Mahler: Sinfonie Nr. 3 d-Moll


  • Die Frage, ob es wirklich so ist (ob "man" die eigene Interpretation findet) ist in der Tat, auf die Frage Überschriften ja/nein bezogen, die einzig interessierende. Ich muss sagen, ich glaube immer weniger daran. Ich glaube vielmehr, dass all die Generationen von Schülern die mit der "Moldau" von Smetana traktiert worden sind, eben mit dazu erzogen worden sind, sich unter der Musik genau das zu 'denken' was ihnen außermusikalisch vorgegeben wurde, und es damit sein zufriedenes Bewenden haben zu lassen. "Ah, jetzt kommen die Stromschnellen!", "Ah, da fließt der Fluss wieder breit dahin!"... oder eben, im ungleich komplizierteren Mahler-Fall: "Ah, jetzt geht es um 'Liebe'!"


    Nun Mahler à la Smetana zu interpretieren, ist natürlich sinnlos, es ist aber IMO schon notwendig, dass man sich beim Hören fragt, was uns/einem diese oder jene Symphonie sagt. Und wenn das halt eine individuelle Interpretation ist, die nicht mit den x-fach wiedergekäuten Booklet-Texten übereinstimmt, ist es auch nicht tragisch. Insofern mein Einwand, dass man sich vielleicht erstmal mit den von Mahler erdachten Überschriften befasst und dann anhand derer versucht die Symphonie für einen selber einigermaßen zu verstehen.

    Mahler zualler erst an formalen Gesichtspunkten festzumachen, wie es auch manche Dirigenten tun, geht mir irgendwie am Kern der Sache vorbei und scheint mir gerade bei Mahler viel zu wenig.


    Einfach die Musik zu hören und sich zu denken "Ha da wechselt er jetzt die Tonart und setzt die Bässe eine halbe Oktave zu tief als erwartet", das wäre mir zu freudlos.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • So, wie Mahler mit seiner 3.Sinfonie die Sphären durchwandert - angefangen mit der rauen Natur und mit der göttlichen Liebe endet, so durchschreitet "2001-Odyssee im Weltraum" die Stationen vom Tier zum Menschen und vom Menschen zum Übermenschlichen von mir aus Göttlichen. Dieser Zustand stellt sich bei Artur C.Clarke (dem Autor) als das Sternenkind dar. Das Sternenkind und der Finalsatz der Dritten passen wunderbar zusammen.

    Das ist ja mal eine witzige Parallelisierung... Aber nicht ganz zu Ende gedacht, denn das Kind kommt ja nu mal erst in der Vierten zu Wort. Und der Schluss dieser Entwicklung ist dann erst das Finale der Vierten, mit

    "kein Musik ist ja nicht auf Erden
    ....
    die englischen Stimmen
    ermuntern die Sinnen,
    daß Alles für Freuden erwacht"

    Das sog. "Sternenkind" verdankt sich also erst der Liebe und Vertiefung, mit der die Dritte abschließt, und wo in der Ruhe auch die Schmerzen in den gesteigerten Moll-Partien ohne Ausweichen in Groteske gefühlt, der Analytiker würde sagen "durchgefühlt" werden können.
    Weil dahinter eine neue Sphäre beginnt und also eine neue "Welt mit den Mitteln der Musik geschaffen" werden kann.
    Und ist das nicht schön, "für Freuden erwachen?"
    nicht weltflüchtig aus dem vielfältig gebrochenen ins Paradies sich träumen, sondern
    für Freuden erwachen.

    Einfach die Musik zu hören und sich zu denken "Ha da wechselt er jetzt die Tonart und setzt die Bässe eine halbe Oktave zu tief als erwartet", das wäre mir zu freudlos.

    Warum eigentlich? Dieses Spiel namens Musik lebt doch davon, daß ein Tonartwechsel, eine unerwartete Wendung erfreut! Oder warum treffen wir uns hier?
    Was nichts gegen die Zutat, sich noch Gedanken um Bedeutung und womöglich Absicht des Komponisten zu machen, sagen soll - erfreut ja schließlich auch das Reden über das Schöne...

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • "Das himmlische Leben" war ursprgl. als ein weiterer (vermutlich vorletzter?) Satz der 3. Sinfonie geplant: "Was mir das Kind erzählt"

    Diese Überschriften sind ja keine Programme in dem Sinne wie manchmal bei Smetana (wobei z.B. "Aus Böhmens Hain und Flur" auch kein lineares Programm wie die Moldau hat) und ich sehe nicht so ganz, inwiefern "Was mir die Liebe erzählt" kitschiger sein sollte als "Was mir die Tiere im Walde erzählen" oder "Was mir die Engel erzählen"...

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Warum eigentlich? Dieses Spiel namens Musik lebt doch davon, daß ein Tonartwechsel, eine unerwartete Wendung erfreut! Oder warum treffen wir uns hier?
    Was nichts gegen die Zutat, sich noch Gedanken um Bedeutung und womöglich Absicht des Komponisten zu machen, sagen soll - erfreut ja schließlich auch das Reden über das Schöne...

    Gruss
    Herr Maria


    Weil sich Mahler glaube ich dafür ein bisschen zu sehr gequält und ein bisschen zuviel bei seinen Symphonien gedacht hat. (Wie ich überhaupt glaube, dass die ganzen großen Komponisten ihre Symphonien weniger akademisch angegangen sind, wie uns das die Konzertführer und Werkbesprechungen oft weißmachen wollen.)

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Gerade wenn es hier wirklich um Liebe zu tun ist, täte man sehr gut daran einen entsprechenden Titel zu vermeiden. Dieses "Was mir die Liebe erzählt" ist, rein als sprachliche Formel, sehr nah an den Kindlichkeits-Aspirationen der Zeit, z. B. Maeterlincks "Blauem Vogel", auch vielem der Hofmannsthalschen Lyrik... aber auf einem sich ein bisschen arg weit zum Kindischen neigenden Niveau, schlechter als das des späten "Kleinen Prinzen", bei dem ja wenigstens noch Blumen reden und nicht eine allegorisierte Liebe selber. Im verallgemeinernden Bild, dass "die" Liebe (personal) "erzählen" könne, steckt eine Vereinfachung nach der Mahler - das verkenne ich nicht - immer wieder gestrebt hat; in den "Wunderhorn"-Gedichten ist sie ihm höchst glücklich entgegengekommen, schon in manchen seiner eigenen Wendungen etwa in den Liedern des fahrenden Gesellen ("Ei, du gelt?") finde ich sie peinlich imitiert.

    Ja, peinlich, warum nicht. Das Peinliche gibt's bei Mahler in der Musik - das Schräge, Triviale, die hässlichen Klänge usw. Und es existiert auch in der Semantik der Musik, in den vertonten Texten. Die Vorstellung, dass das herzhafte "Bim-bam" des Kinderchors dem hochkulturierten Bildungsbürger die Schamesröte ins Gesicht treibt und dem abgebrühten Zyniker die Mundwinkel nach unten zieht, hat für mich was Belustigendes. Oder (im Bezug auf Mahler) zeitgenössisch gesprochen: nix für Hofmannsthal- oder Stefan-George-Leser. Die wurden dann ja auch von anderen Komponisten vertont. (Klar, das ist platte Polemik - die Sache mit den Texten ist bei Mahler viel komplizierter, das zeigt ja schon der Nietzsche der dritten und der Goethe der achten Sinfonie.)

    Allerdings finde ich diese Problematik für das Finale der Dritten jetzt nicht so virulent, für die Sinfonie als Ganzes schon eher.


    Volle Zustimmung. Mir würde auch als Assoziation niemals das Ätherische des Lohengrin-Vorspiels einfallen! Das ist doch eine ganz andere Ruhe, die dieser Anfang der eher mittleren bis tiefen Streicher ausstrahlt.
    Zu den Überschriften: Ich finde, sie gehören dazu wie zum modernen Kunstwerk die ellenlangen Erklärungen. Auch die merkwürdig schräg zu den gebrochenen Anklängen liegende Naivität - das ist eben grad das Spannungsfeld, das Mahler ausmacht, und ihn auf die Negativität, die Inkommensurabilität zu reduzieren, finde ich verkürzt. Da ist eben auch das Affirmative, das wir in der Diskussion um die Achte schon mal hatten, und nirgendwo kommt es so unspektakulär und innig daher wie in diesem Adagio-Finale, als Idee schon großartig - alle vorherigen Adagiofinali waren ja unfreiwillig, und das der Pathetique (Tschaikowsky) wird ungefähr gleichzeitig mit Mahler ents?tanden sein, oder täusche ich mich da?

    Die Pathétique ist kurz vorher entstanden, Mahler kannte sie auch, mochte sie aber gar nicht. Ansonsten kann ich die volle Zustimmung zurückgeben: Mich erinnert das Finale der Dritten überhaupt nicht an das Lohengrin-Vorspiel, weder von der Harmonik und Klanglichkeit noch von der (vermuteten) Semantik her. Mahlers Antwort auf das Lohengrin-Vorspiel ist doch eher der Beginn der Ersten mit seinen nicht ätherischen, sondern verschmutzten Flageolett-Klängen.


    "Das himmlische Leben" war ursprgl. als ein weiterer (vermutlich vorletzter?) Satz der 3. Sinfonie geplant: "Was mir das Kind erzählt"

    Als letzter Satz der Dritten - das "himmlische Leben" ist ja gewissermaßen ein end to all ends. Ich finde die Vorstellung der Dritten mit diesem zusätzlichen Satz durchaus faszinierend, allerdings wäre die Sinfonie dann wirklich ein wenig lang. Und es gäbe die Vierte nicht, das wäre ja auch schade. :D

    Was die Programm-Debatte anbelangt: Ich bin zwar dagegen, die ursprünglich geplanten Überschriften zu verdrängen, aber lehne es noch mehr ab, Programm und Musik umstandslos miteinander zu identifizieren. Insofern sollte man schon - wie von Philmus geschrieben - die musikalische Struktur beachten und sich an ihr erfreuen...


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Mal ganz davon abgesehen, dass ich den Vergleich mit dem Lohengrin-Vorspiel und der Moldau weder schlüssig noch überzeugend finde, so ist es in einer Diskussion um Mahler 3 grundsätzlich notwendig sich vor Augen zu führen, dass Mahler selbst a) mit der Bezeichnung „Symphonie“ für dieses Werk gerungen hat, dass er sich b) mit einer eindeutigen Festschreibung der Satzbezeichnungen - speziell des ersten - nicht leicht machte und dass er c) selbst eine Reihe von zumindestens bedenkenswerten Hinweisen zur Interpretation dieses Brockens geliefert hat, speziell auch zum letzten Satz.

    Hier einige Anregungen.

    Zu a)

    „Daß ich sie [= Symphonie 3] Symphonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich eben an die herkömmliche Form.“ (NBL, S.19 f. Zit. n. Müller, 500)

    „Aus den großen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Sätzen, von denen mir anfangs träumte, ist nichts geworden; jeder steht als ein abgeschlossenes und eigentümliches Ganzes für sich da: keine Wiederholungen, keine Reminiszenzen.“ (NBL, S. 40. zit. n. Müller, 505)

    „Das Ganze will ich aber nun doch ‚Pan, Symphonische Dichtungen’ nennen. [Hervorhebung von mir, A.]“ (NBL, S. 44-44. zit. n. Müller, 508)

    Zu b)

    „Der Titel: ‚Der Sommer marschiert ein’, paßt nicht mehr nach dieser Gestaltung der Dinge im Vorspiel; eher vielleicht ‚Pans Zug’ – nicht Dionysuszug! es ist keine dionysische Stimmung, vielmehr treiben sich Satryn und derlei derbe Naturgesellen herum.“ (NBL, 40. zit. n. Müller 505)

    „So einen Enwurf fertig zuhaben, das ist, wie wenn ein Mädel seine Versorgung in der Tasche hat. – Nun habe ich auch den Titel für die Einleitung gefunden: ‚Pans Erwachen’, worauf folgt: ‚Der Sommer marschiert ein’. (NBL, 41-43. Zit. n. Müller, 505)

    Dann wieder:

    „Wenn ich es sonst auch in Worten noch andeuten und einigermaßen beschreiben und schildern konnte, was in den verschiedenen Sätzen vorgeht, so hört das hier [= 1. Satz, Anm. A.] völlig auf; [...].“ (NBL, 44-47. Zit. n. Müller, 507)

    Aus der Perspektive der Arbeit an der Vierten dann:

    "Von einer Benennung des Werkes in den einzelnen Sätzen, wie in früheren Zeiten, will Mahler nichts mehr wissen. ‚Ich wüßte mir wohl die schönsten Namen dafür, doch werde ich sie den Trotteln von Richtenden und Hörenden nicht verraten, daß sie sie mir wieder aufs albernste verstehen und verdrehen.'“ (NBL, zit. n. Müller, 514)

    Zu c)

    „Ein anderer Zusammenhang, der aber von den Hörern kaum bemerkt werden wird, ist zwischen dem ersten und dem letzten Satze: was dort dumpf und starr, ist hier zum höchsten Bewußtsein gediehen, die unartikulierten Laute zur höchsten Artikulation geworden“. (NBL, Zit. n. Müller, 505)

    „Auf diesen ersten Satz, zu dessen Riesenaufgabe ich, glaube ich, nicht den Mut gehabt hätte, wären die andern nicht fertig gewesen, folgen nun, gänzlich unterschieden von dem vorigen, die andern Sätze, so mannigfaltig wie die Welt selbst, und gipfeln und finden die befreiende Lösung in der ‚Liebe'“. (NBL, 49. Zit. n. Müller, 508)

    „Auf dem heutigen Spaziergange sagte Mahler zu mir: ‚Im Adagio ist alles aufgelöst in Ruhe und Sein; das Ixionsrad der Erscheinung ist endlich zum Stillstand gebracht.’“ (NBL, 50 f. Zit n. Müller, 509)

    „Wie aus dem wirren Traum des Erwachen – oder vielmehr ein leises Sich-seiner-selbst-bewußt-werden – folgt das Adagio darauf.“ (NBL, 118. Zit. n. Müller 511)

    [NBL = Natalie Bauer-Lechner: Erinnerungen an Gustav Mahler. Hg. v. Johann Killian. Wien/Zürich 1923. Quelle: Müller, Karl-Josef: Mahler. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988.]

    :wink: Agravain

  • Das Peinliche gibt's bei Mahler in der Musik - das Schräge, Triviale, die hässlichen Klänge usw. Und es existiert auch in der Semantik der Musik, in den vertonten Texten. Die Vorstellung, dass das herzhafte "Bim-bam" des Kinderchors dem hochkulturierten Bildungsbürger die Schamesröte ins Gesicht treibt und dem abgebrühten Zyniker die Mundwinkel nach unten zieht, hat für mich was Belustigendes.

    Das ist es. Völlig d'accord!

    :wink: Agravain

  • Ja, peinlich, warum nicht. Das Peinliche gibt's bei Mahler in der Musik - das Schräge, Triviale, die hässlichen Klänge usw. Und es existiert auch in der Semantik der Musik, in den vertonten Texten.


    Es gibt das als Moment. Und als Moment ist es herrlich, wie Essig im Wein; wird aber oft auch genauso komponiert und gehört: es gibt wohl kaum jemanden der z.B. die entsprechenden Einwürfe im 3. Satz der I. nicht als Hereintönen greller fremder Stimmen hören würde; das Heterogene ist ja ohnehin zumindest in den ersten drei Sinfonien das Medium der Musik schlechthin. Im Finale der III. kann aber von solcher auskomponierten, 'gemeinten' Grellheit oder Objektivität keine Rede sein; dies ist als höchst ernsthaft und innig sich gebende "Lösungs"-Musik (s.u.)

    Die Vorstellung, dass das herzhafte "Bim-bam" des Kinderchors dem hochkulturierten Bildungsbürger die Schamesröte ins Gesicht treibt und dem abgebrühten Zyniker die Mundwinkel nach unten zieht, hat für mich was Belustigendes

    Für mich auch. By the way ist das eine der Stellen der III. die ich am meisten liebe, eigentlich den ganzen fünften Satz. (Der übrigens weder erfordert noch dadurch gewinnt, mit "Was mir die Engel erzählen" übertitelt zu werden; im Gegensatz zum Finale hat der mich aber nie besonders gestört, eben weil ich erstmal die Musik klasse finde, da verdrück' ich so nen blöden Titel ohne Probleme.)

    dass ich den Vergleich mit dem Lohengrin-Vorspiel und der Moldau weder schlüssig noch überzeugend finde

    Ich habe das Stück nicht mit der "Moldau" verglichen. Es ging beim Heranziehen der "Moldau" lediglich, pars pro toto, um das Gewinnbringende oder Verständis eher Verbauende von Programmtiteln.

    „Auf diesen ersten Satz, zu dessen Riesenaufgabe ich, glaube ich, nicht den Mut gehabt hätte, wären die andern nicht fertig gewesen, folgen nun, gänzlich unterschieden von dem vorigen, die andern Sätze, so mannigfaltig wie die Welt selbst, und gipfeln und finden die befreiende Lösung in der ‚Liebe“. (NBL, 49. Zit. n. Müller, 508)


    Hat er "Liebe" hier wenigstens selbst in Anführungszeichen gesetzt bzw. hat Frau Bauer-Lerchner das getan? ;+) Ansonsten steht das Zitat genau für diese ideologische Tendenz ein gegen die ich beim Finale allergisch reagiere. "Lösung in der Liebe"... das ist eben peinlich auf eine ganz andere, unfreiwillige Weise als das "Bim-Bam" des Knabenchors. Sorry, aber grade weil ich den Anspruch Mahlers, mit den vorhandenen technischen Mitteln eine Welt zu bauen, so ernst nehme, kann ich nicht umhin diese Tendenz des Finales abzulehnen. Außerdem - und das möchte ich nochmal betonen - liegt sie m. E. (und Gott sei Dank für den Satz! den ich ja nicht etwa 'grässlich' oder so was, sondern einfach nur nicht wirklich überzeugend finde) im Widerstreit mit seinen 'sehrenden', schwierigen Stellen, ohne dass indes dieser Widerstreit ausgetragen würde, das "Entschwebende" (die Formulierung kommt nicht von mir!) bleibt einfach nur eine These, ein Effekt.

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    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Ich habe das Stück nicht mit der "Moldau" verglichen. Es ging beim Heranziehen der "Moldau" lediglich, pars pro toto, um das Gewinnbringende oder Verständis eher Verbauende von Programmtiteln.

    Wenngleich hierfür die Moldau schlicht schlecht gewählt ist, da ihre thematisch-motivische Herunterbrechbarkeit auf präzise wie schnöde geologische Phänomene in keiner Weise einem Titel wie "Was mir die Liebe erzählt" vergleichbar ist. Öffnet ein Titel wie der Mahlersche aufgrund seiner Diffusiät und Assoziativität eher ein eigenständiges Denken und ggf. Fühlen, so verschließt sich die Moldau aufgrund ihrer Malerei ja gerade beiden. Was Liebe sei? Es gibt keine hinreichende Beschreibung. Nicht bei Platon, nicht bei Luhmann, nicht bei Precht. Mahler präsentiert eine Möglichkeit - zu der er seinen Hörern zum Trotz das Recht hat. Ebenso hat der Hörer natürlich das Recht, sich dieser Möglichkeit zu verschließen. Wie gerecht er dabei Mahler - bei allem Bemühen um ernsthafte Auseinandersetzung - wird muss schlussendlich offen bleiben.

    "Lösung in der Liebe"... das ist eben peinlich auf eine ganz andere, unfreiwillige Weise als das "Bim-Bam" des Knabenchors.

    Peinlichkeit? Was will mir der Begiff in einem solchen Zusammenhang vermitteln? Der Begriff entzieht sich ebenso gekonnt der Allgemeingültigkeit und Erklärbarkeit wie der der "Liebe" und wird hier doch quasi kategorisch verwendet, ganz elegant die Klippe umschiffend, dass sich das, was ein Individuum für peinlich hält, massiv auf persönlichen und eben nicht auf überpersönlichen Befindlichkeiten gründet. Insofern kann ich zwar lesend nachvollziehen, dass Du den letzten Satz aus Dir selbst heraus peinlich finden magst, eine recht lapidare Formulierung wie "das ist eben so" kann aber kaum Anspruch auf eine qualitative Validität jenseits Deines Hörens haben.

    :wink: Agravain

  • Peinlich...

    ... ist es - das sei hier mal die Arbeitsdefinition - wenn ein Missverhältnis (z. B. zwischen gemeinter und realisierter Aussage oder zwischen Sprecherprätention und Sprecherposition) fühlbar wird, das 'unfreiwillig' ist bzw. seinerseits in kein Resultat mündet. Ich möchte gleich noch mal klarstellen, dass ich nicht etwas das Finale von Mahlers III. an sich 'peinlich' finde - natürlich nicht! Aber ich spüre in ihm als klischeehaften Zug, worauf mich Peinlichkeiten wie "Was mir die Liebe erzählt" oder gar "Lösung in der Liebe" zusätzlich stoßen.

    Nun zum Eingemachten [und ich gebe zu, dass wir hier Terrain betreten wo es (auch) höchst subjektiv wird]: Wenn jemand sich hinstellt als Person - wie Mahler gegenüber seiner Frau Eckermann - und sagt, er habe eine "Riesenaufgabe" bewältigt und dann ein Werk geschaffen, "so mannigfaltig wie die Welt selbst", so ist das an sich schon ein bisschen peinlich. (Selbst wenn es objektiv stimmt. Denn dies zu beurteilen, sollte man als Künstler die Bescheidenheit haben der "Welt" selber anheim zu stellen.) Möglicherweise war es im Gespräch niccht gar so peinlich, vielleicht war ihm nicht klar dass sie als Frau Eckermann fungiert und die beiden hatten einen Art geschützten privaten Raum, in dem solche Statements natürlich erlaubt und ihrer Peinlichkeit wenn nicht entkleidet, so doch zumindest des Drucks enthoben sind sie rechtfertigen zu müssen... aber spätestens dann wenn NBL das veröffentlicht, ist die Peinlichkeit manifest.

    So, na gut... und wenn ich das jetzt aber annehme und dem Künstler als ersten Interpreten seines eigenen Werkes ein gewisses Recht zur Prätention einräume und ggf. sogar noch finde, dass die III. Sinfonie wirklich so mannigfaltig ist wie die Welt selbst (obwohl einem natürlich, wenn schon solche Begriffe bemüht werden, dann doch ein paar Sachen einfallen würden wo die wirkliche Welt noch mannigfaltiger ist und die in der III. Sinfonie nicht vorkommen ;+) ), dann offeriert er mir zusätzlich: "Die Lösung ist die Liebe." Und damit kann ich nix anfangen. Lösung wovon? Ich hoffe und gehe davon aus, dass es wirklich Menschen gibt die in der Liebe (einer Form von Liebe, die ihnen möglich ist) "die Lösung" ihres persönlichen Weltverhältnisses finden (wobei ich, lebend in einer Zeit, wo diese Option ihrerseits bereits Fetisch & Kult ist, natürlich auch merke dass daraus Ideologie werden kann, aber das hier nur off the records). Lösung eines Welt-Problems? Ich riskiere mal die These, dass die Liebe - sofern damit die zwischen zwei Personen gemeint ist - ein schlechthin weltloser Zustand ist. Denn in ihr verschwinden Kategorien wie Einsamkeit wie Gemeinsamkeit, und mit letzterer die Welt selbst. Wenn Tristan und Isolde im II. Akt singen "Selbst dann bin ich die Welt", bringen sie diese These auf eine paradox-positive Weise zum Ausdruck. Und in der Oper ist dies in eine Musik gesetzt, die zwar überschwemmend, uferlos ist, die aber in Kontexten funktioniert - denen der anderen Motive, der Nebenfiguren etc. Tristan und Isolde und ihr weltloses Weltgefühl sind nicht die Stimme, die letzte Wahrheit des Werkes. Da, wo Wagner versucht dies so zu setzen - im Liebestod - wird die Sache problematisch und ideologisch (und witzigerweise resultiert musikalisch sofort eine "Glanznummer"), einholbar bleibt es freilich durch die Regie insofern Isolde ja eine Figur bleibt, aus einem konkreten Zustand heraus singend etc.

    (Ein anderes Beispiel, das man trefflich erörtern könnte, wären die Texte von Chrysothemis und ihrer Schwester im Finale der "Elektra", wo ja auch Phrasen vorkommen wie "Liebe ist alles" etc.; ich will aber nicht zu sehr off topic gehen.)

    Nun aber Mahler: Die Botschaft dessen, "Was mir die Liebe erzählt", wird nicht von einer besonderen Stimme getragen. Sie wird vom 'Autor' höchst affirmativ als "Lösung" seines Weltendurchgangs gesetzt. Mir als Zuhörerer vorgesetzt. Das hat etwas Predigerhaftes, etwas vom Wort zum Sonntag. (Ich beziehe mich nach wie vor großenteils auf den verbalen Gestus, nicht auf die Musik ohne Titel und Programm.) Denn grade wenn Liebe als ein Partikulares gemeint ist (und nicht etwa eine abgezogene Idee wie die "Liebe zur Welt" oder dergleichen) ist der Künstler ja darauf verwiesen diese so darzustellen, dass eben kein Zweifel möglich & die Liebe einfach "da" ist. Ansonsten verfällt er - und um wieviel mehr, wenn er die Liebe in einem caritativen, christlichen Sinne mit-meint! - dem Verdikt des Cusaners: "Ita et caritas simpliciter maxima non potest esse in amante, qui non sit et amatus simul." Platt gesagt: wenn der Zuhörer ihn nicht wieder-liebt, ist seine Liebe für die Katz und schon gar keine "Lösung" von irgendwas. Diese Erwartung des Wiedergeliebt-Werdens aber braucht eine gewisse Demut, die ich in Überschriften und Motti wie den genannten völlig und in der Musik des Finales der III. teilweise vermisse. Liebe predigen ist Hochmut - und peinlich. Und es wird nicht weniger peinlich, wenn ich sage, dass "die Liebe" (zwangsweise assoziiere ich damit eine Allegorie wie es die des schon genannten "Blauen Vogels" sind, aber das ist natürlich idiosynkratisch) mir das, was ich jetzt sagen werde, erzählt/anvertraut hat. Ich hatte teil an einer Offenbarung, und die möchte ich jetzt mitteilen. Ein Gestus, der ohne die entsprechende religiöse Abfederung einer Gemeinde-Kommunikation - peinlich ist.

    (Wenn man hingegen das "mir" betont und das Ding radikal subjektiv auslegt, dann finde ich halt es gibt Persönlicheres, Bezwingenderes von Mahler, obwohl auch das Adagietto der V. oder das Andante der VI. schwerlich Finalsatzes eines Riesenwerks wie die III. es ist, getaugt hätten. Vielleicht, aber das ist jetzt wirklich ganz ungeschützt und aus der Hüfte geschossen, ist erst das Finale der IX., mutatis mutandis, eine wirklich glückliche, reife Lösung dieses Adagio-als-Schluss-Problems.)

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  • RE: Peinlich...

    ... ist es - das sei hier mal die Arbeitsdefinition - wenn ein Missverhältnis (z. B. zwischen gemeinter und realisierter Aussage oder zwischen Sprecherprätention und Sprecherposition) fühlbar wird, das 'unfreiwillig' ist bzw. seinerseits in kein Resultat mündet.

    In der Tat ist dies eine von Dir in Richtung Deiner Interpretation aufgestellte nicht allgemeingültige Definition. Wie ich oben schon erwähnte ist Peinlichkeit ein höchst subjektives Empfinden, das sich eben darum der allgemeingültigen Definition entziehen muss.
    In der vorgestellten "Arbeitsdefinition" wird nun zum einen die höchst anzweifelbare Kategorie des "Fühlbaren" eingeführt (Mahnt hier Dilthey?), deren Vorhandensein eine Definition an sich schon ad absurdum führt. Zum anderen wird zusätzlich ein wertendes Subjekt, dessen Fähigkeit scheinbar im "Fühlen" liegt, zum Träger der Bewertung darüber, ob eine Peinlichkeit vorliegt oder eben nicht. Woher - frage ich mich - hat es die Kenntnis dessen, was allgemein peinlich sein soll? Aus seinem gesellschaftlichen, kulturellen und vor allem entwicklungspsychologischen Hintergrund. Und damit bleibt jedwede seiner Bewertungen von Peinlichkeit ausschließlich seine eigene Position, die - leider - keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben kann.

    Nun aber Mahler: Die Botschaft dessen, "Was mir die Liebe erzählt", wird nicht von einer besonderen Stimme getragen. Sie wird vom 'Autor' höchst affirmativ als "Lösung" seines Weltendurchgangs gesetzt. Mir als Zuhörerer vorgesetzt. Das hat etwas Predigerhaftes, etwas vom Wort zum Sonntag.

    Das kann das Subjekt natürlich so empfinden, dem Werk zwangsläufig inhärent ist derlei aber nicht.

    Denn grade wenn Liebe als ein Partikulares gemeint ist (und nicht etwa eine abgezogene Idee wie die "Liebe zur Welt" oder dergleichen) ist der Künstler ja darauf verwiesen diese so darzustellen, dass eben kein Zweifel möglich & die Liebe einfach "da" ist. Ansonsten verfällt er - und um wieviel mehr, wenn er die Liebe in einem caritativen, christlichen Sinne mit-meint! - dem Verdikt des Cusaners: "Ita et caritas simpliciter maxima non potest esse in amante, qui non sit et amatus simul." Platt gesagt: wenn der Zuhörer ihn nicht wieder-liebt, ist seine Liebe für die Katz und schon gar keine "Lösung" von irgendwas. Diese Erwartung des Wiedergeliebt-Werdens aber braucht eine gewisse Demut, die ich in Überschriften und Motti wie den genannten völlig und in der Musik des Finales der III. teilweise vermisse.


    Das ist schon richtig. Wir differieren allerdings - und damit müssen wir es wohl bewenden lassen - fundamental in der Bewertung des Gelingens, die dann tatsächlich ausschließlich von der von Dir oben eingeführten Kategorie des Fühlens anhängt. Damit jedoch werden wir letztlich das Reich des Geschmacksurteils geworfen. Du hast ein individuelles Gefühl des Vermissens, das zwar da ist, indes nicht verallgemeinbar über Deine Erfahrung hinausreicht. Ich - für das letztere selbstmurmelnd ebenso gilt - fühle dieses nicht.

    :wink: Agravain

  • Das Verhältnis der Sätze untereinander - evolutionäre Steigerung oder doch eher Nebeneinander?

    Als ich diese Sinfonie zum ersten Mal hörte, hat mich vor allem die Heterogenität der Sätze und Motive fasziniert: Stärker als in anderen Sinfonien kam für mein Empfinden hier eine Vielstimmigkeit zum Ausdruck, wie sie Mahler einmal gegenüber Nathalie Bauer-Lechner in einem anderen Zusammenhang enthusiastisch beschrieben hat (er sprach allerdings von „Polyphonie“, die noch über die Vielstimmigkeit hinausgehe (sinngemäß: „Aus allen Ecken müssen die Stimmen kommen“, ich finde leider den Beleg im Moment nicht). Aber der Wechsel vom Gewaltigen, Überdimensionierten (Kopfsatz) zum trügerisch Leichten (3. Satz), dann wieder Metaphysik und Ewigkeitsgedanken, kontrastiert mit dem folgenden kecken und naiven „Bim bam“, zum Schluss das weit hinaustragende Adagio – ich hörte darin eher ein Nebeneinander als eine Entwicklung und war erstaunt, als ich in dem Booklet einer später erstandenen Aufnahme die Satztitel las.

    Mahler selbst wollte wohl einerseits, wie in einem Brief an Max Marschalk (zitiert bei Gerd Indorf: Mahlers Sinfonien, S. 110) zum Ausdruck kommt, keine detaillierten Angaben zum Verlauf der Sätze festschreiben, schickte aber andererseits fast gleichzeitig Listen mit Satztiteln an Freunde und Bekannte – ob als Wegweiser für diese oder Stimulans für sich selbst (so die Vermutungen Indorfs), kann wohl nicht geklärt werden.

    Eine frühe Titelliste sieht auch wohl eher ein Nebeneinander in der Welt als eine evolutionäre Steigerung vor (diese und folgende Liste zitiert nach Indorf, S. 112):

    Ein Sommernachtstraum

    1. Der Sommer marschiert ein. (Fanfare und lustiger Marsch) (Einleitung) (Nur Bläser mit konzertierenden Contrabässen).
    2. Was mir der Wald erzählt. (1. Satz)
    3. Was mir die Liebe erzählt (Adagio.)
    4. Was mir die Dämmerung erzählt. (Scherzo (nur Streicher.)
    5. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen (Menuetto.)
    6. Was mir der Kuckuck erzählt. (Scherzo.)
    7. Was mir das Kind erzählt.

    Im Autograf der Partitur gab es dann die Benennungen, die bis heute den Sätzen noch immer wieder zugeschrieben werden und die den Gedanken der Entwicklung bzw. Steigerung stärker betonen (in der gedruckten Partitur wurde dann allerdings auf die Satztitel ganz verzichtet):

    1. Satz: „Einleitung: Pan erwacht/folgt sogleich/Nro. I Der Sommer marschiert ein/(,Bacchuszug‘)“
    2. Satz „Was mir die Blumen ([Nachtrag]: auf der Wiesen) erzählen“
    3. Satz „Was mir die Thiere/im Walde/erzählen“
    4. Satz „Was mir der Mensch erzählt“
    5. Satz „Was mir die Engel erzählen“
    6. Satz „Was mir die Liebe erzählt“


    Wichtig wurde ihm wohl zunehmend der Gedanke des evolutionistischen Konzeptes, der im Autograf zum Ausdruck kommt und in einigen Briefstellen (zitiert bei Indorf, S. 113) folgendermaßen beschrieben ist:

    „Und so bildet mein Werk ein[e] alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Steigerung umfassende musikalische Dichtung. – Es beginnt bei der leblosen Natur und steigert sich bis zur Liebe Gottes!“

    Der Anspruch Mahlers war eine „stetig sich steigernde Artikulation der Empfindungen“, „vom dumpfen, starren, bloß elementaren Sein (der Naturgewalten) bis zum zarten Gebilde des menschlichen Herzens, welches wiederum über dieses hinaus (zu Gott) weist.“

    Nach der Fertigstellung der Sinfonie erfolgte dann das selbstkritische Eingeständnis, das Agravain schon weiter oben zitiert hat:

    Zitat


    „Aus den großen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Sätzen, von denen mir anfangs träumte, ist nichts geworden; jeder steht als ein abgeschlossenes und eigentümliches Ganzes für sich da: keine Wiederholungen, keine Reminiszenzen.“ (NBL, S. 40. zit. n. Müller, 505)

    Und das entspricht wiederum in gewisser Hinsicht dem Eindruck, den ich zuerst hatte. Mit dem Gedanken einer Entwicklung bzw. Steigerung der einzelnen Sätze untereinander habe ich immer noch meine Schwierigkeiten. Schon im ersten Satz habe ich nicht nur den Eindruck der leblosen Natur, sondern gerade durch das Hereinbrechen der Militärmärsche in das Statisch-Unbelebte auch den Eindruck eines Antagonismus bzw. eines Kampfes zwischen Natur und (wenn auch bewusst trivialisierter) menschlicher Kultur.

    Die folgenden Sätze korrespondieren ja einerseits mit den klassischen Tanzsätzen, das Scherzo erscheint mir jedoch durch seine Anbindung an das Wunderhorn-Lied „Ablösung im Sommer“ und durch den Schluss, den ich immer mit „Chaos“ assoziiere, stärker der Natursphäre anzugehören, während der zweite durch die Betonung des Tänzerischen stärker in die menschliche Sphäre hineinreicht.

    Das Adagio am Schluss würde allerdings durchaus in ein Konzept der Steigerung hineinpassen. Auch wenn ich ihn im Vergleich zu den anderen Sätzen als seltsam „blass“ empfinde – der Gegensatz zu den vorhergehenden Sätzen wäre schon gegeben. Es mögen auch Brüche darin sein, diese sind aber weniger auffällig, und wenn diese „affirmativere“ Konzeption wirklich auf etwas verweisen soll, das außerhalb der menschlichen Sphäre und deren Unzulänglichkeiten steht, würde es ja doch wieder Sinn ergeben.

    Viele Grüße
    :wink: Federica

  • Zitat

    Das Adagio am Schluss würde allerdings durchaus in ein Konzept der Steigerung hineinpassen. Auch wenn ich ihn im Vergleich zu den anderen Sätzen als seltsam „blass“ empfinde – der Gegensatz zu den vorhergehenden Sätzen wäre schon gegeben. Es mögen auch Brüche darin sein, diese sind aber weniger auffällig, und wenn diese „affirmativere“ Konzeption wirklich auf etwas verweisen soll, das außerhalb der menschlichen Sphäre und deren Unzulänglichkeiten steht, würde es ja doch wieder Sinn ergeben.

    Der letzte Satz hat ja thematische Bezüge zum vorangegangenem, ist allein dadurch nicht isoliert.
    Wenn bedacht wird, welchen Brüchen bzw. welchem gebrochenen Ton (der vor allem im 3. Satz sich dem Hörer schier aufdrängt) das zum Schluss das weit hinaustragende Adagio versucht sich abzuringen, sich zu entwinden, dann muss es nicht bei der Erfahrung einer "affirmativen" Konzeption bleiben.

    "seltsam blaß".. mit Hilfe anderer Wiedergaben könnte auch dieser Eindruck sich verändern...

    Zitat

    Schon im ersten Satz habe ich nicht nur den Eindruck der leblosen Natur, sondern gerade durch das Hereinbrechen der Militärmärsche in das Statisch-Unbelebte auch den Eindruck eines Antagonismus bzw. eines Kampfes zwischen Natur und (wenn auch bewusst trivialisierter) menschlicher Kultur.

    was durchaus dafür spricht, sich nicht zu sehr auf die Titelliste zu fixieren bzw. die einzelnen Sätze daran aufzuspießen..

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Zitat

    Amfortas09:
    Der letzte Satz hat ja thematische Bezüge zum vorangegangenem, ist allein dadurch nicht isoliert.
    Wenn bedacht wird, welchen Brüchen bzw. welchem gebrochenen Ton (der vor allem im 3. Satz sich dem Hörer schier aufdrängt) das zum Schluss das weit hinaustragende Adagio versucht sich abzuringen, sich zu entwinden, dann muss es nicht bei der Erfahrung einer "affirmativen" Konzeption bleiben.

    Das ist ja gerade das Problem, das ich mit dem letzten Satz habe: Die gebrochenen Töne in den vorherigen höre ich deutlich. Den 3. Satz empfinde ich gerade durch die scheinbare "Lustigkeit", die immer stärker mit bitterem Spott durchsetzt wird, durch die Posthorn-Episoden, bei der man zunächst an romantische Versatzstücke denken mag und bei denen zuletzt in den Violinen eine ungeheure Sehnsucht mitklingt, sowie durch den abgerissenen Akkord am Schluss als eine der packendsten Musikerfahrungen überhaupt; fast ebenso gern höre ich den fünften in seiner Mischung aus Naivität und etwas, das ich als "herb und archaisch" nur versuchen kann zu beschreiben.

    Und dieses Abringen, Entwinden, das Du oben beschreibst, erwarte ich (eben aufgrund dieser vorherigen Eindrücke) im letzten Satz, aber es fällt mir einfach schwer, es aus dieser Musik herauszuhören.

    Zitat

    Amfortas09:
    "seltsam blaß".. mit Hilfe anderer Wiedergaben könnte auch dieser Eindruck sich verändern...

    Ich habe inzwischen leider erst vier Wiedergaben: mit Abravanel, Inbal, Sinopoli und Neuhold. Eigentlich recht unterschiedliche Interpretationen, die ich allesamt schätze, aber so richtig verfangen will der sechste Satz bisher bei keiner. Aber bei dieser Sinfonie sammle ich in die Tiefe; als Nächstes erwarte ich die unter Rögner; Boulez und Bernstein stehen außerdem schon auf meiner Merkliste, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Außerdem warte ich immer noch auf eine Gelegenheit, sie in der Nähe mal live zu hören...

    Zitat

    Federica:
    Schon im ersten Satz habe ich nicht nur den Eindruck der leblosen Natur, sondern gerade durch das Hereinbrechen der Militärmärsche in das Statisch-Unbelebte auch den Eindruck eines Antagonismus bzw. eines Kampfes zwischen Natur und (wenn auch bewusst trivialisierter) menschlicher Kultur.

    Zitat

    Amfortas09:
    was durchaus dafür spricht, sich nicht zu sehr auf die Titelliste zu fixieren bzw. die einzelnen Sätze daran aufzuspießen...


    Ja, genau das meinte ich mit den Beispielen: Ich sehe die Satztitel als ein Mittel Mahlers, Konzepte zu verdeutlichen, aber sicherlich nicht als festes Programm, dem unbedingt nachgelauscht werden muss.

    :wink:
    Federica

  • Zitat

    Den 3. Satz empfinde ich gerade durch die scheinbare "Lustigkeit", die immer stärker mit bitterem Spott durchsetzt wird, durch die Posthorn-Episoden, bei der man zunächst an romantische Versatzstücke denken mag und bei denen zuletzt in den Violinen eine ungeheure Sehnsucht mitklingt,

    ich habe den Eindruck auch ganz stark durch die Hölzbläser, schon am Anfang des Satzes, also vor dem Posthorn..diese "Lustigkeit" wird da sofort unmittelbar durch die Holzbläser gebrochen... ist natürlich auch abhängig von der jeweiligen Wiedergabe

    Zitat

    kontrastiert mit dem folgenden kecken und naiven „Bim bam“

    das "kecke" und "naive" des 5. Satzes wird auch vom Mittelteil durch eine quasi "verzweifelte" Klage kontrastiert...

    Zitat

    Ich habe inzwischen leider erst vier Wiedergaben: mit Abravanel, Inbal, Sinopoli und Neuhold. Eigentlich recht unterschiedliche Interpretationen, die ich allesamt schätze, aber so richtig verfangen will der sechste Satz bisher bei keiner. Aber bei dieser Sinfonie sammle ich in die Tiefe; als Nächstes erwarte ich die unter Rögner; Boulez und Bernstein stehen außerdem schon auf meiner Merkliste, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Außerdem warte ich immer noch auf eine Gelegenheit, sie in der Nähe mal live zu hören...

    ja, unbedingt !!!!!... und statt mancher Studiokonserven plädere ich immer für Radiomittschnitte (ja, ja meine olle Leier, ich weiß, ich weiß :hide: ) , weil nämlich "echt" live..... seit dem Live-Mitschnitt der Berliner vom 05.02.11 unter Rattle höre ich den 4. Satz ganz neu (allein schon die Oboe von Mayer gespielt, das ist sagenhaft) und durch die Wiedergabe mit der NDR-Radiophilharmonie vom 12.02.11 unter Jensen auch vieles ganz anders... bei Lenny würde ich die frühe Einspielung empfehlen, da ich die Ecksätze für gelungener halte als in seiner späten... in der späten ziehe ich die mittleren Sätze vor...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Postskriptum

    Zitat

    Auch wenn ich ihn im Vergleich zu den anderen Sätzen als seltsam „blass“empfinde – der Gegensatz zu den vorhergehenden Sätzen wäre schon gegeben. Es mögen auch Brüche darin sein, diese sind aber weniger auffällig, und wenn diese „affirmativere“ Konzeption wirklich auf etwas verweisen soll, das außerhalb der menschlichen Sphäre und deren Unzulänglichkeiten steht, würde es ja doch wieder Sinn ergeben.

    Ich bins eben noch mal durch den Kopf gegangen:
    Möglich wärs ja durchaus, dass deine Distanz zum letzten Satz der 3. (die sicherlich größer ist als die meine), damit zusammenhängt, dass das, was du als „affirmativen Konzeptionen“ in Mahlers Musik bezeichnest, vor objektiven Schwierigkeiten stößt, die nicht im Einzelsubjekt von Gustav Mahler gründen.

    Es wäre dann in diesem Zusammenhang auch zu fragen, ob es in gewisser Weise überhaupt möglich ist, einfach so zu komponieren wie einen der Schnabel gewachsen ist... Der 4. Satz der 4. Sinfonie trägt ja dieser Schwierigkeit insofern Rechnung, indem er die Illusion „des himmlischen“ Lebens zerstört und – bei den Gielen-Livemitschnitten drängt sich der Eindruck auf – in Todesstarre endet...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • das "kecke" und "naive" des 5. Satzes wird auch vom Mittelteil durch eine quasi "verzweifelte" Klage kontrastiert...


    Es ist schön & richtig, dass Du das "verzweifelt" hier in Anführungszeichen setzt. Denn die Stelle - es ist ja wohl Petrus, der spricht, nicht wahr? sofort schwingen die Passionen im Gedächtnis mit - ist von Mahler hier wirklich genial ergänzt, indem sie nämlich nicht nur dem klagenden Alt alleine überantwortet, also ganz und gar lyrisch ist, sondern die hinzuerfundenen Einwürfe der "Engel"/Knaben sie gewissermaßen umschmeicheln, auch ein klein wenig nicht-ernst-nehmen... Dass sie singen "Du sollst doch nicht weinen!", mitten in das Kyrie eleison hinein, finde ich zum Lachen und gleichzeitig so was von rührend... hier wird der Wunderhorn-Impuls wirklich aufs Schönste von Mahler (auch als Texter) aufgegriffen; das sind so Stellen da findet alles zusammen.

    ________________________________________________________________________________________________________

    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Zitat

    Dass sie singen "Du sollst doch nicht weinen!", mitten in das Kyrie eleison hinein, finde ich zum Lachen und gleichzeitig so was von rührend.

    Ja, finde ich auch.. und die Kinderstimmen geben diesen ganzen Satz etwas Unwirkliches in dem Ernst.. besser kann ichs momentan nicht formulieren, was ich eigentlich sagen will......
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Agravain hat dankenswerterweise die Bauer-Lechner-Überlieferungen herausgesucht:

    „Daß ich sie [= Symphonie 3] Symphonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich eben an die herkömmliche Form.“ (NBL, S.19 f. Zit. n. Müller, 500)

    „Aus den großen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Sätzen, von denen mir anfangs träumte, ist nichts geworden; jeder steht als ein abgeschlossenes und eigentümliches Ganzes für sich da: keine Wiederholungen, keine Reminiszenzen.“ (NBL, S. 40. zit. n. Müller, 505)

    Amfortas weist zu Recht darauf hin:

    Der letzte Satz hat ja thematische Bezüge zum vorangegangenem, ist allein dadurch nicht isoliert.

    Na eben - die Bezüge zum Kopfsatz sind im Finale doch fast überdeutlich. Auch dass sich die Dritte "in nichts an die herkömmliche Form halte", stimmt ja einfach nicht - sie weicht von der Tradition ab, die aber überall durchscheint: in der Gesamtanlage wie in der Form der einzelnen Sätze. Hier zeigt sich m.E. vor allem, dass Aussagen von Künstlern über ihre eigenen Werke mit äußerster Vorsicht zu genießen sind.


    Viele Grüße

    Bernd (wieder sehr in Eile)

    .

  • ich merke gerade, dass meine Formulierung allein dadurch nicht isoliert ziemlich missverständlich ist. Ich wollte eigentlich sagen, dass diese Isolation schon durch thematische Bezüge zum Vorangehendem aufgebrochen wird d.h. es gibt sicherlich noch weitere Merkmale für eine Einbettung des Schlusssatzes mit den anderen Sätzen der 3.

    Auch der Versuch des Adagios sich weit vom Verhergangenen quasi "hinauszutragen", könnte als vermittelt durch die anderen Sätze gedeutet werden.

    Dann: wenn ich mir das Hauptthema des letzten Satzes vergegenwärtige, so wähne ich in diesem Thema einen gewissen Bezug zur Einleitung des 1. Satzes, also ganz am Anfang der Sinfonie. Auch vermute ich, Momente/Passagen im 1. Satz zu hören, die die Folgesätze vorwegnehmen...

    In einigen Live-Mittenschnitten wurden die drei letzten Sätze ohne merkliche Pause hintereinander wiedergegeben...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

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