Brahms: Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 - Aufnahmen

  • Ein paar Tage versunken in c-Moll, geträumt in E-Dur, auch As-Dur, aufgewacht in C-Dur, persönliche Hörerfahrungen, Bekenntnisse, Leidenschaften...

    Brahms Erste also. Man weiß, rekapituliert oder recherchiert neu: Seit 1862 lebte der 1833 in Hamburg geborene Johannes Brahms in Wien, und 1862 arbeitete er auch bereits an der ersten Fassung des ersten Satzes einer Symphonie. Doch die Hypothek, ein Symphoniker nach Beethoven zu sein, wog schwer. Erst 1874 komponierte Brahms weiter an dem Werk. 1876 wurde die Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 in Karlsruhe schließlich uraufgeführt, und die Hypothek wirkte (ob positiv oder negativ) weiter fort, weil der Dirigent Hans von Bülow ihr die Bezeichnung „Beethovens Zehnte“ einbrannte.

    Persönliches Urerlebnis: Als ich zur Studienzeit Anfang der 80er begann, die großen Werke der Musikgeschichte für mich so richtig zu entdecken, kam 1983 die erste Digitalaufnahme der Brahms Symphonien in den Handel, eine edle Schallplattenbox der DGG mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern. Nach den Gustav Mahler Videoaufnahmen und ganz viel Beethoven für Platte und Film war dies das dritte Großprojekt des Wiener Orchesters mit dem amerikanischen Stardirigenten, wieder für Ton- und Bildverwertung festgehalten. Ein Geburtstag oder Weihnachtsfest brachte die Box in mein Jugendzimmer und zur HEA Anlage, die erste Platte wurde aufgelegt, und da marschierte das Orchester, von der Pauke getragen, im 6/8 Takt los und riss mich sofort total mit in dieses komplexe symphonische Geschehen. Die Größe und Intelligenz der Musik nahmen mich vom ersten Ton an total gefangen. Es lohnte bald, sowohl analytisch als auch einfach nur genießend zu hören. Der Verarbeitungstechnik dieses Komponisten nachzuspüren reizt mich seither immer wieder. Durchdachtes das man erkennt empfinde ich bei Brahms stets als Qualitätsmerkmal sondergleichen.

    Die Komplexität des großen ersten Satzes (Un poco sostenuto / Allegro) mag ich gleich ganz besonders. Man ist geschult im Aufspürenwollen der wichtigen Bausteine der Sonatensatzform, hier Einleitung (je zwei Forte- und Pianoabschnitte), Exposition (erstes Thema treibend-mitreißend, zweites Thema lyrisch mit Oboensolo, ein weiteres Motiv markante, energische Triolen), Durchführung (zwei Steigerungswellen, die zweite landet am Höhepunkt im Repriseneinsatz, dann eben Reprise und Coda (die rundet mit einer Erinnerung an die Einleitung ab und schließt ruhig in C-Dur). Zur Sicherheit nehme ich bei der Neuentdeckung Reclams Konzertführer (Ausgabe 2001) zur Hand, damit kann man dem Geschehen durchaus bewusst und gewinnbringend gut folgen.

    Der zweite Satz (Andante sostenuto) steht in E-Dur und gibt sich idyllisch bis leidenschaftlich, Reclam und wikipedia schlagen den Aufbau A – B – A´ – Coda vor. Das Geschehen fließt ineinander, manchmal wiederstrebt es mir, ganz genau diesem Aufbau folgen zu wollen, ich will einfach die Musik genießen, eben zwischen Idylle und Leidenschaft.

    Mit dem dritten Satz (Un poco allegretto e grazioso) begibt man sich zu As-Dur, der Aufbau erinnert an ein Scherzo, der Takt ist aber „im Scherzo“ ein 2/4-Takt. (wikipedia schlägt dreiteilige Liedform mit Epilog vor.) Der Beginn wirkt auf mich pastoral, es wird dann aber rasch heftiger. Gleich nach ein paar Takten streut Brahms so ein fast beiläufig wirkendes abfallendes „Lalala“ Motiv ein, das man sich aus diesem Umfeld heraus fürs ganze Leben merkt. Der Mittelteil (im Scherzo wäre es das Trio) steht in H-Dur und im 6/8 Takt und bringt eine wie ich finde tolle musikalische Verdichtung.

    Und dann landet man beim C-Dur Finale (Adagio noch in c-Moll / Più andante / Allegretto non troppo, ma con brio), und sofort spürt man, da zeichnet sich Bedeutendes ab. Wieder eine Einleitung, aber was für eine! Zögernd, suchend, dann das große Hornthema, und der Choral darin – die Stimmungswechsel dieser großen Einleitung sind ungemein spannend komponiert, zwischen Fragmenten und Monumenten. Und der Hauptsatz mit seinem berühmten „alternativen Freudenthema“ und mit Durchführung und Reprise (die ineinander verschmelzen, schon allein weil Brahms den zu erwartenden Repriseneinsatz des Hauptthemas ausspart) macht das Werk bis zur Coda-Stretta zu einer Finalsymphonie mit den starken Eckpfeilern der Sätze 1 (grimmiger) und 4 (zuversichtlich-apotheotischer – man vergleiche mit Beethovens Fünfter!) und den reizvollen „Intermezzi“ der Binnensätze.

    1983 gab es für mich also edel Leonard Bernstein, und nun fange ich wieder mit Bernstein an, zunächst allerdings mit der weiter oben bereits von Agravain brillant analysierten Aufnahme mit den New Yorker Philharmonikern (Manhattan Center, New York City, 1960), aus der „Leonard Bernstein Symphony Edition“ der Sony. (Als Sammler habe ich die Einzel CD auch wegen der Serenade Nr. 2 zusätzlich bestellt.) Da bin ich auch gleich wieder Feuer und Flamme, fürs Werk wie für die Interpretation. Ganz unmittelbar kommt die Musik, enorm leidenschaftlich. Leider (auch Agravain bedauert dies) wiederholt Bernstein die Exposition im ersten Satz nicht, in Wien wird er es später tun, so habe ich es in Erinnerung. Apropos Wien: Als geeichter Hörer der Wiener Philharmoniker (mein Lieblingsorchester) höre ich speziell beim zweiten Satz bereits bei den New Yorker Philharmonikern schon den zu erwartenden Wiener Orchesterklang mit, quasi vorweg. Die New Yorker Aufnahme mag ich auf jeden Fall nicht mehr missen, das ist einmal mehr Bernstein wie ich ihn mag, auch mittels CD mitreißend leidenschaftlich.

    Bernsteins spätere Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern, live aufgenommen im Oktober 1981 im Großen Wiener Musikvereinssaal (4 CD Box DGG 415 570-2 oder 50 CD Box der DGG „Wiener Philharmoniker Symphony Edition“, auch DGG Einzel CD oder die hier abgebildete Box, derzeit regulär im Handel), ist eine Spur breiter und vor allem dickflüssiger im Klang. Klangsatte Streicher und edel-schön verklärendes Wiener Holz machen die Interpretation schwelgerischer, Richtung edler Luxus. Ja, hier wiederholt Bernstein die Exposition im ersten Satz. Die stolze Gesamtdauer der Aufnahme beträgt 52 Minuten 04 Sekunden. Hier werden auch der zweite und der dritte Satz klanglich enorm aufgewertet. Den zweiten Satz gestaltet Bernstein zu einem traumhaft schönen Klangbad, er verklärt die Musik ins (Wiener) Paradies. Auch den dritten Satz macht er sofort „zum Zentrum der Welt“, die Musik ist totale Gegenwart. Die Unbedingtheit, die mitreißende Leidenschaft prägt natürlich auch das breit ausgekostete, große Finale (Hauptthema auffallend gewichtig). Für mich ist diese Aufnahme etwas ganz Besonderes.

    Ich sammle ja Aufnahmen auch mit Nikolaus Harnoncourt. Dessen Brahms Zyklus entstand in Berlin, die Erste Symphonie nahmen die Berliner Philharmoniker mit Harnoncourt im Dezember 1996 in der Philharmonie auf (3 CD Box Teldec 0630-13136-2). Harnoncourt wiederholt wie Bernstein in seiner Wiener Aufnahme die Exposition im ersten Satz. Er ist insgesamt fast fünf Minuten schneller als Bernstein. Einmal mehr hört man hier Musik als Klangrede. Es ist immer etwas los bei Harnoncourt, einfach genießen und laufen lassen will und kann er wohl nicht, dementsprechend wird akzentuiert und gekämpft. Die Vielschichtigkeit der Musik kommt noch deutlicher zum Vorschein. Im Detail wird feinsinnig modelliert. Das ist schon extrem hohe Orchesterkultur, die man hier zu hören bekommt. Der zweite Satz war bei Bernstein ein verklärender, irisierend schöner Traum, Harnoncourt hingegen führt mitten in ein lebendiges, buntes Geschehen. So völlig anders und doch beide Male dank der Persönlichkeiten der Dirigenten und ihrer Überzeugungsarbeit lässt sich solche Musik gut anhören.

    Als Abschluss meiner „Brahms Erste Tage“ schaue ich die Fernsehaufzeichnung der Wiener Aufnahme mit Leonard Bernstein (2 DVD Box DGG 00440 073 4331) an. Sie zeigt die Musikvereinswände wieder (wie immer bei den Bernstein Aufnahmen) rot verkleidet, wie sie das musikinteressierte österreichische Fernsehvolk in den 80ern mit den von Andrea Seebohm moderierten ORF Stereokonzerten kennenlernen konnte. (Und wer dann in den Musikverein zu Konzerten ohne Bernstein ging, vermisste die „gewohnten“ roten Tapeten.) Die DVD Ausgabe bietet kurze Einführungen des Dirigenten zu jeder Symphonie. Zur Ersten spricht Bernstein von Brahms´ „Selbstoffenbarung“ und von der „Dualität in Brahms´ Wesen“. Der Fernseheindruck ist auf mich anders überwältigend als der reine Höreindruck. Bernstein lebt die Musik total, hier sieht man es auch. Das Orchester, medienerprobt, ist auf den Punkt mit seinem erlesensten Klang zur Stelle, das ist extrem professionell, wie das funktioniert, fast wie aufgezogen – eine Handbewegung Bernsteins, und es ersteht ein erlesener Sound. Im zweiten Satz herzliche Kamera für Konzertmeister Gerhart Hetzel, im ganzen Werk dank Brahms´ Einsatz für dieses Instrument ganz viel Walter Lehmayer und seine Oboe. Alles in allem: Vier Sätze lang Bekenntnismusik!

    Bestellt habe ich eine weitere DVD mit diesem Werk, mit Leonard Bernstein und dem Israel Philharmonic Orchestra.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Sehr interessanter Artikel, lieber AlexanderK. Da ich mich aber nicht gern mich fremden Federn schmücken lasse, so möchte ich dies

    1983 gab es für mich also edel Leonard Bernstein, und nun fange ich wieder mit Bernstein an, zunächst allerdings mit der weiter oben bereits von Agravain brillant analysierten Aufnahme mit den New Yorker Philharmonikern


    gern richtigstellen. Die brillante Analyse der Bernstein'schen Aufnahme stammt nicht aus meiner Feder, sondern aus der Don Fatales. Ich bin bei Bernsteins Brahms leider nicht so recht zu Hause. ;+)

    :wink: Agravain

  • Amazon kann sie noch nicht liefern. Aber es gibt schon eine Seite mit Cover.

    Die habe ich mir gerade ausgeliehen und heute den 1. Satz gehört. Erster Eindruck: Ein etwas dicker Klang: Nebenstimmen gehen oft unter, dann stechen einzelne Stimmen auffällig heraus, eine etwas merkwürdige Agogik, unorganisch. Als Kontrast habe ich dann das Scottish Chamber Orchestra mit Mackerras eingelegt und "meinen" Brahms wiedergefunden: knackig, gut ausbalanciert, organischer Fluß...

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Bitte um Entschuldigung an Don Fatale und an Agravain, beide schreiben Analysen, die für Freunde profunder Hörvergleiche wie ich finde einmalig gut geschrieben sind.
    Für das Werk bin ich nach dem Hören der letzten Tage wieder total Feuer und Flamme, was für gute, große symphonische Musik! Nicht entgehen lassen, wenn es im nahen Umfeld auf den Konzertprogrammen steht (wer es so gerne hat) oder am Flohmarkt in der 1 Euro Kiste bettelt, mitgenommen zu werden, vielleicht ja eine der hier empfohlenen Aufnahmen (wer Musik derart angeht)...

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • RE: Brahms mit Bernstein u.a

    Hallo AlexanderK,

    im Gegensatz zu Agravain ist auch eine meiner favorisierten Aufnahmen der Sinfonie Nr.1 die New Yorker-Aufnahme von Bernstein (SONY). Aus deiner wiedereinmal interessanten Analyse der beiden Bernstein - Aufnahme geht gar nicht hervor wie unterschiedlich doch beide interpretationansätze sind und wie Bernstein sich wieder zum übertriebenes Auskosten bei seiner späten Aufnahme geändert hat. Wiedereinmal ein typisches Beispiel bei seinen DG-Aufanhmen, wie Bernstein seine Int in Richtung breites Auskosten verändert hat. Ich schätze die CBS-Aufnahme ungleich höher, als die langgezogene viel zu breite DG-Aufnahme aus Wien. Ich empfinde bei DG hier die Erste seine als seine schwächste Aufnahme der 4 Brahms - Sinfonien (die Nr.4 als seine Beste von den DG-Aufnahmen).

    Von der Brahms 1 mit Bernstein (SONY) habe ich die gleiche SONY-CD, die Du auch abgebildet hast; mit der Serenade Nr.2. Ich hätte allerdings lieber gesehen, dass er die Serenade Nr.1 eingespielt hätte, die ich persölich weit höher schätze. (Aber von den Serenaden Nr.1 und 2 habe ich die TOP-Aufnahmenmit Kertesz (Decca).


    8+) Ich muss dazu erwähnen, das ich bei Brahms von ganz anderen Aufnahmen geprägt bin:
    Zuerst auf LP die Klemperer-Aufnahmen (EMI), die dann höchst erfolgreich durch die Solti-Aufnahmen (Decca) abgelöst wurden (und das nicht nur aus rein klanglichen Gründen).

    Von daher liegt mir Harnoncourt (TELDEC); die nächste die Du vorgestellt hast, überhaupt nicht. Seine Brahms-Int sind mir einfach fremd. Um 2006-8 herum habe ich dazu mal bei Tamino einen Beitrag mit dem Titel "Brahms-Schock am Wochenende" verfasst. Die GA befindet sich auch lange nicht mehr in meinem Besitz.


    :thumbup: Neben der aufgewühlt emotionalen Aufnahme mit Bernstein (SONY) schätze ich bei der Sinfonie Nr.1 auch ganz besonders die Aufnahmen mit Szell (SONY), Dorati / LSO (Newton)= ein Feuerwerk, Solti (Decca) = spannende Int und als Bonbon mit der Beachtung aller Wdh-Zeichen, Karajan (DG, 1978-ADD und 1978-DDD) zu dem ich erst recht spät gefunden habe, was Brahms anbetrifft . Genau wie die famose Aufnahme mit Kertesz (Decca) , die ich erst Anfang des Jahres kennenlernte. Und als Swetlanow-Fan darf bei mir auch sein Brahms-Zyklus (Warner) mit dieser fabelhafte russischen Komponente und seiner Leidenschaft, bis ins Explosive gesteigert, nicht fehlen.

    Andere Brahms-GA, die ich weniger schätze, wie u.a. Harnoncourt (Teldec), Wand / NDR (RCA) = knochentrocken, habe ich aussortiert, da ich "sowas" ohnehin nicht hören will. Die Erste war mit Wand noch die Beste von den Vieren (die habe ich auch als CD-R behalten).

    :vv: Was Brahms Sinfonie Nr.1 anbetrifft, bin ich genau so Feuer und Flamme für das Werk wie Du.

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Ich bin mit Bruno Walter groß geworden (...) und habe auch nicht den Bedarf an einer anderen Version gefühlt.

    Lieber Philbert,
    exakt so geht es mir mit der Toscanini-Aufnahme. Siehe hier. Man müsste wirklich einmal nachforschen, warum gerade Brahms 1 eine solche Bindung vom Hörer zum Dirigenten der von ihm erstkonsumierten Einspielung zu erzeugen vermag. Für mich ist Brahms 1 einfach Toscanini. Da hat selbst Furtwängler keine Chance. Ebenso wie offenbar bei Dir Brahms 1 Bruno Walter ist.
    Herzliche Grüße
    music lover

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Toscaninis Aufnahme mit dem NBC Orchester (1951) habe ich vorhin angehört. Der Klang ist in der "The Immortal" Ausgabe von 1999 erstaunlich gut (besser als typische der älteren Toscanini Edition in Erinnerung habe). Obwohl ich mit Wands Aufnahme, der die Einleitung ebenfalls sehr zügig nimmt, sozusagen aufgewachsen bin, hatte ich mich inzwischen anscheinend an etwas breitere Lesarten gewöhnt; ein kleiner Schock. Ein bißchen mehr Flexibilität würde vielleicht nicht schaden (zB im Oboensolo; hier wird eine Anekdote überliefert, dass der Maestro strikt darauf bestanden habe, das dieses Solo bei aller Expressivität im Tempo bleiben sollte).
    Auch im schnellen Teil des Kopfsatzes ist Toscanini sehr zügig unterwegs. Insgesamt besticht, besonders angesichts einer über 60 Jahre alten Aufnahme, die Präsenz der Holzbläser und die Transparenz der Stimmen überhaupt. Maximal entfernt vom Klangbrei, den man bei einigen anderen Dirigenten hier zuweilen finden kann... Im langsamen Satz sind einige Bläser-soli vielleicht ein bißchen zu laut, das Violinsolo wird, angesichts der sonstigen Geradlinigkeit mit ein bißchen viel Vibrato gespielt und ist ebenfalls sehr präsent (wiederum vermutlich auch ein Artefakt der Aufnahmetechnik). Relativ entspannt der 3. und auch der Beginn des 4. Satzes (verglichen mit der Rasanz des Kopfsatzes)
    Obwohl ich bei diesem Stück kein ausführliches Vergleichshören angestellt habe, meine ich doch, es ziemlich gut zu kennen. Toscaninis ist eine artikulatorisch sehr deutliche, transparente, insofern moderne, aber auch leidenschaftlich drängende Aufnahme, ohne romantische Schwelgerei. Für mich faszinierend, vielleicht für manch anderen ein wenig einseitig.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • RE: Wand ... RE: Toscanini

    Es handelt sich dabei um einen Live-Mitschnitt vom Januar 1989 aus der Orchestra Hall in Chicago und das war gleichzeitig Günter Wands Debüt beim Chicago Symphony Orchestra.


    Hallo Lionell,

    diese Aufnahme der Sinfonie Nr.1 mit Wand muss wohl auch seine Beste sein (wenn man alle Kritiken zusammen nimmt). Seine GA mit dem NDR SO (RCA) habe ich wegen den trockenen, wenig emotionalen Eindruckes wieder abgesetzt - aber immer hin für nötig gehalten die Erste als CD-R zu behalten. Ansonsten punktet Wand bei mir bei den Bruckner-Sinfonien mit dem Kölner RSO -das ist was ganz feines.


    Hallo music lover und Kater,

    ich glaube Euch gerne, das da bezüglich Toscanini wirklich was dran ist. Ich möchte auch zu bedenken geben, das Karajans Vorbild bei Brahms der Dirigent Toscanini war. Von daher kann ich mir vorstellen in Karajans DG-Aufnahmen einiges von diesem Vorbild durchscheint.

    Ich selber bin erst recht spät (ca.2008) auf die Karajan-Aufnahmen gekommen, weil ich mit Solti, Bernstein, Szell u.s.w ausgelastet war und war dann megabegeistert sowohl von seinen Aufnahmen der Nr.1 mit den Wiener PH (Decca), wie auch dann die mit den Berliner PH (DG, 1977 und die ausgezeichnete Digitale 1987). Gerade die Sinfonien Nr.1 und 2 standen bei Karajan öfter auf dem Programm, als so manches andere Repertoire - für mich ist er ein TOP-Brahms-Dirigent.

    So hat jeder seinen "Werdegang" bei Brahms.

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Karajan ist hier m.E. eher das Gegenteil von Toscanini, wobei ich von HvK nur die 1. Sinf. (DG 60er Jahre) besitze, die habe ich tatsächlich aber vorgestern angehört. Tendenziell Klangsoße, streicherdominiert, mit einzeln herausplatzenden Blechbläsern, viel breitere Tempi. Ich will nicht sagen, dass das alles schlecht ist, aber es ist sehr verschieden von Toscaninis Aufnahme.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Karajan / WPO (Decca, 1960)

    Hat mich geprägt, und ich finde noch wie vor wenig daran auszusetzen.
    Mal davon abgesehen, daß es nicht wirklich meine Lieblingssymphonie von Brahms ist:
    Der erste Satz ist ganz großartig, na ja eigentlich das ganze Werk, aber die Kunst der Verknappung und Verdichtung steht hier erst am Anfang...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  •  
    Neben Furtwängler/NDR mag ich diese beiden . Barbirolli weil er irgendwie "Norddeutsch" klingt ( habe ich irgendwo aufgeschnappt, passt aber ) ,und Schuricht wegen Schuricht´s Brahms.

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Guten abend.
    Auch ich wurde von Toscanini geprägt! Dann aber als Gegenpol Furtwängler.- Und am Anfang erkennt ihr es:
    Wenn es bei Furtwängler quasi Schläge des Schicksals sind, die die Pauken intonieren, ist es bei Toscanini das Vorwärtsdrängen.
    Dieser Unterschied ist so stark und markant, dass man fast alle Aufnahmen in die beiden so vorgesehenen Schubladen einsortieren könnte, denn diese Haltung zieht sich durchs Werk.
    Also ist es es klar, dass Szell und Levine im Toscanini Gefolge sind, während Giulini eher Furtwängler zuneigt.

    Meine beiden Lieblingsaufnahmen (aktuell) sind zwei Liveaufnahmen: Steinberg 1964 in Tängelwutt (zur Zeit geht nix anderes!!), der wie Fu beginnt, aber dann drängender wird und nicht solche Fisematenten mit dem Tempo macht, darin ähnlich Klemp und vor allem die traumhaften Aufnahmen Christoph von Dohnanyis mit dem Philadelphia Orchestra 2009 in Paris. (Zu seinem 80igsten??)
    Was war der da in Form! Was erstaunt ist dabei sein relativ gemessenes Tempo, wenn man aus dergleichen Zeit seine Beethoven Aufnahmen hört.

    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • und vor allem die traumhaften Aufnahmen Christoph von Dohnanyis mit dem Philadelphia Orchestra 2009 in Paris. (Zu seinem 80igsten??)
    Was war der da in Form! Was erstaunt ist dabei sein relativ gemessenes Tempo, wenn man aus dergleichen Zeit seine Beethoven Aufnahmen hört.

    Das ist ja mal ein völlig überraschender Tipp, lieber Doc! Gibt es da eine Bezugsquelle? Wenn ich auf die Suche gehe, finde ich nur sowas hier:
     
    Also mit dem Cleveland oder dem Philharmonia Orchestra, nicht mit den Phillies.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Hast Recht Musiclover!

    Ein Fehler in meiner Datenbank.
    Philharmonia Orchestra statt Philadelphia.
    Das kommt von den SCH...systemen, die einem "Autovervollständigung anbieten.
    Die Blauen sind es!
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Gestern abend mal gekramt : gefunden wurde Scherchen (die Westminster-Aufnahme) und Igor Markevitch von 1956 mit der "Symphony of the Air". Scherchen ist Scherchen, und vielleicht mag ich den Markevitch, weil es das alte Orchester von Toscanini ist ? In der DG Box enthalten.

    Aber die Wiederentdeckung war diese Aufnahme , meine momentane Referenz :
    (Danke, Peter Brixius!)

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Von Klaus Tennstedt gibt es eine ziemlich langweilige EMI-Studioaufnahme der Ersten aus den 80er Jahren

    aber zum Glück auch Live-Mitschnitte:
       
    Wer diesen Dirigenten kennt, weiß, dass jeder dieser Mitschnitte vor Publikum um Längen besser sein wird als die Studioproduktion (welche ich leider einzig und allein besitze). Ich habe mich gerade für den Erwerb des 1976er Live-Mitschnitts aus Göppingen mit dem RSO Stuttgart entschieden: allein schon wegen der beigegebenen Martinú-Sinfonie. Kann jemand etwas zu den beiden anderen Live-Einspielungen jeweils mit dem London Philharmonic Orchestra sagen?

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • RE: Steinberg

    Meine beiden Lieblingsaufnahmen (aktuell) sind zwei Liveaufnahmen: Steinberg 1964 in Tängelwutt


    Hallo Doc,

    die Aufnahme von Steinberg 1964 hatte ich mir im Nov 2013 auf den TIPP von Josef hin runtergeladen (ausnahmsweise mal, denn ich bin kein Downloadfan). Deine Begeisterung kann man ohne mit der Wimpwer zu zucken nachvollziehen. :thumbup: Ich kennen auch von Steinberg nichts, was mir von der Interpretation her nicht gefallen würde.

    Hier mein Statemant von 2012, bei dem ich nicht nur klangtechnische Einschränkungen nicht ausser Acht lassen kann:

    Danke für den LINK. Ich habe die Brahms 1 (flac-Dateien) inzwischen auf einer CD-R, damit ich die Aufnahme normal auf meiner Anlage geniessen kann. Die Stereo-Klangqualität ist noch brauchbar, wird aber durch Steinbergs fabelhaft gespannte Interpretation überschattet. Was Steinberg LIVE am 31. Juli 1964 ablieferte würde ich als Sternstunde bezeichnen.
    Du hast das ja auf der BSO-Seite auch in gutem Englisch kundgetan ! Dein Zitat und die erhaltene Antwort dort fand ich gut.

    *** Ich denke auf CD würde die Aufnahme nicht erscheinen, weil hier und da technische Bandfehler hörbar weden; auch das Rauschen ist für 1964 höher als gewohnt; und ganz elend finde ich die Disziplin der BSO-Hörerschaft von 1964, denen ich hiermit nach 48Jahren noch eine deutliche Kritik verpassen möchte: Die klatschen im Finale in die letzten Takte hin ein mit Bravorufen, obwohl die Sinfonie bei weitem noch nicht ausgeklungen ist. Und das, wo doch der 4. Satz der Hammer ist !
    Dann der Anfang der Sinfonie Nr.1 - die wuchtigen Paukenschläge am Anfang betreffend. Ich habe den Anfang mehrmals hintereinander gehört, weil mir das ungewohnt vorkam ...
    Fehlt da nicht ein Paukenschlag ??? Irgendwie wurde da was vermasselt !

    Ich habe dazu meinen Favoriten Bernstein (SONY, 1960) zum Vergleich herangezogen, die insgesamt ähnlich gespannt ist wie Steinberg; durch die weit bessere CBS-Klangquatät aber noch wuchtiger wirkt (auch in den Pauken). Dort wie gewohnt - gleichmässiger Ablauf im Rhythmus ohne eine Unterbrechung.

    Zu Dohnanyi:

    Die von Dir erwähnten Beethoven-Sinfonien mit dem NDR SO von 2011 habe ich auch als Download (und mittlerweile als CD-R) vorliegen. Diese Aufnahmen gefallen mir wegen ihres beethovennahen Einhalten der Tempovorgaben in ihrer straffen Art sehr gut.

    Die Brahms - Sinfonien - GA mit Dohnanyi würde mich auch interessieren. Allerdings macht mich der Hinweis auf "relativ gemessenes tempo" etwas stutzig, denn das käme mir weniger entgegen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass die Philharmonia GA ist der Cleveland GA vorzuziehen ist ? Oder wer kann zu den Unterschieden etwas sagen ?

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Moin Wolfgang,
    Deine Meinung über Steinberg freut mich sehr, hat William (Hans Wilhelm) Steinberg, der in Köln 1924 Klemperers Assistent war, doch ab und zu aus seinem Verschwinden in der amerkanischen Prärie (Buffalo, Pittsburg) deutlich Laut gegeben, hoch geschätzt, aber er war immer insofern etwas neben der Spur, als die großen Plattenverträge mit CBS (Bernstein mehr als Szell (Szell doesn't sell), Walter) und RCA mit Reiner besetzt zu sein schienen.

    Daher ist sein Livewerk umso bedeutender: so habe ich u.a. Mahler 2, 5, 7, LvdE, Bruckner 5, 6, 7 und 8 sowie eine Menge Brahms 1, 3 und 4 und Beethoven sowie eine ganz vorzügliche Aufnahme der Sacre du Printemps von 1970.
    Die Geräusche im Livekonzert nehme ich nicht so störend wahr, so ist es eben oft. Heute wird ja nach jedem Satz geklatscht, in der Oper wieder nach jeder gelungenen Arie.

    Zitat

    Fehlt da nicht ein Paukenschlag ??? Irgendwie wurde da was vermasselt !

    In der Tat, da scheint was zu fehlen, mir kommt es vor, als würde das Orchester "auf Tempo" kommen. Denn mitgezählt fehlt mir kein Schlag, aber die ersten Sekunden sind arg verzögert.
    Und die Entladung ins Bravo am Ende des 4. Satzes finde ich typisch.

    Eine Sensation in Sachen "Einmischung von außen" ist die Liveaufnahme von "Mein Vaterland" unter Ancerl aus Tanglewood. Da spendiert die Natur passend ein feines Gewitter!

    Nun zu Dohnanyi: Ich habe die Aufnahme seinerzeit vom Radio mitgenommen.
    Es gibt sie aber auch hier

    Die 1. Sinfonie dauert ca. 47 Minuten.

    Gruß aus Kiel
    Hans

    PS: eine Anekdote: Steinberg hatte mit Hubermann 1935 das Palestine Orchestra gegründet. Man wollte Klemperer zu einem Dirigat bewegen, doch das Orchester wollte keinen zum Katholizismus Konvertierten einladen. Daraufhin soll sich Klemp beschwert haben, weil Koussewitzki auch ein Konvertit sei und der durfte. Daraufhin bekam er zur Antwort, Koussewitzki würde auch ohne Gage dirgieren. Darauf war Klemps Antwort, na soviel Jude bin ich dann doch noch.

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Hier persönliche Eindrücke zu drei weiteren von mir mittlerweile gehörten (und teilweise auch gesehenen) Aufnahmen:

    Von 1. bis 3.8.1973 dirigierte Leonard Bernstein im Großen Konzerthaussaal in Jerusalem drei Brahms Konzerte mit der Symphonie Nr. 1 op. 68 und der Symphonie Nr. 3 op. 90. Die Unitel Fernsehaufzeichnung davon ist als DVD (EuroArts 2072048) verfügbar. Im Vergleich zu Bernsteins späterer Fernsehaufnahme mit den Wiener Philharmonikern kommt die Symphonie Nr. 1 mit dem Israel Philharmonic Orchestra urtümlicher, wuchtiger, kämpferischer zur Geltung. Der rauere Orchesterklang als der der Wiener verstärkt dies noch. Bernsteins mitreißende Leidenschaft, seine Liebe zur Musik, seine ganze Hingabe wirken auf mich einmal mehr unwiderstehlich. Man spürt, wie das Orchester von Herzen bereit ist, das Letzte zu geben. Bernstein wiederholt hier übrigens die Exposition des ersten Satzes. Bei der New Yorker Plattenaufnahme hat er das noch nicht getan, später in Wien wird er es wieder tun. Tontechnisch ist die Zeit seither Richtung besserer klanglicher Durchhörbarkeit fortgeschritten, das tut der Wirkung aber keinen Abbruch.

    Schallplattenhistorisch durchaus markant sind Herbert von Karajans DECCA Aufnahmen um 1960 mit den Wiener Philharmonikern. Die 9 CD Box „Karajan – The Legendary DECCA Records“ (DECCA 478 0155) bietet als erstes Werk auf der ersten CD die Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms, aufgenommen vom 23. bis zum 26.3.1959 in den Wiener Sofiensälen. Die Pauken schlagen gewichtig ins Werk hinein – voller und doch differenzierter, großartig aufgefächerter Sound prägt von der ersten Sekunde an das Geschehen. Das Stereoklangbild strahlt geradezu eine „Studiomagie“ aus. In den Wiener Sofiensälen haben John Culshaw und sein DECCA Team viele klanglich so superbe Aufnahmen ermöglicht. Herbert von Karajan hat den Sinn für die Spannungsbögen und die Dramatik der Musik sowie für die Effekte, die sich damit machen lassen. Die Exposition im ersten Satz wiederholt er nicht. Stets schimmert das klangästhetische Kalkül durch. Dies ist ein Kunstprodukt, das in einem Studio angefertigt wurde. Die Gestaltung und klangliche Balance gewinnt die Oberhand über die Psychologie der Musik. Das klingt negativer als es gemeint ist: Meinem Empfinden nach lebt Bernstein die Musik, Karajan gestaltet sie. Betrachtet man alle Wiener DECCA Aufnahmen Karajans aus dieser Zeit, kommt dieses Gestalten meinem Empfinden nach den Ballettmusiken von Adam, Tschaikowsky und Grieg sowie den Symphonischen Dichtungen von Richard Strauss und erst recht Holsts „Planeten“ ideal zugute, während es ein Werk wie Brahms´ Erste allzu äußerlich erstrahlen lässt. Gleichwohl finde ich den Gesamtklang und die Stringenz der Aufnahme faszinierend. Da ich jemand bin der fast ausschließlich alleine und für sich Musik hört und der sehr stark in der Musik die er hört mitleben möchte und dies sehr persönlich empfindet, würde ich jemand anderem sogar eher Karajans Aufnahme vorspielen als eine Bernsteins, weil Bernsteins Interpretation zu viel von mir verrät, was den anderen gar nichts angeht. Bin ich wo eingeladen wo eine gute HiFi Anlage steht ist es überhaupt keine Frage, Karajans Aufnahme mitzunehmen.

    Die Liveaufnahme der Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler aus dem Festspielhaus Salzburg vom 13.8.1947 (10 CD Box Wiener Philharmoniker, Membran 232560) entfaltet eine fast unheimliche Suggestivität. Wuchtig, gewichtig, schicksalsschwer, emotional ungeheuer herausfordernd, mit Leidenschaft bis an alle Grenzen – da tun sich Urgewalten auf, es geht in allen Sätzen um alles. Die Exposition im ersten Satz wird nicht wiederholt. Um nur eine Passage herauszuheben – keineswegs nur die Rückführung zur Reprise im ersten Satz kommt mit archaischer Gewalt, die Stunde der Wahrheit hat geschlagen. Diese geradezu brutale Unbedingtheit macht auch etwas schaudern. Es ist ungemein spannend zu beobachten, wie völlig unterschiedlich Interpretationen ein- und desselben Werks ausfallen können.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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