Was kann "über Musik reden/diskutieren" eigentlich sinnvoll heißen?

  • Ich meine, dass nicht nur bei der Kunstrezeption, sondern auf allen Lebensfeldern Vorlieben und Abneigungen zumindest begründbar sind. Wie rational diese Begründung wird, hängt m. E. erheblich davon ab, wie weit ich bereit bin, der Zu- und Abneigung auf den Grund zu gehen.

    Von einem Seminar für Führungskräfte ist sinngemäß die Aussage hängengeblieben, dass bei Ungereimtheiten, unbehagliche Situationen und Konflikten, speziell in deren Vorfeld zu analysieren ist, was genau die Störung für mich darstellt und inwieweit Anteile davon "mein Problem" sind. So finde man Lösungsansätze, und das funktioniert auch. Oft stecken subjektive Kriterienkataloge dahinter, die ggf. auch mal der Überprüfung bedürfen, wenn man in einer Sache weiterkommen will.

    Bei Musik- und Kunstrezeption geht es wohl nicht immer darum, dass die Abneigung Zuneigung wird, aber vorkommen kann es, wenn ich mir in der Tat Gedanken mache, warum ich ein Stück, ein Werk nicht mag und ich finde den Forenaustausch dazu genau richtig. Mir geht es nicht selten so, dass eine gedankliche und gelegentlich auch eine "handwerkliche" Beschäftigung (Einstudierung) einen Weg zur Zuneigung - zumindest graduell - eröffnet.

    In der Tat würde hier wirklich jedes Gespräch verstummen, wenn außer "gefällt mir, herrliches Werk" oder "ist der größte Mist aller Zeiten" nicht mehr gesagt würde. Das würde genügen für eine Verabredung, mal mit Gleichgesinnten in ein entsprechendes Konzert zu gehen, aber mehr nicht. Auch der "Mist" und das Naserümpfen sind begründbar, vielleicht sogar deutlicher als die Zuneigung.

    Warum ich z. B. eine Stimme nicht mag, kann ich wahrscheinlich fachlich eher begründen als eine Abneigung gegen eine Sonate oder auch nur ein Instrumentenklang. Eine handwerkliche Macke ist hier des Öfteren der Hintergrund. Jedoch hängt es von sehr vielen subjektiven Kriterien ab, die andere nicht als Code erkennen. Daher streitet es sich um Geschmack ebenso grandios leidenschaftlich wie sinnlos.

    Also: Weitermachen! :thumbup:

    :wink: :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Das Spannende an dem Berg-Essay ist ja, daß Berg Schumanns Klavierstück als bloßes Konstrukt erklärt.

    Meines Wissens beschränkt er sich darauf, das Konstruktive zu beschreiben. damit ist ja über das darüber hinausgehende noch keine Aussage getroffen

    Ich glaube nicht, daß das der Weisheit letzter Schluß ist, denn ich glaube nicht, daß Schumann so gearbeitet hat.

    Ich ehrlich gesagt auch nicht, eher daß seine Inspiration in Verbindung mit dem Handwerk halt zu solchen Ergebnissen geführt hat. Das beschreibbare ist eben das auf der konstruktiven Ebene erklärbare.

    Es zeigt sich aber, daß gute Musik auch auf der rein konstruktiven Ebene erklärbar ist.

    Und dieses AUCH ist meiner Meinung nach entscheidend; deswegen ist der Achtung vor dem Unerklärbaren auch kein Abbruch getan, wenn man die konstruktive Ebene analysiert und sich daran erfreut. Und dann gibt es ja tatsächlich auch die Werke, deren Stärke eine Ausdrucksgewalt ist, die dem Analytiker nichts "zu beissen" gibt; denen man sich hingeben kann oder auch nicht und wo der Intellekt eher nicht so gefordert ist; ich denke da z.B. an manches von Tschaikowski...
    Sich für die Schönheit solcher Musik offen zu halten, fällt dem analytischen Hörer naturgemäß etwas schwerer, und es liegt nahe, da schnell mal von "schlechter" oder nicht ganz so guter Musik zu sprechen.. Aber das ist dann ja auch eine Frage der Erwartungen - ich persönlich bin immer ganz glücklich, wenn ein emotional bewegendes Stück mich auch intellektuell anspricht - und natürlich auch umgekehrt: eine rein konstruktive Musik, die mir ausdrucksmäßig nichts sagt, finde ich auch schnell langweilig...

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ich sehe, die Diskussion zieht weite Kreise. Da ich ja gewissermaßen auch der Auslöser dieser Diskussion war, habe ich lange gezögert, ob ich hier noch einmal Stellung nehmen wollte. Ich tue es dann doch.

    Zunächst einmal fühlte ich mich teilweise mißverstanden, weil manche meiner Bemerkungen nun sicher nicht in der Absolutheit gemeint waren, wie sie hier aufgefaßt wurden. Ich ziehe mich durchaus nicht nur auf einen bloßen Gefühlsstandpunkt zurück und ich kann einen Standpunkt schon zu einem gewissen Maße nachvollziehen, der sagt ein bloßes "gefällt mir" "gefällt mir nicht" ist mir zu wenig. Ich finde einen solchen Standpunkt aber manchmal auch angemessen.

    Ich bin Laie und ich möchte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich habe eigentlich ein schlechtes Gehör, das zudem völlig ungeschult ist. Anderseits muß ich auch dazu sagen, daß mich das nie interessiert hat und daß ich Musik wenig bewußt höre.

    Natürlich bilde ich mir ein, trotzdem eine gewisse Sensibilität für Musik zu haben. Das ist dann sicher eine andere Ebene des Gesprächs über Musik.

    Ein Beispiel. Ich hörte heute Beethoven Klaviersonate Opus 31,1 mit Erik Heidsink. Es ist dies eine Sonate, die ich mit Schnabel und Brendel sehr mag ( vor allem auch mit Schnabel), die mich aber heute mit Heidsink enttäuscht hat. Dabei fand ich die Wiedergabe durchaus nicht so unlebendig wie Gulda, aber speziell der 1. Satz hatte weder die Energie noch den grimmigen Witz von Schnabel ( oder Brendel). Der langsame Satz vermochte mich nicht so zu überzeugen und beim letzen Satz ( wie vermutlich schon beim ersten) hatte ich die Assoziation einer "Lieblichkeit", wie ich sie bei Beethoven nicht hören möchte.

    Das Technische vermag ich nicht zu verbalisieren, obwohl ich sicherlich auch manches höre - aber dann müßte man schon wirklich Partituren lesen können, was ich weder kann noch mag. Allerhöchstens fiel mir wieder auf, daß dieser gewisse Spitzenton wieder mal nicht diesen Akzent hat wie bei Gulda ( und im Gegensatz zu Brendel und Schnabel ).

    Ich kann also im Grunde nur diese Verbalisierung von Eindrücken leisten und mich bei der Verbalisierung von Eindrücken dann im Metaphorischen ( und häufig auch oft sehr spekulativen) aufhalten. Solche Urteile sind dann sicher auch nicht immer gerecht. Sie versuchen nur einen Eindruck zu verbalisieren.

    Manchmal schreibe ich so, manchmal eben auch nicht. Der Grund ist: Manchmal gefällt mir etwas nicht und ich weiß selber nicht warum, kann es im Grunde gar nicht verbalisieren. Und manchmal habe ich bei dem, was ich schreibe, den Eindruck, daß es mir "zu spekulativ" ist. Und manchmal habe ich schlichtweg auch einfach mal Lust mich kurz zu fassen.

    Was ich eben auch nicht mag sind die auch teilweise anzutreffenden "Unsinnstexte". "Horrowitz spielte die Waldsteinsonate mit magisch ausgezirkelter singend sonor orchestraler Tondichte". So etwas sind für mich teilweise auch anzutreffende Unsinnstexte, wo ich mir dann auch meinen Teil denke. Und Unsinnstexte möchte ich nun auch nicht produzieren, weil ich das dann wieder schlichtweg unredlich finde.

    Gruß Malcolm

    Der Hedonismus ist die dümmste aller Weltanschauungen und die klügste aller Maximen.

  • denen man sich hingeben kann oder auch nicht und wo der Intellekt eher nicht so gefordert ist; ich denke da z.B. an manches von Tschaikowski...


    Ja, das ist die alte Binsenweisheit: Der aus dem Bauch heraus komponierende Tschaikowski. Nur stimmt's nicht. Man kann Tschaikowski, sogar "1812", detailliert analysieren, die Musik ist erstaunlich dicht gearbeitet. Süffigkeit und intellektuelles Niveau sind keine Gegensätze, ich glaube sogar, daß Süffigkeit ohne eine entsprechende konstruktive Basis nicht möglich ist - siehe eben auch die "Träumerei". Wenn die konstruktive Basis fehlt, ergibt sich ein konturloses Mäandern, das alles andere als anspringend ist.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Hallo Malcom,

    Zunächst einmal fühlte ich mich teilweise mißverstanden, weil manche meiner Bemerkungen nun sicher nicht in der Absolutheit gemeint waren, wie sie hier aufgefaßt wurden.

    ich gebe zu, dass ich Deine Bemerkungen sozusagen mit Absicht "absolut" aufgefasst habe, denn die sich daraus ergebenden Fragen fand - und finde - ich interessant (die sich daraus ergebende Diskussion ebenfalls). Deshalb bin ich erleichtert, dass Du hier noch einmal schreibst, hatte ich doch schon befürchtet, Dich vertrieben zu haben :schaem: .

    Viele Grüße,

    Christian

  • Um die Mahler-Diskussion soll's ja hier nicht direkt gehen.. die war nur ein Anlass. Aber: ich glaube dass auch dort einfach erst mal ein Schisma auftritt der Art: Ein Teil (ich; vermutlich auch Federica, aber wie gesagt: darum geht's nicht) hört (?): Das Finale der III. ist "schwach" im Vergleich zum Vorigen, es hat etwas Klischiertes, vielleicht auch unfreiwillig Widersprüchliches. Und der andere Teil hört (?): Das ist toll, da spricht die Liebe direkt zu mir. Oder: da ruht die Sinfonie sich von sich selber aus.


    Wenn ich den Tenor der Postings hier versuche zu extrahieren, dann habe ich den Eindruck, daß die Mehrheit hier "irgendwie" auf eine Ursache-Wirkungsbeziehung abhebt, bei der die Ursache im Musikstück gesucht wird. Ich würde daher gerne nochmal auf das o.a. Zitat von Recordatorio zurückkommen: Wie soll denn die dort beschriebene unterschiedliche Wirkung erklärt werden, wenn doch die angenommene Ursache - das Musikstück - völlig identisch ist, vielleicht sogar noch in ein und derselben Aufführung gehört wird? Ich bin mir sicher, daß jeder zwanglos noch andere Beispiele finden kann, bei denen ein identisches Musikstück von zwei unterschiedlichen Personen unterschiedlich wahrgenommen wird und bei ihnen unterschiedliche Empfindungen auslöst. Ist das "nur" ein Hermeneutikproblem, weil der eine die "Aussage", aus welchen Gründen auch immer, nicht versteht? Oder ist die "Botschaft" so unklar, daß sie völlig konträr interpretiert werden kann? Ist es dann überhaupt noch eine Botschaft? Oder geht das vielleicht doch etwas tiefer? Warum regt die einen z.B. der Klang eines Cembalos oder ein großes Vibrato bei einer Sopranistin bereits per se auf, und die anderen schmelzen dahin? Das ist dann schon unabhänig vom Musikstück, nur noch vom Klangereignis als solchen hervorgerufen. Kann es nicht vielleicht doch sein, daß solche unterschiedlichen Wirkungen ihre Ursache im Hörer selbst haben, in seinem absolut subjektivem Erleben? Und damit im Unterbewußten, in der Art seiner Musiksozialisation zu suchen ist? Denn eine wirklich nachvollziebare, auf äußere Gegebenheiten hin objektivierbare Erklärung für seine Ablehnung jenseits von nicht weiter diskutierbaren Geschmackseindrücken wird er nicht liefern können.
    ChKöhn hat weiter ober geschrieben, daß es einer (musikalische) Aussage bedarf, um eine Wirkung hervorzurufen. Das wäre die positive Sicht der Dinge. Nichtsdestoweniger gibt es auch Wirkung ohne Aussage (und umgekehrt). Das Kratzen der Kreide auf der Tafel oder das Plätschern eines Brunnens sind akustische Ereignisse, die Wirkungen hervorrufen, sogar unmittelbar physische, ohne jeglicher damit transportierter Aussage. Gleiches findet man etwa in der bildenden Kunst, z.B. bei Karl Otto Götz und anderen Vertretern des Informel. In der Musik haben wir das in der Aleatorik und vergleichbaren Strömungen. Ligetis Poeme besteht zwar in einem streng deterministischen rhythmischem Muster, dessen Veränderung aber ein reines Zufallsergebnis liefert. Man kann die Bilder des Informel (und auch Ligetis Poème) zwar "interpretieren", aber diese "Interpretation" hat, da die Vorlage aufgrund eines Zufallsprozesses entstanden ist, keinerlei Bedeutung (wie auch Götz schreibt!), ausser für den "Interpreten" (hier ist das natürlich der Hörer oder Betrachter!) selber. Das ist wie die Deutung von Wolkenbildern. Anregung für die Phantasie, ja. Aber nicht ableitbar aus dem Werk.
    Ist Ratio die Basis von Kunst, oder wenigstens eine zu erfüllende Voraussetzung?

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Hallo Bustopher,

    ChKöhn hat weiter ober geschrieben, daß es einer (musikalische) Aussage bedarf, um eine Wirkung hervorzurufen. Das wäre die positive Sicht der Dinge. Nichtsdestoweniger gibt es auch Wirkung ohne Aussage (und umgekehrt).

    das ist nicht ganz das, was ich geschrieben habe: Ich wollte nur sagen, dass es zum Wesen einer "Aussage" gehört, eine - in gewissem Rahmen vorhersagbare - Wirkung hervorzurufen. Anders gesagt: Wirkung ohne Aussage gibt es zweifellos, aber Aussage ohne Wirkung meines Erachtens streng genommen nicht. Wenn ich zu einem Gesprächspartner einen Satz sage, gehe ich davon aus, dass er zumindest seinen wesentlichen Inhalt auch verstehen kann. Ich kann nicht vorhersagen, ob er damit einverstanden ist, empört, beleidigt, nachdenklich oder sonstwie reagiert, ob ihn der Satz an irgendetwas anderes erinnert, welche Gedanken er bei ihm auslöst usw. (wenn ich das alles vorhersehen könnte, wäre ja auch kein Gespräch mehr nötig). Aber jenseits dieser persönlichen Reaktionen gibt es doch in der Sprache so etwas wie einen inhaltlichen Kern, der unmissverständlich kommuniziert werden kann. So ähnlich stelle ich mir das in der Musik auch vor.

    Gleiches findet man etwa in der bildenden Kunst, z.B. bei Karl Otto Götz und anderen Vertretern des Informel. In der Musik haben wir das in der Aleatorik und vergleichbaren Strömungen. Ligetis Poeme besteht zwar in einem streng deterministischen rhythmischem Muster, dessen Veränderung aber ein reines Zufallsergebnis liefert. Man kann die Bilder des Informel (und auch Ligetis Poème) zwar "interpretieren", aber diese "Interpretation" hat, da die Vorlage aufgrund eines Zufallsprozesses entstanden ist, keinerlei Bedeutung (wie auch Götz schreibt!), ausser für den "Interpreten" (hier ist das natürlich der Hörer oder Betrachter!) selber. Das ist wie die Deutung von Wolkenbildern. Anregung für die Phantasie, ja. Aber nicht ableitbar aus dem Werk.

    Die Aleatorik von Ligetis Poème überlässt zwar den konkreten Ablauf dem Zufall, aber die entscheidenden grundsätzlichen Prozesse sind keineswegs zufällig sondern mit Sicherheit vorhersehbar: Am Anfang des Stückes steht ein gleichmäßiges rhythmisches "Rauschen" aller 100 Metronome, das mit dem allmählichen Aussetzen immer mehr durchlöchert und damit rhythmisch komplexer wird. Diese Entwicklung kehrt sich an einem gewissen Punkt wieder um, wenn nur noch wenige Metronome laufen, die rhythmischen Überlagerungsprozesse also wieder einfacher werden. Am Schluss läuft nur noch ein einziges Metronom, und man hat wieder eine ähnlich simple rhythmische Struktur wie am Anfang. Dieser auf- und absteigende Spannungsverlauf ist bei jeder Realisierung des Stückes gleich, ebenso wie das Decrescendo vom Beginn bis zum Schluss. Im Vergleich mit einer traditionellen Komposition ist das Stück sogar genauer vorhersehbar, weil kein menschlicher Interpret als Zwischeninstanz wirkt. Ähnliche Ideen von Aleatorik hatte z.B. auch Lutoslawski, der keineswegs die Kontrolle über das Ergebnis aufgegeben hat. Nun gibt es sicherlich auch Stücke, deren "Aussage" gerade darin besteht, verschiedene Deutungen zuzulassen und damit eine gewisse Unsicherheit zu vermitteln. Ich höre z.B. manches bei Schubert und Mahler, vieles bei Schostakowitsch so. Auch solche Werke haben eine "Aussage" im Sinne einer in gewisser Weise vorhergesehenen "Wirkung".

    Viele Grüße,

    Christian

  • Ich kann Dir nicht ganz folgen: Die Entfernung der harmonischen Raffinessen macht das Stück "natürlich" banal, aber die Schönheit des Stückes hängt nicht von diesen Raffinessen ab? Das kriege ich nicht zusammen.

    Ok, ich habe mich blödsinnig ausgedrückt: Natürlich hängt sie von solchen Raffinessen ab, aber eben nicht nur. Bzw.: Man könnte sich einen unüberschaubaren Pool an kompositorischen "Tricks" wissend aneignen. An welcher Stelle man sie aber dann verwendet, wie man sie anordnet, warum jetzt genau diese "Raffinesse" an dieser Stelle einer anderen folgt, das sagt einem (zum Großteil) die Inspiration.

    Das kommt drauf an. Wie ich sagte: Es gibt lehr- und erlernbare Tricks, etwa die Sequenz, oder scheinbare Periodik-Unterbrechungen (wenn beispielsweise eine Phrase aus 4+4 // 4+4 aufgebrochen wird zu 4+3 // 5+3), diverse Möglichkeiten der Auszierung etc. etc. Diese Möglichkeiten zu kennen und anwenden zu können, ist das Handwerk. Auf der Basis dieses Handwerks aber das Unerwartete, das Besondere zu erreichen, ist nicht mehr nur Handwerk, sondern eben auch Talent, Genie, was immer Du willst. Oder anders gesagt: Die Sequenz ist das Handwerk, aber eine Sequenz beispielsweise nicht, wie erwartet, einen Ton tiefer sondern eine Dur-Terz tiefer folgen lassen, kann ein brillanter Einfall sein - der wahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre, hätte der Autor die Möglichkeit der Sequenz nicht gekannt.
    Gerade wegen dieser Durchdringung von Einfall und Handwerk bin ich absolut dagegen, das Eine gegen den Anderen auszuspielen. Musik, die nur eines von beiden hat, ist schlechte Musik, davon bin ich überzeugt. Das Spannende an dem Berg-Essay ist ja, daß Berg Schumanns Klavierstück als bloßes Konstrukt erklärt. Ich glaube nicht, daß das der Weisheit letzter Schluß ist, denn ich glaube nicht, daß Schumann so gearbeitet hat. Es zeigt sich aber, daß gute Musik auch auf der rein konstruktiven Ebene erklärbar ist.

    Danke Edwin, das ist wunderbar auf den Punkt gebracht, finde ich. Unterschreibe ich voll und ganz!

  • Man könnte sich einen unüberschaubaren Pool an kompositorischen "Tricks" wissend aneignen. An welcher Stelle man sie aber dann verwendet, wie man sie anordnet, warum jetzt genau diese "Raffinesse" an dieser Stelle einer anderen folgt, das sagt einem (zum Großteil) die Inspiration.

    Das glaube ich auch, aber das schließt ja nicht aus, dass bei einer Analyse des Stückes dann herauskommt, dass die Ergebnisse dieses inspirierten Prozesses dennoch logisch und rational nachvollziehbar sind. Eben das wollte Alban Berg zeigen, und nicht, dass Schumanns Kompositionsprozess quasi eine umgekehrte Analyse war. Insofern stimme ich Edwin und Dir zu, dass Schumann "so" nicht gearbeitet hat, aber das behauptet Berg auch nicht, und das spielt für das Ergebnis auch keine Rolle. Wie ein Komponist zu seinen Ergebnissen kommt, ist eine andere Frage, als wie diese Ergebnisse beschaffen sind. Aus der Inspiration des Komponisten ist nicht auf Unanalysierbarkeit (bzw. wie es hier hieß: Unerklärlichkeit) der Komposition zu schließen.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Zitat

    Eben das wollte Alban Berg zeigen, und nicht, dass Schumanns Kompositionsprozess quasi eine umgekehrte Analyse war. Insofern stimme ich Edwin und Dir zu, dass Schumann "so" nicht gearbeitet hat, aber das behauptet Berg auch nicht, und das spielt für das Ergebnis auch keine Rolle. Wie ein Komponist zu seinen Ergebnissen kommt, ist eine andere Frage, als wie diese Ergebnisse beschaffen sind.

    Ja, das musste unbedingt gesagt werden. Ähnlich: Ein Grammatiker beschreibt nicht, wie - nach welchen bewussten Kriterien - jemand deutsch spricht, sondern welche - nicht unbedingt explizit gewussten Regeln - dabei eine Rolle spielen. (Das schließt nicht einen Spielraum vieler Möglichkeiten aus.) Daher ist systematische Analyse machbar, ohne dem Komponisten - oder dem Sprecher des Deutschen - zu unterstellen, blind, ohne Inspiration, nach einem Regelwerk vorzugehen.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.


  • Ja, das ist die alte Binsenweisheit: Der aus dem Bauch heraus komponierende Tschaikowski. Nur stimmt's nicht. Man kann Tschaikowski, sogar "1812", detailliert analysieren, die Musik ist erstaunlich dicht gearbeitet. Süffigkeit und intellektuelles Niveau sind keine Gegensätze, ich glaube sogar, daß Süffigkeit ohne eine entsprechende konstruktive Basis nicht möglich ist - siehe eben auch die "Träumerei". Wenn die konstruktive Basis fehlt, ergibt sich ein konturloses Mäandern, das alles andere als anspringend ist.
    :wink:

    Das ist aber meiner Meinung nach garnichtdie Alternative, sondern eine allzu simple konstruktive Basis wäre die Alternative, die im Zusammenhang mit "Süffigkeit" schnell mal Kitsch ergibt. Und auch da gibts Beispiele, wo die Melodie als solche dann ausreicht, das Stück zu tragen. Daß Tschaikowsky aus dem Bauch heraus komponiert hätte, würde ich niemals behaupten. Aber die Qualität seiner Werke liegt für mich eher in der Inspiriertheit der Einfälle - der schönen Melodien, wie man einfach mal anerkennend feststellen kann - als in der ausgefeilten Verarbeitung. Tatsächlich empfinde ich da manchmal sogar eine Abschwächung, wo z.B. in der Reprise vom Kopfsatz der Pathetique das Seitenthema mit einem Kontrapunkt verbrämt wird, der für mich die Wirkung schmälert; kann Absicht sein, aber für mich steht da Konstruktion und Gefühl gegeneinander, während es bei von mir höher geschätzten Komponisten so ist, daß sich Konstruktion und Ausdruck gegenseitig steigern. Nur als ein Beispiel die Durchführung in der 8ten von Bruckner (1.satz), wo im Fortissimo erstes und zweites Thema aufeinanderprallen in ausdrucksvollstem Kontrapunkt.
    Tschaikowski wollte ich nicht abwerten, nur liegen seine Qualitäten, die ich durchaus schätze, woanders.

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zitat

    wo z.B. in der Reprise vom Kopfsatz der Pathetique das Seitenthema mit einem Kontrapunkt verbrämt wird, der für mich die Wirkung schmälert; kann Absicht sein, aber für mich steht da Konstruktion und Gefühl gegeneinander, während es bei von mir höher geschätzten Komponisten so ist, daß sich Konstruktion und Ausdruck gegenseitig steigern.

    das ist sicherlich auch davon abhängig, mit welcher Wiedergabe man sich die Reprise bzw. die Pathetique reinzieht.
    Für mich ist dieser Kontrapunkt ganz unverzichtbar. Denn dadurch erhält der Seitensatz in der Reprise einen "irisierenden" und gleichzeitig fahlen Ausdruck. Ich habe immer den Eindruck, dass der Kontrapunkt diesen Seitensatz förmlich kokonartig "einfriert" und damit die Wirkung steigert. Am deutlichsten ists für mich im kommerziellen Live-Mitschnitt unter Lenny aus den 80ern.
    Vielleicht wäre in dieser Perspektive diese Reprise dann auch gegenseitige Steigerung von Konstruktion und Audruck.
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Für mich ist dieser Kontrapunkt ganz unverzichtbar. Denn dadurch erhält der Seitensatz in der Reprise einen "irisierenden" und gleichzeitig fahlen Ausdruck. Ich habe immer den Eindruck, dass der Kontrapunkt diesen Seitensatz förmlich kokonartig "einfriert" und damit die Wirkung steigert.

    Okay, das wäre dann das mit der Absicht... Aber dieses "Einfrieren", das eine Distanz zur ursprünglichen Gefühlsintensität schafft, als Steigerung zu hören, ist mir noch nicht gelungen. Hab allerdings wirklich besagte Aufnahme nie gehört...

    Gruss
    Herr MAria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Für mich ist dieser Kontrapunkt ganz unverzichtbar.

    Er hat ja auch ein Pendant im Schlussatz: wenn die aus dem Hauptthema (das ja eine triste Variante des Seitensatzthemas des Kopfsatzes ist) abgeleitete, abwärtsgerichtete Fortspinnung von dem nach oben strebenden Kontrapunkt der Posaunen und Trompeten regelrecht auseinandergerissen und zur finalen Katastrophe gebracht wird (die mit Moderato assai bezeichnete Passage vor der letzten verzerrten Wiederkehr des Hauptthemas).

    Im Kopfsatz fand ich den Kontrapunkt zum Seitensatz in der Reprise auch lange befremdlich, aber Amfortas' Metapher des "Einfrierens" trifft es ziemlich gut. Im Finale friert der Kontrapunkt dagegen nicht mehr ein, sondern sprengt auf. Oder so ähnlich...


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • ..vermutlich müssten wir der Begriff "Steigerung" deutlicher festmachen...
    ..bin mir selbst dabei noch nicht ganz klar mit der "Absicht" in dieser Reprise ...
    .. ist für mich immer wieder der eindringlichste Teil des Kopfsatzes..

    Zitat

    Hab allerdings wirklich besagte Aufnahme nie gehört...

    unbedingte Empfehlung, vor allem die Ecksätze...

    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Er hat ja auch ein Pendant im Schlussatz: wenn die aus dem Hauptthema (das ja eine triste Variante des Seitensatzthemas des Kopfsatzes ist)

    Das war mir noch garnicht aufgefallen, danke für den Hinweis....
    Wieder was an meinem Tschaikowski-Bild geändert...

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
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  • ..vermutlich müssten wir der Begriff "Steigerung" deutlicher festmachen...
    ..bin mir selbst dabei noch nicht ganz klar mit der "Absicht" in dieser Reprise ...
    .. ist für mich immer wieder der eindringlichste Teil des Kopfsatzes..

    Also als bewußte Abschwächung und Verfremdung kann ich das als sinnvoll hören; Steigerung ist für mich was anderes, und eindringlich hörbar wird für mich an der Stelle, daß die Seifenblasen des Seitensatzes geplatzt sind und nur noch eine Hülle bleibt...
    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ähnlich: Ein Grammatiker beschreibt nicht, wie - nach welchen bewussten Kriterien - jemand deutsch spricht, sondern welche - nicht unbedingt explizit gewussten Regeln - dabei eine Rolle spielen. (Das schließt nicht einen Spielraum vieler Möglichkeiten aus.) Daher ist systematische Analyse machbar, ohne dem Komponisten - oder dem Sprecher des Deutschen - zu unterstellen, blind, ohne Inspiration, nach einem Regelwerk vorzugehen.

    Wunderbarer Vergleich, der das Nebeneinander von Struktur und Inspiration auf den Punkt bringt....

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • ja Verfremdung ist vermutlich die triftigere Bezeichnung/Beschreibung...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Ja, das musste unbedingt gesagt werden. Ähnlich: Ein Grammatiker beschreibt nicht, wie - nach welchen bewussten Kriterien - jemand deutsch spricht, sondern welche - nicht unbedingt explizit gewussten Regeln - dabei eine Rolle spielen. (Das schließt nicht einen Spielraum vieler Möglichkeiten aus.) Daher ist systematische Analyse machbar, ohne dem Komponisten - oder dem Sprecher des Deutschen - zu unterstellen, blind, ohne Inspiration, nach einem Regelwerk vorzugehen.

    Lieber kunnukun,

    Musik als Sprache - Grammatik
    Ich möchte Deiner Ausführung nicht unbedingt widersprechen, gebe aber zu bedenken, dass Du voraussetzt, dass Musik als „Sprache“ definiert wird. Dieses muss so nicht stattfinden, sondern beide (Sprache und Musik) könnten unabhängig voneinander unter dem Oberbegriff Kommunikationsinstrumente o. ä. eingeordnet werden, ohne dass (alle) Analogien („Grammatik“) zutreffend sind. Einige Autoren/Wissenschaftler/Komponisten sehen Musik sogar überhaupt nicht als Kommunikationsmittel? *

    Einfall – Idee – Technik – Expressivität **
    M. E. sind Einfall, Idee, Technik und Expressivität jeweils für sich allein leer – kunstleer. Nur die gekonnte "Symbiose" aus allen vier Elementen füllen „das Werk“, geben ihm Form und Inhalt.

    Was kann "über Musik reden/diskutieren" eigentlich sinnvoll heißen?
    Schreiben/Reden ist ein Tatbestand des „Hierseins“ in Capriccio…

    * siehe auch Problematiken/Diskussionen: sog. absolute Musik; Musik und Bedeutung (Zitat von Igor Strawinsky: „Musik [ist] ihrem Wesen nach unfähig, irgendetwas ›auszudrücken‹, was es auch sein möge: ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst“) etc.

    ** ggf. kann man „Einfall“ und/oder „Idee“ zusammenfassen und mit „Inspiration“ betiteln, allerdings ggf. mit der Konnotation von „göttlicher Eingebung“, was ich an dieser Stelle vermeiden möchte.

    Bis dann.

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