Was kann "über Musik reden/diskutieren" eigentlich sinnvoll heißen?
Liebe Leute,
"noch ein Meta-Thread" werden manche seufzend denken, aber es hat mich doch schon so oft umgetrieben, beim Hin- und Herschubsen der Argumente in gewissen Threads (und das sei hier einmal auf die musikbezogenen beschränkt): Was wird hier eigentlich mit Worten getan? (Gut Austin'sch ;+) ) Und v. a., noch wichtiger: was kann eigentlich getan werden, und zwar so dass es erkenntnisfördernd ist?
Ich würde mich gern mit Euch darüber austauschen und poste daher zum Eingang meine Anmerkungen zu einem Beitrag aus dem Mahler-III-Thread. Dieser Beitrag von (Agravain) ist m. E. nicht ganz frei von gereizt-belehrenden Zungenschlägen, die hier aber zugunsten der sachlichen Probleme, an die er m. E., wenn auch eher unfreiwillig, erinnert, ignoriert sein sollen. Es geht mir weder um Agravain (nicht den User, und schon gar nicht die Person hinter dem User) noch um das konkrete Thema (Mahler), sondern um Grundsätzliches.
In der Tat ist dies eine von Dir in Richtung Deiner Interpretation aufgestellte nicht allgemeingültige Definition. Wie ich oben schon erwähnte ist Peinlichkeit ein höchst subjektives Empfinden, das sich eben darum der allgemeingültigen Definition entziehen muss.
In der vorgestellten "Arbeitsdefinition" wird nun zum einen die höchst anzweifelbare Kategorie des "Fühlbaren" eingeführt (Mahnt hier Dilthey?), deren Vorhandensein eine Definition an sich schon ad absurdum führt. Zum anderen wird zusätzlich ein wertendes Subjekt, dessen Fähigkeit scheinbar im "Fühlen" liegt, zum Träger der Bewertung darüber, ob eine Peinlichkeit vorliegt oder eben nicht. Woher - frage ich mich - hat es die Kenntnis dessen, was allgemein peinlich sein soll? Aus seinem gesellschaftlichen, kulturellen und vor allem entwicklungspsychologischen Hintergrund. Und damit bleibt jedwede seiner Bewertungen von Peinlichkeit ausschließlich seine eigene Position, die - leider - keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben kann.
Das kann das Subjekt natürlich so empfinden, dem Werk zwangsläufig inhärent ist derlei aber nicht.
Das ist schon richtig. Wir differieren allerdings - und damit müssen wir es wohl bewenden lassen - fundamental in der Bewertung des Gelingens, die dann tatsächlich ausschließlich von der von Dir oben eingeführten Kategorie des Fühlens anhängt. Damit jedoch werden wir letztlich das Reich des Geschmacksurteils geworfen. Du hast ein individuelles Gefühl des Vermissens, das zwar da ist, indes nicht verallgemeinbar über Deine Erfahrung hinausreicht. Ich - für das letztere selbstmurmelnd ebenso gilt - fühle dieses nicht.Agravain
(1) User R schlägt eine "Arbeitsdefinition" vor und User A erwidert darauf, man könne Begriffe, die sich auf das subjektive Empfinden beziehen, nicht definieren. (Warum auch immer.) Bei genauerer Betrachtung der Stellen dürfte ja klar sein, dass User R mit einer Arbeitsdefinition erstmal nix weiter getan hat, als genauer einzugrenzen (zwecks der Mitteilbarkeit) was er meint, wenn ihm etwas "peinlich" ist. Übrigens ist das gar nicht so sehr verschieden von den "Nominaldefinitionen", wie sie der Kritische Rationalismus als wissenschaftliche Praxisanleitung bevorzugt, aber darum geht es hier nicht. Sondern: Müssen wir eigentlich wirklich alles, was sich auf unser subjektives Empfinden bezieht (und bei Musik ist das eine Menge!) als "undefiniert" draußen lassen aus unseren Postings, weil diese keinen "Anspruch auf Allgemeingültigkeit" haben? Oder - und hier wage ich mich schon mal mit einer ersten eigenen Position nach vorne - ist nicht genau ein Ziel unseres Hier-über-Musik-Redens, so was wie eine Allgemeingültigkeit begrenzter Reichweite herzustellen, wieder und wieder?
(2) Ist unsere Hörerfahrung, also die Rezipientenseite, etwas der Objektivität (dem, was dem Werk, mit User A zu sprechen, "zwangsläufig inhärent" ist) Entgegengesetztes? Stehen also Subjektivität des Hörens und Objektivtiät des Hörens einander (unvermittelt) gegenüber - oder lässt nicht die subjektive Hörerfahrung überhaupt erst das, was als Partitur (Fakt) vorliegt, als Sinnvolles in Erscheinung treten? Anders gefragt: Können wir überhaupt sinnvoll über die Werke reden jenseits des Feststellens der musikalischen Fakten?
(3) Ist man, wenn eine Differenz in der Bewertung von Werken vorliegt, zwangsläufig und sofort auf eine irreduzible, inkommunikable Verschiedenheit der Hörerfahrungen zurückgeworfen, über die es dann nix weiter zu sagen gibt? Interessanterweise spricht User A ja vom "Reich des Geschmacksurteils". Nun ist dieses in der Kantischen Terminologie eben das, "über welches man zwar nicht disputieren, aber streiten kann", ja sogar "muss" (ich zitiere absichtlich ungenau), weil ihm zufolge der Anspruch des Geschmacksurteils "Das ist schön" zwar nicht so verbindlich-überprüfbar ist wie der eines Erfahrungs(=wissenschafltichen) Urteils, aber eben auch keineswegs so unverbindlich wie das bloß auf die Subjektivität bezogene "Das ist mir angenehm". Im notwendigen Streiten über das Schöne zeigt sich vielmehr - und damit sei's erstmal mit Kant genug - der "sensus communis" einer als gemeinsam erfahrenen Welt gegenüber.
Mit weniger technischen Worten: Wenn wir unser Musikhören auf das Niveau von "Mir schmeckt Tee" und "Mir schmeckt Kaffee" stellen, dann könnte man getrost alle Musikdiskussionen hier, die nicht mit Akzidentell-Fassbarem wie der Komponistenvita etc. zu tun haben, in den Blauen Salon verschieben, weil man sich ja eh nie einig wird und der Umstand, ob jemandem Tee oder Kaffee schmeckt, mich allenfalls bei guten Freunden interessiert. In einem strengen Sinn würde es also müßig sein, solche Diskussionen öffentlich und mit Argumenten auszutragen. Man könnte auch aus ihnen nichts lernen (außer über die zufällig-subjektiven Konsumpräferenzen der anderen). Anders läge die Sache, wenn in unseren Hörerfahrungen eben auch Wirklichkeit zutage träte - oder soll ich noch emphatischer sagen: "Wahrheit"?
Da dieses Posting für einen Eröffnungsbeitrag schon ziemlich lang ist und mich wirklich interessiert was andere hier dazu denken, möchte ich hier erstmal abbrechen. Ganz sicher ist ja schon dem einen oder anderen aufgefallen, dass es oft schwierig wird wenn man mal wirklich über die Werke diskutiert, und dass es dann oft abbricht. Ich denke, das liegt nicht nur an dem Nicht-mit-Partituren-bewaffnet-Sein von vielen von uns, sondern dass es uns schwerfällt, das Objektive in unserem subjektiven Musikerleben verbal zu fassen und mit dem anderer zu vergleichen.