Webern durchgehört
"Wenn sich um den Meister des dreifachen Pianissimo kein Lärm erhebt, so mag das in der Ordnung sein; die zuverlässige Hoffnung aber, daß er in hundert Jahren entdeckt, verstanden und glorifiziert werde, darf keine Ausrede dafür abgeben, daß man ihn heute vergißt."
Inzwischen sind rund hundert Jahre vergangen, nicht seit Theodor Adorno diesen Satz über Anton Webern 1933 aufschrieb, aber doch seit Webern seine ersten atonalen Stücke komponierte. Weberns Werk ist entdeckt, glorifiziert - und vergessen. Auch verstanden? Zumindest wurden seine Kompositionen wohl so gründlich durchanalysiert wie die kaum eines anderen Komponisten. Zum Verstehen von Musik aber ist Analyse nicht mehr als ein Werkzeug; das Verstehen ist, als höchst subjektiver Vorgang der persönlichen Aneignung, jedem Hörer immer neu aufgegeben.
Im Konzertleben scheint mir Webern kaum präsent, auch die Zahl der Einspielungen seiner Werke ist übersichtlich. Am ehesten sind noch die Werke für Streichquartett und die noch tonale "Passacaglia" op. 1 in mehreren Aufnahmen erwerbbar. Bei den Chorliedern, Kantaten und späten Ensemblestücken ist die Zahl der Aufnahmen, derer man aktuell habhaft werden kann, recht übersichtlich und beschränkt sich auf die drei Gesamtaufnahmen des Webernschen Werkes, die ich unten kurz vorstellen werde. Warum aber sind beispielsweise die Orchesterwerke wie op. 6, op. 10 oder op. 30, die ja immer noch als Maßstäbe setzend, als revolutionär gelten, nur so selten im Konzertsaal zu hören im Vergleich etwa zu anderen Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts wie Bartóks "Konzert für Orchester" oder Strawinskys "Sacre du Printemps"?
In dem Aufsatz "Zur möglichen Zukunft Anton Weberns" im Musik-Konzepte-Sonderband "Anton Webern 1" hat Heinz-Klaus Metzger 1983 eine Reihe von möglichen Antworten gegeben. Seine mit jeder Menge offenbar sehr privatem Furor gegen jugendliche Motorrad- und greise Rasenmäherfahrer vorgetragene These, in einer Welt der permanenten akustischen Belästigung finde das Leise, Verlöschende der Webernschen Musik keinen Platz mehr, halte ich allerdings nicht für wirklich ernst zu nehmen. Nicht nur ignoriert Metzger dabei die Möglichkeiten der Schalldämmung beim Bau moderner Konzerthäuser (für Hausmusik ist Weberns Werk wohl kaum gedacht), auch widersprechen ihm die Kompositionen, die in der Zeit, in der er seine Philippika verfasste, aktuell entstanden - Musik von Nono, Lachenmann oder Feldman, die gerade das Leise, Ganz-Leise und Verstummende zum Thema hatte und sich dabei explizit an Webern orientierte.
Ein anderer Aspekt, auf den Metzger verweist, erscheint mir da schon bedenkenswerter: er beschreibt Weberns Musik als extrem asexuell, er spricht über "jene spezifische Reinheit ohnegleichen, ja man möchte sagen: 'Heiligkeit' (...), die sie aller sonstigen Musik, welchen Schlages auch immer, so inkommensurabel macht" und beschreibt als "wunden Punkt" des Webernschen Komponierens, dass es "so tut, als wäre es wirklich nicht von dieser Welt, und dabei gerade ein Extrem der Authentizität erreicht, das (...) als spekulative Negation alles Irdischen déchiffriert werden muß, dieweil es real auf dem grausamsten Triebschicksal, nämlich der einschneidenden Verstümmelung der naturgegebenen polymorphen Perversität des Menschen, beruht". Muss es das wirklich? Ist Weberns Musik tatsächlich nur als heiligmäßig, unkörperlich, das Sinnliche verneinend zu rezipieren?
Was die Nichtpräsenz des Webernschen Werkes im Konzertbetrieb betrifft, so scheint mir die charakteristische Kürze seiner Kompositionen ihrem Publikumserfolg am meisten im Wege zu stehen. Nicht nur lohnt es sich für ein Orchester wohl kaum, die "Fünf Orchesterstücke op. 10" aufwendig zu proben, um dann ein Konzert um ganze vier Minuten Musik zu bereichern, auch scheint gerade in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Mahler-Renaissance befeuert, das Publikum unter dem Eindruck zu stehen, das Riesenhafte und Überwältigende sei das Gültige - und im Umkehrschluss das Kurze und Konzentrierte die zu vernachlässigende Petitesse. Schließlich: Womit soll man etwa Weberns Orchesterstücke kombinieren? Wer auf Mahlers Neunte wartet, wird bei Weberns op. 10 kaum angefangen haben, zuzuhören, wenn das Werk schon wieder vorbei ist.
Und schließlich: war Weberns Einfluss auf das Komponieren nach seinem Tod vielleicht so immens (erst in den 50er Jahren, als die Seriellen aus seinem Werk entscheidende Impulse zogen, dann noch einmal in den 70er und 80er Jahren, als, wie beschrieben, Komponisten verschiedenster Herkunft das Leise und Verlöschende zum Thema ihrer Musik machten und damit eines der wichtigsten Elemente des Webernschen Musikdenkens fortspannen), dass sein Werk sich in der Musikgeschichte der letzten sechzig Jahre geradezu aufgelöst hat? Stehen seine Kompositionen nicht inzwischen wie bloße Skizzen da, die Männer wie Boulez, Stockhausen, Lachenmann, Zender oder Nono erst ausgeführt haben? Hat sein Schaffen über diese Funktion des "Stichwortgebens" hinaus überhaupt noch einen musikgeschichtlichen Eigenwert und heute eine ästhetische Bedeutung, oder muss es schlicht als überwunden, als im Werk seiner Nachfolger gänzlich aufgegangen betrachtet werden?
Ohne eine erneute direkte ästhetische Erfahrung mit dem Werk werden sich (sowieso subjektive) Antworten auf diese Fragen nicht finden lassen. Ich habe mir deshalb vorgenommen, in den nächsten Wochen Webern einmal durchzuhören, das heißt zunächst die Werke mit Opuszahl, von der "Passacaglia" op. 1 bis zur "Kantate Nr. 2" op. 31. Sehr zeitaufwendig wird das nicht; das Gesamtwerk passt auf drei CDs. Ich bin gespannt, wie es mir nach langer Hörabstinenz mit Webern heute ergehen wird und lade herzlich dazu ein, mitzuhören und mitzuschreiben - Opus für Opus, nach der Reihenfolge, und schön langsam, damit sich gegebenenfalls ein Gespräch über ein Werk entwickeln kann, bevor schon das nächste beschrieben wird.
Wer mittun möchte, dem empfehle ich die chronologisch sortierte Gesamtaufnahme der Werke mit Opuszahl, die Pierre Boulez 1978 bei Sony vorlegte:
Eine zweite Gesamtaufnahme unter Boulez' Ägide bei Deutsche Grammphon versammelt auf sechs CDs das Gesamtwerk, d.h. auch vor allem die spätromantischen Jugendwerke, die sicher auch interessant sind, in diesem Thread aber zunächst nicht im Mittelpunkt stehen sollen.
Eine erste Gesamtaufnahme der Webernschen Werke mit Opuszahl hat der amerikanische Dirigent Robert Craft bereits 1954-56 vorgelegt. Sie ist wohl nicht mehr erhältlich. 2005 und 2009 erschienen zwei Volumes einer geplanten neuen Gesamtaufnahme unter Craft bei Naxos:
Ob im Rahmen dieser Reihe auch eine Neuaufnahme der Werke ohne Opuszahl geplant ist, weiß ich nicht. Über die musikalische Qualität der beiden bereits erschienenen CDs kann ich nichts sagen.
Dringend empfehlen möchte ich Giuseppe Sinopolis glutvoll-expressive Interpretation der Orchesterwerke.
Natürlich sind in diesem Thread alle Arten von Anmerkungen zu Webern, nicht nur zu den einzelnen Werken, sehr herzlich willkommen. In der Hoffnung, dass schon mein Einführungsbeitrag nicht ohne Reaktionen bleibt, werde ich mit Beiträgen zu den Werken nach ihrer chronologischen Reihenfolge erst in einigen Tagen beginnen.
Grüße
vom Don