Poulenc: "Dialogues des Carmélites" - Theater an der Wien, 29. 4. 2011
Liebe Capricciosi!
Ich war gestern bei der letzten Vorstellung der heurigen "Dialogues"-Serie am Theater an der Wien. Schon vor drei Jahren hatte die Inszenierung von Robert Carsen ihre Premiere, und die Besetzung war im Wesentlichen fast die selbe wie damals. Nur in der Nachfolge von Marjana Lipovsek sang diesmal Deborah Polaski die Prieure de Croissy, und Patricia Petibon, die 2008 für Hendrickje van Kerckhove als Soeur Constance kurzfristig eingesprungen war, débutierte als Blanche de la Force.
Das war auch eins der Hauptereignisse des Abends. Denn Patricia Petibon sang und spielte eine hinreißede Blanche, die unter ihrer pathologischen Ängstlichkeit litt, gleichzeitig aber auch temperamentvolle Ausbrüche an den Tag legte, sobald sie sich sicher fühlte. Ihre Stimme hatte mit der relativ tiefen Tessitura der Rolle überhaupt keine Probleme und konnte sich gegen den großen Orchesterapparat stets durchsetzen. Diese Frau scheint mir momentan auf der absoluten Höhe ihrer Möglichkeiten zu sein, und man fragt sich, was sie eigentlich nicht kann: Koloraturen und genuin lyrische Rollen, Händel, Mozart, Chabrier, Berg und Poulenc - alles auf gleichbleibend hohem Niveau.
"Dialogues des Carmèlites" sind allerdings eine Ensembleoper, und die restlichen Rollen waren ebenfalls erfreulich gut besetzt. Michelle Breedt war eine intensive, charakterstarke Mère Marie, Hendrickje van Kerckhove eine konstant fröhliche Constance. Heidi Brunner als Prieure Lidoine wirkte bei ihrem ersten Auftritt noch etwas farblos, mauserte sich dann aber in den Dialogszenen und fand schließlich zu einer sehr bewegenden letzten Arie im Gefängnis. Das Verrecken der Prieure de Croissy auf offener Bühne (der erschütterndste Operntod, den ich kenne!) wurde von Deborah Polaski beklemmend gut gestaltet. Freilich ist diese Szene generell sehr dankbar, Polaski hatte aber außerdem den Vorteil der unverbrauchten Stimme, im Gegensatz zu manch anderer Interpretin der Rolle. Auch die Sängerinnen und Sänger der kleineren Rollen haben mir allesamt gut gefallen.
Die Inszenierung von Robert Carsen machte in einem ganz kahlen Bühnenbild überzeugend Gebrauch von Menschen (Chor, Ballett, Statisterie, wohl auch Bühnenarbeiter) als strukturbildende Elemente: Verwandlungen der Szene geschehen z.B., indem das revolutionäre Volk über die Bühne geht. Danach sind Requisiten da, die vorher nicht da waren. Das Bett mit der kranken Prieure und anderes Mobiliar wird von den Nonnen selbst auf die Bühne getragen. Besonders eindrucksvoll der Besuch von Blanches Bruder: Auf Madame Lidoines Befehl, Mère Marie solle der Unterhaltung beiwohnen, ziehen sich alle Nonnen (mit Mère Marie an der Spitze) den Schleier über das Gesicht und stellen sich als menschliches Sprechgitter in einer Reihe auf. Die Wand von Madame de Croissys Sterbezimmer wird als Grundriss am Boden von liegenden Nonnen angedeutet. Auch Lichteffekte gliedern die Bühne: im Gefängnis-Bild malt ein scharfer Lichtstrahl von oben ein kleines, scharf umrissenes Lichtquadrat auf die Bühne, innerhalb dessen sich die Nonnen drängen - die Zelle. Sobald aber das Todesurteil verkündet wird, werden die Umrisse des Quadrats ganz weich und verschwimmen; die Nonnen richten ihre Häupter empor zum Licht.
Was die Finalszene betrifft, so ist es üblich geworden, die Plakativität der Musik durch die Inszenierung nicht zu verstärken, sondern eher abzuschwächen. Das ist schon die x-te Aufführung, in der die Nonnen einfach umfallen, und das finde ich auf die Dauer ähnlich unbefriedigend wie eine detaillierte Darstellung des Guillotinierens oder eine Flucht aus dem verminten Sektenhauptquartier, oder was da in München gemacht wurde. Wirklich geniale Lösungen der Schlussszene sind selten und - das gebe ich zu - schwierig.
Bertrand de Billy arbeitete mit dem ORF-Radiosinfonieorchester die Farbigkeit und Dynamik von Poulencs Partitur wunderbar heraus, insgesamt eine tolle Orchesterleistung; manche SängerInnen wurden allerdings manchmal vom Orchester ein bisschen zugedeckt.
Der Schlussapplaus kam - ebenso wie der Applaus vor der Pause, nach der Sterbeszene der Prieure - für mich und viele andere zu früh, die wir noch in der Dramatik und Eindringlichkeit des Werkes gebannt waren, und wurde zuerst nur von wenigen Personen getragen, die auch zunehmend zögerlicher wurden - fast ein bisschen komisch anzuhören. Ich hätte gerne etwas länger in Stille verweilt und die Eindrücke verarbeitet, bevor es ans Applaudieren ging. Der Applaus hielt dann aber zu Recht lange und intensiv an.
Liebe Grüße,
Areios