Haydn - Die Jahreszeiten

  • Haydn - Die Jahreszeiten

    Liebe Freunde,

    Haydn und der europäische Songcontest sind ja in diesem Forum irgendwie untrennbar miteinander verbunden. Das gibt mir doch einen wunderbaren Aufhänger für diesen Thread. Denn als in Düsseldorf am vergangenen Samstag verschiedene Nationen gegeneinander antraten, stand ich zur selben Zeit mit meinem Chor in der Philharmonie und sang Haydn. Die Punktevergabe des ESC konnte ich zwar beim abschließenden Bier im Lokal noch mitverfolgen, enttäuscht über die verpassten Beiträge war ich aber trotzdem nicht. Denn das Werk, das wir sangen, hat mich so in Beschlag genommen, dass ich dafür momentan ziemlich viel hergeben würde. Genug der Vorworte. In diesem Thread soll es also um das Oratorium "Die Jahreszeiten" von Joseph Haydn gehen.

    Doch die Frage stellt sich vielleicht zunächst: Kann man denn bei den "Jahreszeiten" überhaupt von einem Oratorium sprechen? Immerhin geht es hier vordergründig nicht um ein christliches Thema, sondern schlicht und einfach um die Beschreibung des Jahresgangs. Angefangen mit der Vertreibung des Winters und dem Rufen nach dem Frühling über das Aufblühen der Natur, der Hitze und Ungewitter im Sommer, der Ernte im Herbst bis zu den kalten Nebeln im Winter ist das Werk wenig religiös geprägt. Trotzdem oder gerade deswegen würde ich persönlich unbedingt von einem Oratorium sprechen. Nicht nur, weil die begrifflichen Alternativen fehlen. Zum Einen gibt es Stellen, die eindeutig auf einen Gott verweisen. Der Höhepunkt ist sicher der Schlusschor, der den Jahresgang auf das natürliche Leben und darüber hinaus auf das Leben nach dem Tod bezieht. Zum Anderen, weil, wenn auch auf einer eher hintergründigen Ebene, Gott als der Schöpfergott gelobt wird. Denn auch wenn man am Ende des Herbstes das Loblied auf den Wein als eine sehr menschliche Angelegenheit betrachten kann, schwingt eben doch auch der Dank an den Schöpfer mit, der das Ganze erst möglich gemacht hat.

    Was mich besonders beeindruckt bei diesem Werk ist der gestalterische Reichtum, den Haydn findet. Ebenso wie die Natur im Jahreszeitengang unterschiedlichste Formen und Ausprägungen beinhaltet, steckt in der Musik ebenso eine riesige Bandbreite von Ausdruck und Aussage. Die lautmalerischen Elemente sind kaum zu überhören, beinahe jedes Wort findet man in den Noten wieder. Ganz besonders beeindruckend für mich ist der Sonnenaufgang am Anfang des Sommers, wenn sich die Musik von unten durch Zunahme von immer mehr Solisten bis zum strahlenden Choreinsatz erhebt. Gänsehaut!
    Sowieso macht das Werk richtig viel Spaß, sowohl als Zuhörer wie auch als Mitwirkender. Das Jagdlied im Herbst beispielsweise mag zwar musikalisch wenig anspruchsvoll sein, mitreißend ist es allemal. Haydns Humor blitzt auch immer wieder durch, in den "Jahreszeiten" vielleicht sogar noch häufiger als in vielen anderen Werken. Der "komische Kontrapunkt und die besoffene Fuge" im Weinlied hat ihn sogar selbst erstaunt.
    Das Libretto von Baron Gottfried von Swieten war nicht ganz nach dem Geschmack Haydns, der deshalb auch nicht so zügig mit der Komposition vorankam. Auch beim Publikum kam der Text eher nicht so gut an, weshalb die "Schöpfung" eigentlich bis heute gegenüber den "Jahreszeiten" viel beliebter war und somit auch öfter gespielt wurde. Ich persönlich mag den Text sehr gerne, weil er auch deutlich macht, dass jede Jahreszeit ihre positiven aber manches Mal auch negativen Seiten hat. Eigentlich empfinde ich es sogar als sehr tiefgründig, weil man es auf das eigene Leben beziehen und darüber reflektieren kann.

    Jedenfalls gehen mir momentan die Melodien aus den "Jahreszeiten" nicht mehr aus dem Ohr und mit der Beschäftigung mit diesem Werk bin ich Haydn einen großen Schritt näher gekommen und höre jetzt sicher seine Musik wieder aus einer ganz anderen Perspektive.

    Ich habe z.Zt. zwei Aufnahmen. Die erste unter Wolfgang Gönnenwein (Brilliant) ist meines Erachtens nicht weiter erwähnenswert. Die andere unter Sigiswald Kuijken finde ich sehr schön, der lyrische Aspekt kommt auf jeden Fall ziemlich gut zum Tragen. Von den Solisten bin ich allerdings nicht unbedingt angetan. Auf dem Wunschzettel steht auf jeden Fall noch die Aufnahme mit René Jacobs, der es wahrscheinlich noch viel mehr krachen lässt und musikalisch noch mehr Akzente setzen kann.

     

    Jetzt dürft ihr ergänzen. In jeder Hinsicht. Nur Lena darf hier nicht rein. ;+)


    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Also mir ging es immer so, daß ich die "Jahreszeiten" stets in engem Zusammenhang mit der "Schöpfung" verstanden habe (selber Librettist, unmittelbar aufeinanderfolgende Entstehungszeit).

    Allerdings hast Du recht: die "Schöpfung" war/ist immer irgendwie präsenter..

    Zu Deiner Eingangsfrage, ob die Jahreszeiten als Oratorium richtig bezeichnet wären, würde ich sagen, ja, denn Haydn selber sah sein Schaffen ja als direktes Gottesgeschenk (vgl. z.B. seine Widmung Sinfonie 49).

    Viele Grüße

    Magus

    "Whenever we hear sounds, we are changed, we are no longer the same..." Karlheinz Stockhausen 1972

  • Hallo,

    auch bei mir ist "Die Schöpfung" wesentlich präsenter als "Die Jahreszeiten", die ich schon seit längerer Zeit nicht mehr gehört habe. Warum das so ist, kann ich nicht schlüssig begründen. Vielleicht weil allgemein Oratorien i. d. R. bedeutsame Themen aus der Bibel bzw. dem Christentum zum Inhalt haben und dass dies interessanter erscheint als die weitgehende Beschreibung der Jahreszeiten in Haydns Oratorium.

    Möglicherweise ist auch Haydns eigene offensichtliche Ablehnung des Librettos dafür verantwortlich, warum das Werk im Schatten von "Die Schöpfung" steht. Musikalisch denke ich aber, dass "Die Jahreszeiten" auf einem ähnlich hohem Niveau wie "Die Schöpfung" steht, wobei solch musikalische "Knüller" wie die Einleitung zur "Schöpfung" (Vorstellung des Chaos) "Die Jahreszeiten" nicht zu bieten hat aber um mehr zur Musik sagen zu können, müsste ich mir mal wieder die mir vorliegende Aufnahme anhören:

    Lionel

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Ich mache dann mal den Spalter und sage: Nein, mir sind beide der Oratorien gleich präsent. In meiner "Karriere" als Chorist habe ich beide als Jugendlicher öfter aufführen dürfen, dann habe ich in zwei Projekten sowohl den Raphael als auch den Simon gesungen und spätestens seitdem höre ich beide gleich häufig und gleich gern.
    Was die "Jahreszeiten" angeht, so stehen bei mir die schon genannten von Gönnenwein, Gardiner und Jacobs im Regal. Gönnenwein würde ich ebenso unter den Tisch fallen lassen wie Peter, Gardiner finde ich als HIP Aufnahme schön, Jacobs macht mir Schwierigkeiten. Da gibt es massenhaft wilde und packende Momente, die man so bildhaft umgesetzt noch nicht gehört hat, aber irgendwann ist es mir damit immer zuviel, sodass ich nach einer Weile immer den Eindruck habe, dass der Wunsch anders zu sein eine letztlich recht forcierte Interpretation entstehen lässt. Außerdem hauen mich die Solisten, trotz ihrer beredten Namen, nicht so richtig um. Aber wahrscheinlich liegt's an mir.
    Neben den bereits genannten steht noch diese im Regal

    Bei mir hat sie noch ein anderes Cover. Selbiges habe ich allerdings schon länger nicht mehr gesehen, da ich die Aufnahme für einigermaßen ungoutierbar halte. Ich habe ja nichts gegen einen traditionellen Ansatz, aber das ist mir hier ein wenig zuviel des Guten. Old Herb schießt hier völlig über's Ziel hinaus, das Ganze hört sich nicht einmal mehr mit viel gutem Willen an wie Haydn, sondern wie größenwahnsinniger Beethoven mit einem gelegenentlichen Schuss Verdi. Das ist klanglich dermaßen massiv, dass das Werk unter der Last erdrückt wird.
    Da nützen auch die guten Solisten nichts, denn die präsentieren zwar ihre einträgichen Namen auf dem Cover, singen dafür aber nicht sonderlich exquisit. Gundula Janowitz, für mich die perfekte Stimme für die Hanne, singt bei Böhm um ein Wesentliches inspirierter. Außerdem entgleitet ihr einmal so krass die Stimme, dass ich mich darüber wundere, dass man kein neues Take gemacht hat. Werner Hollweg ist einer jener Tenöre, die wissen, was ein Knödel ist. Sein Timbre hat immer etwas von getretenem Halbmasthähnchen. Und Walter Berry hatte auch nicht einen seiner besten Tage, ja man hat den Eindruck, dass er seinen Zenit überschritten hatte.
    Insgesamt also eine vollkommen verzichtbare Scheibe.
    Ich höre indes seit Jahrzehnten mit Freude, Genuss und Bereicherung Dr. Böhms Einspielung, die wahrscheinlich ewig mein Ideal darstellen wird.

    Gundula Janowitz ist berückend, Schreier in Bestform und Martti Talvela ist ein wirklich zünftiger Simon. Der Wiener Singverein ist bei dieser Musik gut untergebracht. Dies ist sein Repertoire: Volksgesang im besten Sinne. Wenn ich bedenke, wir absolut unterirdisch der Chor streckenweise war, wenn er bspw. Bach singen sollte (Karajans Bach-Aufnahmen), so ist das hier absolut beachtlich. Saftig, rund, ausdrucksstark und sogar recht textverständlich. Und groß natürlich. Das sind ja locker 100 Leute die hier aus vollstem Herzen vor sich hin schmettern. Aber zum Werk passt es. Böhm lässt Haydns Musik einfach locker fließen, es hört sich vieles schlicht natürlich, will sagen ungezwungen an, was ich hier für ganz essentiell halte.

    :wink: Agravain

  • Heute war bei mir Premiere: ich hörte zum ersten Mal überhaupt Haydns Jahreszeiten. Ich hatte diese Einspielung günstig bei ebay erwerben können:


    (P) 1992 Archiv Produktion 431 818-2 (2 CDs)

    Barbara Bonney (Hanne, s)
    Anthony Rolfe-Johnson (Lukas, t)
    Andreas Schmidt (Simon, b)

    The Monteverdi Choir
    The English Baroque Soloists

    Dirigent: John Eliot Gardiner

    Und ich bin begeistert: einerseits über den musikalischen Einfallsreichtum, den Haydn diesem Libretto geben konnte, und andererseits der Interpretation seitens Gardiner und aller Beteiligten.

    Die Form des Librettos ist durchgängig gut konstruiert, aber manche Texte wirken doch etwas "vordergründig"; daß Haydn mit einigen Stellen wenig anfangen konnte, zeigt sich aber in der Komposition überhaupt nicht. Alles ist sorgfältig ausgelotet und zu einem Ganzen zusammengefügt. Es ist ein wunderbares Werk und steht Der Schöpfung oder Il Ritorno di Tobia in nichts nach.

    Aber Gardiner macht auch eine glänzende Vorstellung. Zum ersten sind Solisten und Chor in Sachen deutscher Aussprache wirklich hervorragend, zweitens sind die gesanglichen Leistungen grundsätzlich als exzellent zu bezeichnen. Die Soloists spielen hervorragend, und klanglich ist das ganze Ensemble wunderbar eingefangen worden. In Verbindung mit den beiden Booklets (einmal Texte zum Werk, einmal Libretto) ist das eine jener Ausgaben, für die die Archiv Produktion früher zurecht zu den besten Labels Alter Musik zählten.

    :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Letztens das hier gehört:
    https://www.amazon.de/Ensemble-Music…o/dp/B00C3Y1BWM

    Es geht um die Nr. 2 "Ländler des "Saisons", also den "Ländler" aus den Jahreszeiten.

    Im Oratorium ist das die Nr. 31 "Juchhe! Der Wein ist da".

    Der Ländler beginnt irgendwo in der Mitte. Und er ist deutlich schneller als in der CD des "Ensemble Bella Musica". Was irgendwie logisch ist, wenn so ein ausgelassenes Fest geschildert werden soll.

    Dennoch finde ich, dass manche etwas übertreiben. Z.B. Gardiner (meine Aufnahme).
    https://open.spotify.com/album/0WaATkvUdyE66m6ceCqrXw
    (dort die Nr. 28, ab 2:20)

    Das langsamere Tempo von Harnoncourt gefällt mir besser:
    https://open.spotify.com/album/0bB87DHs…=open&play=true
    (dort die Nr. 28, ab 2:40)

    Hier ist er schon wieder etwas schneller:
    https://youtu.be/l3O2K-LyJ9o?t=1h44m48s

    Was meint ihr?


    Thomas

  • Ich kenne nur diese Aufnahme der Jahreszeiten, die ich damals im Erscheinungsjahr 2009 kaufte.

    Bei JPC finde ich diese Aufnahme aktuell gar nicht gelistet, bei Amazon wird sie für etwa 10 Euro verschleudert. Trotz dieser scheinbar geringen Halbwertszeit, kann ich die Aufnahme sehr empfehlen. Kristall klar, voller Schönheit, tolle Solisten, und nicht zuletzt auch ein wirklich informatives Booklet.

    Hudebux

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