haller und Pierlot darin packender, dies trotz Peter Kooij in der ersten Arie.

    Die Tracks der CD sind mit Indizes unterteilt, d. h. es können bespw. Einzelne Turbae-Chöre einzeln angefahren werden. Könnte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist aber die Ausnahme.

    Die Aufnahme überzeugt mich durch ihren völlig uneitlen Zugang zum Werk. Suzuki versagt sich dem „ich kann’s schneller, lauter, schärfer“-Spiel. Diese Einspielung gewinnt beim mehrmaligen Hören hinzu. Gerd Türk, Peter Kooij und Ingrid Schmithüsen sorgen für die vokalsolistischen Glanzlichter, auch Yoshikazu Mera reiht sich mit „Es ist vollbracht“ hier ein. – Würde mich jemand fragen, mit welcher Aufnahme man dieses Werk gut kennen lernen könne, so würde ich wohl diese oder die von Gardiner (2003) nennen, wäre nicht der hohe Preis. - Es gibt eine Koppelung mit Suzukis Aufnahme der Matthäus-Passion, die als preislich attraktiver angesehen werden kann, gleichwohl auch kein Schnäppchen.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hallo,

    ich singe in einem Chor als nächstes bei der Bach Johannespassion (komplettes Werk) mit.
    Dafür möchte ich mich auch durch Hören vorbereiten.

    Ich habe Zugriff auf folgende Einspielung:
    "Bach: Johannes-Passion BWV 24
    Oliver von Dohnanyi / Suk Chamber Orchestra
    Denon Records – 01.07.2009"

    Kennt wer diese Einspielung?

    Welches ist aus Eurer Sicht eine sehr gute Einspielung für mich als Chorsängerin?

    Danke für Eure Tipps

  • Hallo Cello,

    ich habe die Passionen und h-moll-Messe im Chor gesungen. Aus meiner Erfahrung würde ich sagen: Anhören ist immer gut, um ein Werk als Ganzes zu erfahren. Aber die Interpretation: die obliegt dem Dirigenten, unter dem du das Werk singst. Da ist es wenig zielführend (aus meiner Sicht), sich jetzt auf eine Interpretation "einzuschießen" - weil man als Mitwirkende/r, vor allem, wenn man selbst Amateur ist, frei sein sollte von einer Richtung. Es beeinflusst nämlich sehr wohl, wenn man (z.B.) Harnoncourt im Ohr hat, der Dirigent aber ganz im breiten Stil des frühen 20. Jh. zu Hause ist.

    Mit keiner der Aufnahmen, die im thread über die Johannes-Passion genannt sind, wirst du etwas "falsch" machen. Mit deiner (die ich nicht kenne) aber ganz sicher auch nicht. :)

    Viel Freude beim Singen! letztlich zählt nicht so sehr, wie eine Interpretation angelegt ist, sondern: wie beteiligt die Mitwirkenden sind, wie sie das Werk dem Publikum vermitteln können.

    BG - eloisasti

    Klemperer: "Wo ist die vierte Oboe?" 2. Oboist: "Er ist leider krank geworden." Klemperer: "Der Arme."

  • Hallo eloisasti,

    herzlichen Dank für Deine Antwort!
    Es geht mir auch vor allem darum, wie Du sagst, das Werk als Ganzes zu erfahren, aber auch, um ein Gefühl für diese Musik zu bekommen, mich vertrauter damit zu machen (ich habe mich bisher kaum mit Bach beschäftigt). Während unseres letzten Projektes habe ich einzelne Teile des Werkes häufig auch während längerer Autofahrten gehört, das war eine gute Ergänzung zur Probenarbeit. Und dem, was Du über die so wichtige wirkliche Beteiligung der Mitwirkenden sagst, kann ich nur zustimmen.
    Danke für die guten Wünsche, auch Dir, falls Du weiterhin aktiv singst, viel Freude dabei.

  • Die Johannes-Passion habe ich vor langer Zeit kennengelernt ebenfalls mit Philippe Herreweghe, allerdings in einer anderen Aufnahme, mit, glaube ich, der ersten Fassung (1724):

    Liegt mir gerade nicht vor; Näheres gern auf Nachfrage: jedenfalls habe ich diese Einspielung als recht eindringlich und überzeugend in Erinnerung. Günstig zu bekommen ist sie offensichtlich auch.

    :wink:


    Das schrieb Gurnemanz 2012.
    Heute scheint diese tolle Aufnahme vergriffen zu sein. Das ist mir unbegreiflich. Es gibt zwar noch eine jüngere Aufnahme der Johannespassion mit Herreweghe, aber dabei handelt es sich halt um eine spätere Fassung ohne den eindringlichen Eingangschor "Herr, unser Herrscher...", auf den ich nicht verzichten möchte.
    Hudebux

  • Heute scheint diese tolle Aufnahme vergriffen zu sein.

    Wieso vergriffen? Die verlinkte 87er Aufnahme ist doch weiter erhältlich, wenn auch der Kaufpreis für eine "Neu"anschaffung nicht unbedingt aus der Portokasse zu entrichten ist. Oder auch hier:

    Gesetzt den Fall, dass eine "Gute Youtube-Wiedergabe zum Nulltarif" gewünscht wird, steht diese Plattform mit einer klanglich sehr guten Wiedergabe zur Verfügung:

    Externer Inhalt www.youtube.com
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  • Verstehe ich nicht. Meinst Du 18,60 Euro sind zu viel? Wo doch mein Herz so an dieser Aufnahme hängt?


    Nein, 18,60 Euro sind nicht zu viel für diese wunderbare Aufnahme. Du hast mich eben nicht verstanden. Ach ja, wer versteht mich hier schon. ;(
    calisto

  • Will mitschleimen! Mag und verstehe!

    :love: Wolfgang

    On topic: Die Aufnahme ist gebraucht im Vergleich wirklich ein Preisknüller. Dennoch: Es ist nicht mein ganz primäres Repertoire und ich besitze schon eine CD- und eine LP-Box mit der Johannespassion.

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Auf Anregung von Josquin Dufay verschoben aus dem Thread zu Monteverdis Marienvesper. AlexanderK, Moderation

    Das hat jetzt nichts mit der Vesper zu tun, aber es gab meines Wissens nur bei einer Aufnahme später Streit bzgl. der angemessenen Würdigung der "Leitung". Nämlich zwischen Harnoncourt und dem Chorleiter Gillesberger bei der Bachschen Johannespassion. Da erschien bei späteren Auflagen (oder CDs) Gillesberger wohl nicht mehr gleichberechtigt (oder als eigentlicher Leiter). Etwas verschleiert wird es m.E. auch bei der 1970 eingespielten Matthäuspassion, die Harnoncourt als Leiter ausweist, obwohl ziemlich sicher der unlängst verstorbene Sir David Willcocks das Dirigat innehatte.
    Das doppelchörige Ensemble wird Harnoncourt kaum vom Continuo-Cello aus geleitet haben. Hier gab es aber meines Wissens keinen Streit bzgl. der "credits".

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

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