• Zwar wurde das Buch schon im Eingangsbeitrag gelobt, doch möchte ich mich dem gerne anschließen:

    Eine solche Detailfülle in eine sinnvoll lesbare Reihenfolge zu bekommen, ist schon mal ein Kunststück für sich. Was überhaupt an biographischen harten Fakten vorlag, wurde hier in einen Bogen gespannt, der von Anfang bis Ende trägt.

    Sehr interessant fand ich die Überlegungen im Epilog, "Bach und die Idee 'musicalischer Vollkommenheit'" sowie die öfters eingestreuten Überlegungen zu Bachs Selbstbild und zu seiner Musikauffassung.

    Das Büchlein von Martin Geck hat schon von seinem Umfang her einen völlig anderen Anspruch. Besonders nutzbringend fand ich es nicht, aber nun gut:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Zwar wurde das Buch schon im Eingangsbeitrag gelobt, doch möchte ich mich dem gerne anschließen:

    Tja, das kann man so sehen. Nur: Genau dieses Buch - Wolffs Bach - habe ich kürzlich auch beendet, nachdem ich es vor längerer Zeit begonnen und zwischendurch diverses Anderes gelesen habe. Mir waren das bereits zu viele Details. Je länger ich daran las und desto weiter ich in Bachs Leben kam, desto weniger interessierte es mich. Wenn mich jemand also fragen würde, ob ich Wolffs Biographie empfehlen würde, müsste ich nein sagen. Mir war es nicht fesselnd, unterhaltsam genug, trotz oder gerade wegen der imponierenden Faktenfülle.

  • Dazu noch etwas: Schulzes Kantaten-Buch halte ich für kaum nützlich, wenn man den Dürr schon kennt bzw. hat, der ja allseits anerkannte Pflicht ist. Gerade zu den Kantaten steht aber auch sehr viel Interessantes im oben gezeigten Bach-Handbuch, das ich deshalb hier auch gerade "für die Freunde der Bachschen Kantate, die neben Dürr und Koopmann gern noch etwas mehr zu den Kantaten im Schrank stehen haben wollen".

    :wink: Thomas

  • Gardiner ist unter die Schriftsteller gegangen:

    Ich habe das Buch ganz zufällig während meines England-Urlaubs entdeckt und in der Originalfassung mitgenommen. Es gibt aber jetzt auch eine deutsche Fassung.
    Ich bin noch nicht durch den dicken Schmöker durch (auf Englisch geht's dann doch etwas langsamer), aber ich finde es bisher sehr interessant geschrieben. Mir fehlt allerdings der Vergleich zu anderen Bachbüchern, da es mein erstes ist.
    Gardiner beschreibt auch am Anfang sehr ausführlich das kulturgeschichtliche Umfeld nach dem 30-jährigen Krieg.

    Eine Einschränkung ist leider, dass Gardiner sich ausschließlich auf die Kirchenmusik beschränkt. Das ist natürlich sein Spezialgebiet und da bleibt er bei seinen Leisten. So kann man also nichts über Konzerte, WTK, Goldberg etc... erfahren.

    Trotzdem lese ich es weiter....

    Grüße , Stephan

    -----------------------------------------------------------------------------------------------
    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Friedemann Otterbach

    Johann Sebastian Bach: Leben und Werk

    Otterbachs Werk über Bach richtet sich ausdrücklich nicht an ein wissenschaftliches Publikum, sondern an den akademischen Laien mit etwas Vorkenntnissen in Musiktheorie. Gegliedert ist Otterbachs Buch in 3 Teile: 1) Biographie 2)den mittleren Teil "Bachs Musik in ihrer Zeit" und 3)"Bachs Werke".
    Die Biographie umfasst nur 38 Seiten und ist etwas spröde verfasst.
    Der stärkste Teil ist der mittlere..., indem Bachs Werk in einen Ideen- und sozial-geschichtlichen Kontext eingeordnet wird. Es werden Fragen beantwortet, wie:
    Welche Funktion hatte die Musik in der Kirche? Was ist gute und böse Musik im kirchlichen Kontext? Kurze Erklärungen zu Parodieverfahren, Kontrapunkt und der Stellung des Generalbasses runden den Mittelteil ab. Otterbach weist immer wieder daraufhin, dass Bachs "weltliches Werk" seinem geistigen Werk keinesfalls unterlegen war und für Bach auch dieTexte austauschbar schienen. Dies macht er unter anderem am Weihnachtsoratorium fest, das eigentlich nur eine Parodie ("Kopie") von weltlichen Kantaten war. Er weist auf das Tänzerische im Weihnachtsoratorium hin:

    Zitat

    Wenn Bach im Weihnachtsoratorium Rhythmen setzte, die unter anderem an Tanzsätze erinnern, so dürfte dies auf den Affekt der Fröhlichkeit hinweisen, der dem Weihnachtsfest angemessen schien.(Otterbach 1999: 104)

    Der abschließende Teil, "Die Werke" fokussiert sich nur auf einige wenige Aspekte der Vokal- und Instrumentalmusik, die Otterbach besonders zu interessieren scheinen. Den Versuch die Ergebnisse und Problemfelder der Bachforschung in einer differenzierten Werk-Analyse allgemeinverständlich darzustellen und zusammenzufassen macht er erst gar nicht: Otterbachs Fokus scheint vor allem das eigene Spezialgebiet zu sein: Musik und Tanz und Bachs Aneignung des französischen und des italienischen Stils, bzw. den Vorrang des Instrumentalstils in Arien und Chören.

    Mir etwas schleierhaft, weshalb Otterbach mit dem Jahrespreis der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg ausgezeichnet wurde: Für seine "allgemeinverständliche Darstellung neuer Forschungsergebnisse."
    Ich finde das Buch zwar nett geschrieben, aber es weist schon noch einige Fremdwörter auf, die m.E. nicht alle umfassend erläutert werden. Bzw.oft nur 1x kurz im Fließtext eine Erklärung erfahren und dann wird die Kenntnis vorausgesetzt. Wenn man sich ausdrücklich nicht an die übersichtliche Bach Forschergemeinde richten möchte, sondern ein breiteres Publikum sucht, dann wäre zumindest ein Glossar hilfreich gewesen, indem man nochmal nachschlagen kann. Schön fand ich aber, dass die meisten Notenbeispiele "Idiotensicher" umkreist/umrandet waren...Für Menschen - wie mich - mit marginalen Kenntnissen sehr hilfreich.... :D

    Insgesamt ist Otterbachs Buch durchaus empfehlenswert, aber ob es dem Anspruch gerecht wird allgemeinverständlich zu sein, kann ich schwer beurteilen...Ich habe keinen großen Unterschied zur wissenschaftlichen Literatur feststellen können...

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)

  • Schöner Thread! Vor einigen Wochen bin ich auf ein Buch mit einem wahnsinnig vielversprechenden Titel gestoßen. "Lebenskrisen als Raum der Freiheit. Johann Sebastian Bach in seinen Briefen" ist eine Analyse ausgewählter Briefe Bachs, besonders aus dem Präfektenstreit, die neue Erkenntnisse über Bachs Lebensentwurf und Selbstbild insbesondere in Krisenzeiten, in denen das Individuum zur Handlung gedrängt wird, offenbaren will.

    Frank Mund arbeitet mit sprachwissenschaftlichen und soziologischen Analysen, die sehr gründlich erklärt werden. Einzelne Worte aus Bachs Briefen werden in Bedeutungsgruppen sortiert, dann nach Intensität skaliert usw. Eine sehr gute Buchbesprechung hat Prof. Linda Maria Koldau in der nmz veröffentlicht, da wird das schön beschrieben: "http://www.nmz.de/artikel/aus-sc…iheit-schoepfen". Ihre Freude über den erfrischenden Ansatz ist durch Munds knappen Schluss ein wenig getrübt, was ich gut nachvollziehen kann. Am Ende war ich minimal enttäuscht, dass nach dem ganzen Aufwand kein deutliches Bach-Bild zum Vorschein kam. Einzelne Hinweise auf Persönlichkeitsmerkmale und angelerntes Verhalten gab's schon, aber so richtig umgehauen hat's mich nicht. Trotzdem: mal reinlesen lohnt schon.

  • Frank Mund arbeitet mit sprachwissenschaftlichen und soziologischen Analysen, die sehr gründlich erklärt werden. Einzelne Worte aus Bachs Briefen werden in Bedeutungsgruppen sortiert, dann nach Intensität skaliert usw. (...)Einzelne Hinweise auf Persönlichkeitsmerkmale und angelerntes Verhalten gab's schon, aber so richtig umgehauen hat's mich nicht. Trotzdem: mal reinlesen lohnt schon.

    Habe ich mir mal auf die Warteliste gesetzt. Sind denn alle Briefe von Bach ganz abgedruckt ? (Sprachwissenschaftliche Analysen können auch manchmal ziemlicher Mist sein und den Wald eher vergrößern, sodass am Ende der Baum ganz verdeckt ist... :hide: Obwohl ich gerade die Sozio- und Pragmalinguistik auch sehr schätze...)

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)


  • Malte Korffs Bach DTV-Monografie finde ich relativ gut lesbar geschrieben und ziemlich auf den Punkt gebracht. Sie richtet sich garantiert nicht an Bach-Kenner, die sich mit Besetzungsfragen zum Chor oder Orchester beschäftigen oder die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Fakt und Fiktum seiner Biographie erwarten. Dennoch - finde ich - hat sie einen recht hohen Informationsgehalt, gerade auch Dank der mitabgedruckten Zusatz- und Begleitinformationen (Auszüge aus Briefen, Exkurs zu Italienischer Instrumentalmusik) Ein Bachliebhaber und Fan wird zwar im wesentlichen nix neues erfahren, aber für Jemanden der sich zum ersten Mal mit Bach beschäftigt ist die Biographie bestimmt auch zu einer tiefer-gehenden Detail-Beschäftigung anregend. Im Gegensatz zu Otterbach finde ich das eine gelungene Darstellung von einer Musikhistorie auf populär verständlichem Niveau.
    Allerdings ist Korff von seinem Stil her kein Safranski...Die Biographie ist weder mitreißend, noch besonders "romanhaft" geschrieben. Die Fähigkeit von Korff ist es eher viele Informationen in wenige Spiegelstriche zu verdichten...Eine wirklich Werkanalyse von Bach findet nicht statt, sondern man hat nur kurze Exkurse in pinken oder grünen Kästen zur Matthäuspassion etc.. Das Korff alle nur anreißt, kann extrem unbefriedigend sein, wenn man die Biographie ließt, um genauere Infos zu einem speziellen Werk zu erfahren, aber wer einen ersten Einblick in Bachs Leben haben möchte und sich nicht mit Musiktheorie etc. befassen, der kann in Korff eine gute und schnell lesbare Überblicksbio finden.

    Korrfs Bach-Bio gibt es auch in einer Bearbeitung als Hörbuch, aber bei diesem fallen alle Exkurse etc weg, sodass man einige Informationen des Buches nicht mitbekommt. Dafür ist Musik eingeschoben, die ich aber von der Auswahl eher für fraglich halte...Aber da bin ich auch sehr voreingenommen und ich schalte auch eher aus beim hören...Daher selbst mal testen... :D

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)

  • Vielleicht schreibt er ja noch eine. In den 1970ern hätte er wohl über Eisler oder Dessau oder Nono geschrieben. Heute würde es wahrscheinlich eher Pfitzner werden.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Vielleicht schreibt er ja noch eine. In den 1970ern hätte er wohl über Eisler oder Dessau oder Nono geschrieben. Heute würde es wahrscheinlich eher Pfitzner werden.

    Vielleicht kommt er im hohen Alter auch auf die Jugend zurück...
    Also Eisler hätte ich liebend gerne, obwohl ich schon oberflächlich einiges weiß..., aber das ist ziemlich verschollen..Habe ich lange nicht mit ihm beschäftigt...Dessau und Nono: Ich weiß zumindest, dass es sie gibt :hide: ...Aber von Safranski würde ich eine Bio lesen...Bei mir ist es so: Manchmal brauche ich den Hintergrund, um mir ein Werk zu erschließen...Ob er mir den Pfitzner schmackhaft machen könnte... ?(

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)

  • Ein Jammer, daß der Mann (Safranski jetze) keine Komponisten-Biographie geschrieben hat...


    Du könntest eine Online-Petition starten und wir überreichen ihm (also Safranski) die Unterschriften... :-H Er wäre bestimmt tief beeindruckt und würde alles fallen lassen und sich sofort ans Werk machen...Nur auf den Komponisten müsste man sich noch einigen...Ich wäre für Eisler...Daher müsste man erstmal ein Capriccio-Meinungsbild erstellen, welchen Komponisten Safranski porträtieren sollte.

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  • Sehr gelungen, sogar überraschend gelungen angesichts der Rahmenbedingungen, finde ich den Bach-Band aus der Becks-Wissen-Reihe, geschrieben von Dorothea Schröder:

    Schröder stellt auf den in der Reihe üblichen genau 128 Seiten Bachs Leben, sein Umfeld und seine Musik dar, mit einem klaren Schwerpunkt auf der Biographie. Dabei gliedert sie den Text klar nach den einzelnen Lebensstationen bzw. Wirkungsorten Bachs. Das macht das Buch übersichtlich und auch ohne musikalische Vorkenntnisse gut verständlich. Schröder schreibt sehr sympathisch, flüssig und angenehm, man kann durch den Text beim Lesen geradezu hindurchgleiten. Man erfährt etwas über Bach als Mensch, aber auch über sein Umfeld und seine Arbeitsbedingungen. Dabei kennt Schröder immer die aktuellen Forschungen und baut sie in ihre Erzählung ein, so etwa auch die Entdeckungen zweier bisher unbekannter Bach-Werke im letzten Jahrzehnt.
    Natürlich geht es hier nicht um ein musikwissenschaftliches Fachbuch, sondern die zweifellos schwierige Aufgabe, auf 128 Seiten für ein heterogenes Publikum einen der am intensivsten durchleuteten Künstler überhaupt darzustellen, hat Dorothea Schröder auf bewunderns- und sehr lesenswerte Weise gelöst.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Die Becksche' Reihe Wissen-Bände aus dem Themenbereich Musik richten sich ebenso an den interessierten Laien. In Kompaktform möchte die Serie Informationen zu einem bestimmten Werk bedeutender Komponisten der Musikgeschichte bieten.

    Laien sollen die die Möglichkeit haben den betreffenden Komponisten, seine kompositorische Entwicklung und ebenso die jeweilige Gattung kennenlernen und ihre Entwicklung in der Musikgeschichte einzuordnen. (Ein ziemlich wagemutiger Selbst-Anspruch, denn auch hier stehen ca. 120 Seiten zur Verfügung...
    Die Frage ist nun: Gelingt das?
    Scholz' Passionen setzt eigentlich viel Grundwissen voraus: Z.B. Textkenntnis...Es gibt keine von der musikalischen Analyse der Passionen getrennte Hinführung zu den beiden erhaltenen Passionen...Es wird zwar angerissen, was in der Johannes- und der Matthäuspassion passiert, aber nicht getrennt von der Musiktheorie betrachtet und gedeutet. Der zeitliche Kontext wird mit 4 Seiten abgehandelt und die theologischen Bezüge sind auf 5 Seiten verdichtet.Rezeption-und Aufführungspraxis erhalten 7 Seiten...

    Ein musikalischer Laie wird sicher auch nicht froh mit diesem Buch, da man mit Fremdwörtern an einigen Stellen überschüttet wird, ohne das diese in irgendeinen sinnvollen Kontext gestellt werden: Auf S.20 heißt es z.B.

    Zitat

    Die wesentlichen Kategorien der musikalischen Figurenlehre sind: -Figuren der Bildhaftigkeit (Hypotyposis): Anabis, Katabasis, Circulatio
    Wiederholungsfiguren: Anadiplosis, Klimax
    Pausenfiguren:Apokope, Abruptio, Suspirato
    Intervallfiguren: Exclamatio, Passus duriusculus, Hyperbole, Interrogatio...
    Satzfiguren: Katachesis,Parrhesia

    Die Bedeutung dieser Begriffe wird im Glossar erläutert


    Ebenso problematisch finde ich, dass Scholz ganz klar die Matthäuspassion (MP) der Johannespassion (JP) vorzieht und meint sein eigenes Urteil hat Allgemeingültigkeit ohne die Kontroversen in der Forschung oder auch zwischen den Dirigenten anur anzusprechen..
    Scholz empfindet die JP vor allem als epochale Schöpfung und Gebrauchsmusik, die sich den veränderten Bedingungen eines sich wandelnden ästhetischen Geschmacks und einer modifizierten Gottesdienstordnung unterziehen musste. (Scholz 2001: 72)
    Scholz nennt die Johannes-Passion „ ästhetisch zu heterogen“, die einer „mitleidenden“ Gemeinde wenig Möglichkeiten zur Identifikation bietet, da im Johannes Evangelium das zentrale Ereignis im Zentrum steht: Der Prozeß Jesu vor Pilatus und nicht wie bei Matthäus die einzelnen Leidensstationen. thematisiert werden. Die Johannes-Passion ist also nicht in der Lage die Gemeinde ähnlich zu rühren, wie die Matthäuspassion.
    Kein Wort hingegen verliert er zu der Frage: Ob der Text antijudaistische Züge hat oder nicht...(In Veldhovens neuster Einspielung findet sich eine Art Essay, die von der Hypothese ausgeht, dass Bach im Gegensatz zu Luther ein anderes Verständnis hat und uns alle als Sünder begreift)
    Ebenso findet man nichts zu Besetzungsfragen: Wie groß waren Chor und Orchester...Welche Rolle spielt der erste und 2 Chor in der Matthäuspassion...(Koopmann,Jacobs betonen die Doppelchörigkeit und das singen von den beiden Emporen, Veldhoven verwirft die Doppelchörigkeit und meint der Chor 2 ist untergeordnet und „verstärkt“ je nach Bedarf Chor 1. Ebenso ausgelassen wird die Frage, ob die Choräle von der Gemeinde mitgesungen wurden...

    Was Scholz recht gut macht, ist eine musikalische Analyse der Höhepunkte und Stationen der beiden Werke. Er geht die Partitur oberflächlich, aber systematisch durch und erklärt u.a.welche rhetorischen Figuren etc. benutzt werden, um "was" auszudrücken. Allerdings schneidet er auch hier Themen oft nur Kurz an, sodass man manchmal etwas in der Luft hängt: Z.B.nennt er die Hypotyposis Figuren bei Schütz realistisch und stellt sie Bachs symbolischer Verwendung gegenüber und das nur anhand eines einzigen Beispiels.
    Auch die Zahlenmystik von Bach wird nur ganz kurz angerissen: ob der Komponist mit einer Figur, einer bestimmten Zahl von Tönen etwas ausdrücken wollte oder nicht, lässt er am Ende offen Z.B. sollen elf aufsteigende Sechzehntelnoten an die elf Apostel erinnern , die mit Jesus den Ölberg bestiegen sind? Ist die Parallelität der 30 Baßtöne und 30 Silberlinge von Bach intendiert oder war es reiner Zufall und somit eine Überinterpretation der heutigen Forschung? Scholz schlägt sich auf keine Seite---

    Fazit: Es gibt wesentlich besser lesbare wissenschaftliche Literatur für Laien z.B. "Hearing Bach’s Passions" Da werden zwar auch nicht alle meine Fragen beantwortet, aber das Buch hat auch einen ganz anderen Anspruch und grenzt klar ab, was es zu bieten hat...

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)

  • Sehr gelungen, sogar überraschend gelungen angesichts der Rahmenbedingungen, finde ich den Bach-Band aus der Becks-Wissen-Reihe, geschrieben von Dorothea Schröder:

    Das finde ich auch...Ich würde sie Korff' auch vorziehen, aber bin mir nicht sicher wie das Nicht-Akademiker sehen, weil Schröder eben doch noch ein paar Fremdwörter nutzt...Diese bricht sie aber immer sinnvoll runter und stellt sie in einen Kontext. Daneben greift sie auch einige Male Kontroversen auf...

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960)

  • Kennt jemand von Euch das Buch von Hans Blumenberg: Matthäuspassion?

    Ich habe Blumenberg immer gern gelesen, finde ihn immer wieder überraschend, so auch bei der "Matthäuspassion". Zur Musik findest Du da eher wenig, trotzdem lese ich immer mal wieder darin, wenn ich die MP höre.

    lg vom eifelplatz, Chris.

  • Ich habe Blumenberg immer gern gelesen, finde ihn immer wieder überraschend, so auch bei der "Matthäuspassion". Zur Musik findest Du da eher wenig, trotzdem lese ich immer mal wieder darin, wenn ich die MP höre.
    lg vom eifelplatz, Chris.

    Zitat

    In seinem späten Werk Matthäuspassion (1993) geht Blumenberg der Frage nach, welche Bedeutung christliche Aussagen noch für einen Leser haben können, der – wie Blumenberg selbst – kein Christ mehr ist, aber aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht auf das Christentum zurückblickt. Die neopaganen Implikationen von Blumenbergs anthropologischer Theorie der Entlastung und des Mythos wurden wiederholt kritisiert. Trotz diesem auch mit autobiographischen Bemerkungen motivierten Abschied vom Christentum wird Blumenbergs Werk auch von Theologen rezipiert und hinsichtlich seines Anregungspotentials für die protestantische wie katholische Theologie diskutiert.


    Ich habe das Buch 1995 gelesen und es hatte mich stellenweise ratlos zurück gelassen und tut es in Teilen heute immer noch.

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Günter Jena „ Das gehet meiner Seele nah " Bachs Matthäus - Passion 1993



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    Zitat

    Sein Buch will in sehr persönlicher Weise in dieses Gipfelwerk der Musik einführen, es hat zum Ziel, Denkanstöße dafür zu geben, was Musik und Theologie der Matthäuspassion heute bedeuten können. „ Ich will die Hörer nicht belehren, sie wissen und hören letztendlich ebensoviel wie ich. Aber die Hörer mögen ihr Empfinden vertiefen, wenn sie lesend an meinem teilhaben. Ich möchte sie auf einem Gang durch die Passion begleiten - wie bei einem Streifzug durch ein Museum. "


    Lieber Gurnemanz, das kann ich dir sehr empfehlen, hier geht es hauptsächlich um die Musik.

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Herzlichen Dank für Eure Antworten! Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, daß ich auf das Buch nicht so sehr wegen Bach aufmerksam wurde, sondern wegen des Autors, der zum Thema Mythos-Logos-Religion so einiges geschrieben hat (mir noch nicht bekannt), das mich näher interessieren könnte. Werde mir das Buch mal ausleihen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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