Zu einem Menschen gehört immer auch ein freier Wille zum Guten oder Bösen und wenn Jesus von Nazareth ganz Mensch war, hätte er gegebenenfalls auch noch in letzter Minute Nein zu dem Kelch sagen können. Erst die Tatsache dass er sich frei-willig in den höheren Willen ergibt, macht ihn zur Identifikation- und religionsstiftenden Heilsfigur für die Menschen.
Was wissen wir von der Tatsache? Daß sie theologisch notwendig für die Lehre ist. So ganz klaglos freiwillig ist das Ergeben in den höheren Willen auch nur bei Johannes, in den synoptischen Evangelien - die ja ziemlich wahrscheinlich mindestens eine Generation früher entstanden sind, (und selber auch erst ein bis zwei Generationen nach dem Kreuzestod Jesu) - findet man schon noch die Bitte um Verschonung und das letzte Wort am Kreuz ist auch ein anderes. Da liegen mindestens zwei bis drei Jahrzehnte der Ausformulierung der Lehre dazwischen und mindestens weitere drei bis vier bis zur Abfassung der Synpotischen Evangelien. Und kein Mensch kann sagen, was Jesus tatsächlich gesagt hat, und was ihm möglicherweise nachträglich in den Mund gelegt wurde - oder was er gesagt und getan hat, was aber nicht berichtet wurde. Man kann's nur glauben.
Ich sehe nicht den Widerspruch zwischen göttlich festgelegter Vorsehung und Freiraum der auftretenden Figuren. Man muss m.E. im Gegenteil die Paradoxe aushalten
Der Widerspruch bleibt bestehen, auch wenn man die Paradoxa akzeptiert. Es bleibt ja auch nichts anderes übrig, wenn man das überlieferte Gottesbild aufrecht erhalten will. Wenn man sie nicht aushalten will und tiefer in die Widersprüche bohrt, dann kommt zwangsläufig ein anderes Gottesbild zustande - dann wäre er entweder nicht allmächtig, nicht allwissend oder nicht gerecht oder gar liebend. Das fängt dann schon mit der Frage an, wozu ein allmächtiger, verzeihender und liebender Gott ein Sühneopfer benötigt und nicht voraussetzungslos verzeiht, welchen Sinn ein Sühneopfer für ihn hat, das er sich selbst bringt (wenn Jesus eine Inkarnation Gottes ist, was ja zentraler Glaubensinhalt des [nichtarianischen] Christentums ist), und wozu überhaupt ein Sühneopfer erforderlich ist für etwas, was in Gottes Macht gelegen hätte, daß es gar nicht geschieht. Ja: freier Wille, aber wenn wir den nicht postulieren, ist niemand mehr für irgend etwas verantwortlich, das wäre das Ende aller moralischen und ethischen Forderungen aus der Religion; ohne freien Willen keine Schuld, auch nicht in der Übertretung der Gebote Gottes. Damit wären religiöse Gebote sinnlos. Der Rest führt direkt in das Theodizee-Problem. Und wenn wir das versuchen aufzulösen, indem wir erklären, daß Gott jenseits unserer Fassbarkeit existiert und agiert, dann führt das alle Theologie ad absurdum und läßt sie im Widerspruch zum 2. Gebot stehen "Du sollt Dir kein Bild machen". Ergo lassen wir die Widersprüche stehen und denken besser nicht darüber nach - nicht über den Sündenfall, nicht über die Sintflut (1 Gen 6: "Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben" - wer etwas bereut und korrigieren möchte, hat einen Fehler gemacht, oder?), nicht über das Buch Hiob, nicht über die Causa Jesus und nicht über Allmacht, Allwissenheit, Güte auf der einen und freien Willen auf der anderen Seite.
Alles anzeigenBei Johannes fehlt übrigens das Ringen mit Gott ("Herr, wenn du willst, so gehe dieser Kelch von mir ...") - das steht nur bei Markus, Matthäus, Lukas. Bei Johannes läuft der Plan ab. Jesus wird hier weniger menschlich gezeichnet. Bei Johannes fehlt die Furcht Jesu. Da heißt es: "Wie nun Jesus wußte alles, was ihm begegnen sollte, ging er hinaus und sprach zu ihnen: Wen suchet ihr?" und seine Antwort entfaltet gewaltige Kraft: "Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bin's! wichen sie zurück und fielen zu Boden". Nicht ganz menschlich ...
Auch am Kreuz - bei Matthäus schreit Jesus laut im Moment seines Todes, bei Johannes bleibt er Herr der Lage, ordnet seine Familienverhältnisse ("Frau, siehe dies ist dein Sohn" usw. ...) und befindet schließlich "Es ist vollbracht". (Mission accomplished.) Das sind nicht nur stilistische Feinheiten.
Bei Johannes ist Jesus präexistent. "Im Anfang war das Wort" (Logos) - damit ist Jesus gemeint oder zumindest die Idee eines Erlösers, wie "Und das Wort ward Fleisch" zeigt.
Jesus kam (bei Johannes) aus dem Licht. Die Welt hat sich von Gott abgewandt und war darum in Finsternis. Jesus aber kam als "Licht der Welt".
Die "Ich bin"-Worte bei Johannes weisen gerade nicht auf den Menschen Jesus von Nazareth hin, sondern auf seine übermenschlichen Qualitäten ("das Brot des Lebens", "das Licht der Welt", "die Tür", "der gute Hirte", "die Auferstehung und das Leben", "der Weg, die Wahrheit und das Leben", "der wahre Weinstock").
Gerade bei Johannes finde ich das Menschsein Jesu deutlich unschärfer gezeichnet als seine überzeitliche Rolle.
Wie gesagt: Bei Johannes wurde gegenüber den synoptischen Evangelien ein paar Jahrzehnte länger an der Formulierung der Lehre gearbeitet, auch bezüglich der Göttlichkeit Jesu - und das findet hier seinen Niederschlag. Nebenbei kann man auch rein politisch darin das Bestreben sehen, sich aus der Erfahrung der Jüdischen Kriege als Sekte oder als neue Religion gegenüber der römischen Ordnungsmacht von den Juden zu distanzieren, im Sinne von "wir sind die Anderen". Aus dem gleichen Motiv heraus wird der Vertreter eben dieser Ordnungsmacht (Pilatus) auch vergleichsweise edel gezeichnet.