Die neue Konsonanz - Spektrale Musik
"Spektrale Musik" ist ein viel gebrauchter Fachbegriff, aber oft können nicht einmal die Fachleute wirklich etwas damit anfangen. Zumal es ja unterschiedliche Ausprägungen gibt und die reine Lehre und die weniger reine und die ganz und gar schmutzige etc. Wie das halt so ist, wenn es um Lehren und Schulen geht.
Ich versuche also einmal eine Definition: Spektrale Musik ist jene Musik, deren Grundlage die Obertonreihe ist, wobei deren Transformation an die Stelle herkömmlicher thematischer Arbeit tritt.
Oder anders gesagt: Wagners "Rheingold"-Anfang ist der Anfang der Spektralen Musik. Nur gibt's danach eine mehrere Jahrzehnte dauernde Lücke.
Der Beginn der Spektralen Musik kann relativ genau bezeichnet werden, nämlich "Périodes pour sept musiciens" (1974) von Gérard Grisey.
Was führte zur Spektralen Musik?
Eine Zusammenfassung im Eilzugtempo: Die französische Musik ist seit Debussy klangorientiert. So auch die Musik Olivier Messiaens, der jedoch den Klang mit diversen strukturellen Erfindungen bereichert, was zur Trennung von Rhythmischer Gestalt und Tonhöhe führt. Wenn aber rhythmische Gestalt und Tonhöhe trennbar sind, weshalb dann nicht auch die Dynamik separieren? Oder, als Gegenteil, völlig binden: Daß also eine bestimmte Tonhöhe nur in einer bestimmten Dauer in einer bestimmten Dynamik erscheint?
Aus dieser Idee entwickelt Messiaen seine "Modes de valeurs et d'intensités", aus denen Boulez und Stockhausen die serielle Musik destillieren, in der jeder Parameter vorbestimmt ist.
Aktionen rufen in der Regel Reaktionen hervor. So auch hier.
Die französische Musik verharrte entweder in Neoklassizismen oder gab sich den seriellen Freuden hin, was wiederum einige junge Komponisten nicht erfreute, die der Meinung waren, das eine sei so öde wie das andere monoton. Zumal die Arbeit am Klang und mit dem Klang immer mehr verlorenging.
Grisey kam dann auf die erlösende Idee. Er überlegte, ob es nicht möglich wäre, nur mit dem Klang zu operieren, also beispielsweise den Obertonklang eines Tons hörbar zu machen, und von diesen Tönen aus wiederum einzelne Obertöne auszuwählen. Die spektrale Musik war geboren.
Und fand sofort andere Möglichkeiten: Man ging von Glockenklängen aus oder übertrug Geräusche wie Wasserfälle auf Musik. Rhythmen im herkömmlichen Sinn fielen weg, Abschnittsdauern wurden in der Regel durch die Fibonacci-Zahlen (oder durch verwandte Zahlenreihen-Manipulationen) gebildet. Da der Klang aus den Obertönen besteht, ist er wohl dissonant, wird aber als "verfärbte Konsonanz" wahrgenommen.
Kleiner Test für Klavierbesitzer: in relativ hoher Lage den Akkord (von unten gelesen) fis-h-g anschlagen. Klingt gewöhnungsbedürftig, nicht wahr? Bitte gleich nochmals diesen Akkord anschlagen, jetzt aber zwei oder gar drei Oktaven tiefer ein c hinzufügen. Klingt seltsam, aber nicht übel, was? Logisch: Das c definiert den Akkord als Obertöne zu c.
Da aber die Obertöne in der temperierten Stimmung etwas naben den tatsächlichen Obertönen liegen, fügen die meisten Komponisten der Spektralen Musik Viertel- und bisweilen auch Sechsteltöne hinzu, wobei sie aus den Schwebungen sehr eng nebeneinander liegender Töne Klangfarben entwickeln, die anmuten, als würden sie nicht auf herkömmlichen Instrumenten erzeugt sondern auf elektronischen Klangerzeugern (die natürlich fallweise ebenfalls ins Orchester integriert werden).
Jene Komponisten, die die "reine Lehre" am sichersten vertreten, sind Gérard Grisey, Michael Lévinas und Tristan Murail.
Natürlich gibt es aber auch Komponisten, die zwar von der "reinen Lehre" ausgehen, aber den Spektren thematische Verläufe einschreiben, was auch zu konventioneller Rhythmik führt. Dieser Prozeß ist am besten im Schaffen von Hugues Dufourt nachzuvollziehen. Doufourt vertritt am Anfang ("Maison du sourd", auf youtube anzuhören) zwar ebenfalls die reine Lehre, beginnt aber in "Luzifer d'après Pollock" damit, den Spektren thematische Verläufe einzuschreiben und damit wieder eine höhere thematische Dichte herzustellen.
Die meisten zwischen 1950 und 1960, fallweise auch noch etwas später geborenen französischen Komponisten sind von der spektralen Musik beeinflußt, wenngleich sie sich oft darauf beschränken, den Klang obertönig zu legitimieren, thematisch aber eigene Wege zu gehen. Damit ergeht es der Spektralen Musik ähnlich wie der Zwölftontechnik und der Serialität: Als reine Lehre hat sie sich überlebt, aber sie hat untilgbare Spuren in den Werken zahlloser Komponisten unserer Gegenwart hinterlassen.