Messiaen: Saint-François d'Assise - Bayerische Staatsoper München, 1.7.2011 (Premiere)
Kent Nagano hat sich immer schon stark für die Musik Olivier Messiaens eingesetzt, immer wieder auch für dessen Oper Saint-François d'Assise, seit er in jungen Jahren 1983 schon Seiji Ozawas Assistent bei der Uraufführung in Paris sein konnte (auf ausdrücklichen Wunsch Messiaens, wie man hört). Insofern muss man davon ausgehen, dass mit der jetzigen Aufführung an der Bayerischen Staatsoper ein großer persönlicher Traum Naganos in Erfüllung geht: Saint-François während seiner "Amtszeit" in München auf die Bühne zu bringen. Ich weiß nicht, wer die Idee hatte, daraus dann gleich die Eröffnungsvorstellung der diesjährigen Opernfestspiele zu machen. Vielleicht war es ja Intendant Bachler - denn große überregionale, gar internationale Aufmerksamkeit war ihm damit sicher. Die drei Vorstellungen sind dann auch restlos ausverkauft, und das teilweise schon seit Monaten.
Abzuwarten blieb, wie das Münchner Festspielpublikum das doch sehr sperrige Stück aufnehmen würde. Am Ende des ersten Akts herrschte scheinbar eine gewisse Konsterniertheit, nur wenige Hände rührten sich zum Applaus, der Auftrittsapplaus für Nagano nach der ersten Pause aber immerhin schon freundlich. Nach der zweiten Pause dann schon einige Bravorufe zum immer stärkeren Applaus. Und was dann am Ende losbrach, kaum dass der letzte Ton verklungen war, kann man nur als einen weiteren triumphalen Erfolg für den Münchner GMD bezeichnen. Die wenigen Personen, die das Theater vor dem Ende verlassen haben, kann man gerne vernachlässigen - die Reihen haben sich nicht erkennbar gelichtet. Das Publikum hat den Saint-François nicht nur freundlich, sondern in großen Teilen mit Begeisterung angenommen. Wer hätt's gedacht?
Die Inszenierung war dem Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch übertragen worden - eine Entscheidung, die mit einer guten Portion Skepsis aufgenommen worden war. Andererseits spielen Theater und Musik in Nitschs Aktionen seit jeher eine große Rolle, auch Opernerfahrung hat er schon. Und Sakrales, Rituelles, christliche Themen wie Opfer, Blut und Tod sind in seinem Werk zentral, so dass die Wahl Nitschs für den Saint-François eigentlich sogar nahe liegt. Dass seine Religionsauffassung mit der Messiaens auf den ersten Blick wenig gemein hat, steht auf einem anderen Blatt. Am Ende ist es aber genau die daraus entstehende Spannung, die diese Produktion ausgesprochen sehenswert macht, auch für Menschen wie mich, die mit Religion jedweder Form nichts am Hut haben.
Beim Betreten des Zuschauerraums fallen zunächst die Musiker auf der Bühne auf: Links eine Gruppe Blechbläser mit ein wenig Schlagzeug, rechts eine Schlagzeuggruppe, dazu weiteres Schlagzeug und die Ondes Martenot in den Seitenlogen - auch der Graben der Bayerischen Staatsoper ist für Messiaen zu klein. In Amsterdam hatten Pierre Audi und Ingo Metzmacher vor einigen Jahren gleich das ganze Orchester auf die Bühne verfrachtet. Die Münchner Aufstellung hat den Effekt, dass sich (zumindest vorne aus dem Parkett gehört) die Musik nicht wirklich mischt, was zunächst gewöhnungsbedürftig war, dann aber durchaus einen eigenen Reiz entfaltete und die von Nagano angestrebte Transparenz unterstützte.
Die Oper beginnt mit einem kleinen Gag, schon bevor der erste Ton ertönt. Aus dem Zuschauerraum steigen Personen in festlicher Kleidung über eine Rampe auf die Bühne, Intendant Bachler ist auch dabei - man fragt sich, ob ein Teil des Publikums sich auf die Bühne verlaufen hat oder vielleicht dorthin eingeladen wurde. Es sind dann aber doch Statisten oder Mitglieder des Chors. Das ganze sieht ein wenig aus wie die Besucher einer Vernissage oder einer Kunstperformance, die durch die Räume flanieren, bevor es los geht. Kein ganz unpassender Anfang: Denn was folgt, ist - wenn man ehrlich ist - kein Theater, sondern Aktionskunst mit Musik, allenfalls mit theatralen Elementen. Über weite Strecken funktioniert es trotzdem.
Nitsch versucht nicht, die handelnden Personen und das Geschehen selbst durch eine psychologisierende Personenführung auf die Bühne zu bringen, oder überhaupt eine Geschichte zu erzählen, die über den gesungenen Text hinausgeht. Was nicht bedeutet, dass die Sänger nicht genau geführt werden: Die Bewegungen sind aber stark stilisiert, wirken kodifiziert. Nitsch arrangiert die 8 Bilder der Oper in 8 Tableaus, in denen Kunstaktionen und Szene nebeneinander laufen, sich kommentierend oder verdoppelnd, um sich an entscheidenden Stellen (Heilung des Aussätzigen, Stigmatisation) immer wieder zu treffen. In den ersten Kritiken im Internet wird teilweise der Vorwurf erhoben, dass Nitsch hier nur seine wohlbekannten Aktionen wiederholt und nichts wirklich Neues bietet - das kann ich nicht beurteilen, da das gestern für mich die erste Nitsch-Aktion war und somit sich bei mir kein Wiederholungseffekt einstellen konnte. Falsch ist in jedem Fall der Vorwurf, Nitsch habe die bekannten Elemente seines "Orgien-Mysterien-Theaters" willkürlich und zusammenhangslos dem Stück übergestülpt - im Gegenteil stehen die Aktionen auf der Bühne immer eng in Bezug zum gesungenen Text.
Das funktioniert nicht immer gleich gut, und wegen der teilweise zu häufigen Wiederholung eigentlich schöner Einfälle stellt sich an der ein oder anderen Stelle schon ein Ermüdungseffekt ein - nicht zufällig vielleicht am stärksten in der Vogelpredigt, die Messiaen selbst schon etwas arg in die Länge zieht und der eine kürzende Bearbeitung ganz gut tun könnte. Hier wird eine riesige Videoprojektion auf eine bühnenhohe, halbrunde Leinwand im Hintergrund geworfen, bei der allerlei Vogelbilder durchs Bild bewegt werden, zeitweise synchron zur Musik. Das ist zunächst hübsch anzusehen, läuft sich dann aber leer. Ebenso sind im 1. Akt die Videoprojektionen von Szenen anderer Nitsch-Aktionen etwas lang geraten, die das Ausweiden von Tierkadavern zeigen und später Menschen, die in Tiereingeweiden wühlen, auch wenn sie als Kommentar zur Kreuz-, Opfer- und Blutthematik der Aktion zunächst durchaus kraftvoll sind.
Das auffälligste Bildmotiv, das den Abend durchzieht, ist das des Gekreuzigten. Nur im zweiten Akt, der durchaus passend zum hier sehr zurückhaltend und fast sanft dirigierenden Nagano, als lyrisches Intermezzo inszeniert wird, taucht das Bild spät auf, erst dann, wenn es auch im Text erwähnt wird. Man sieht Männer, nackt oder im knöchellangen weißen Hemd, in verschiedenen Haltungen an Kreuze unterschiedlicher Form gebunden, die von Nitschs "Aktionisten" mit Blut übergossen werden, das meist in einem schmalen Strom vom Mund über die Brust den Körper herab läuft. In den Szenen des ersten Aktes wirkt das stark als sehr körperliche Konkretisierung und komplementär zum meditativ-mystischen Ton der Oper. Zusammen mit den schon erwähnten Videoprojektionen wirkt das auch zurück auf die Musik, die im ersten Akt roher und archaischer erscheint als sonst.
Das stärkste Bild gelingt in der Szene der Stigmata: Im Hintergrund eine gigantische weiße Leinwand, in voller Breite und Höhe der Bühne. Von einem Gerüst am oberen Rand gießen die Aktionisten über die gesamte Dauer der Szene rote Farbe in dünnen Bahnen herab, so dass die weiße Fläche mehr und mehr wie von blutigen Streifen durchzogen wird. Davor auf einem Gerüst ein nackter Gekreuzigter, darunter François, der darum fleht die Leiden Christi nacherleben zu dürfen, daneben der Chor (der hier das Theatralische zugunsten des Rituellen dadurch noch weiter zurück nimmt, dass er aus Noten und nicht auswendig singt). Das ergibt zusammen mit der hier machtvollen Musik Messiaens, bei der nun auch Nagano alle Zurückhaltung aufgibt, ein Bild von elementarer Wucht.
Etwas zwiespältig dann das letzte Bild, der Tod des Heiligen. Hier laufen nun wirklich Aktionskunst und Oper ohne erkennbare Querverbindung nebeneinander. Die Aktionisten erstellen mit aus Bechern auf am Boden liegende Leinwände verteilten Farben ein Nitsch'ches Schüttbild, daneben läuft die Handlung der Oper weiter ab. Verschärfend kommt hinzu, dass das entstehende Bild aus dem Parkett nicht zu sehen ist. Zur Schlussapotheose tritt der Chor an den Bühnenrand und singt das Publikum frontal an. Nitsch folgt den Regieanweisungen Messiaens und lässt Scheinwerfer auf die Bühne herab, die die Zuschauer mit gleißendem Licht blenden, während Nagano alles auffährt, was sein Orchester zu bieten hat - das ist überwältigend bis an die Schmerzgrenze.
Gesungen wurde, zumindest in den wichtigsten Rollen, grandios. Paul Gay ist fabelhaft und meistert die mörderische Partie des Saint-François bravourös. Im ersten Akt hält er sich an einigen Stellen zurück, mogelt sich um die ein oder andere hoch liegende Passage herum, hat dafür aber am Ende noch ausreichend Reserven um auch im letzten Bild noch seine Stimme unter Kontrolle zu haben. Und es gelingt ihm auch trotz der statischen Inszenierung Intensität und eine große Bühnenpräsenz zu entfalten. Christine Schäfer als Engel ist vom Stimmtypus her eine ideale Besetzung, wohlklingend, zart ohne gleich ganz körperlos zu wirken, sie bringt hier alle Vorzüge ihrer Stimme zur Geltung. Auch John Daszak gestaltet die Rolle des Aussätzigen mit an die Nieren gehender Eindringlichkeit - unverständlich, wie vergleichsweise stiefmütterlich er beim Schlussapplaus bedacht wurde. Die Franziskaner-Brüder sind fast durchgehend mit Mitgliedern des Ensembles besetzt, die nicht alle ihrer Rolle wirklich gewachsen sind, aber insgesamt eine solide Gesamtleistung bieten. Sehr gut auch der Chor der Bayerischen Staatsoper, dem die statische Regie sicher entgegen kam.
Kent Nagano und das Bayerische Staatsorchester finden für jeden Akt einen eigenen Tonfall. Im ersten Akt wird sehr zurückhaltend musiziert, ungewöhnlich transparent, stellenweise wirkt die Musik beinahe kammermusikalisch (so weit das bei dieser instrumentalen Masse möglich ist...), irgendwie kleinteilig. Das ist gewöhnungsbedürftig, entfaltete dann aber einen hohen Reiz auf mich. Der zweite Akt hat einen fast lyrischen Grundton, die Engelsmusik des fünften Bildes, an sich schon nicht ganz kitschfrei und mich dennoch immer wieder berührend, wird mit unendlicher Zartheit gespielt. Dagegen hebt sich dann die instrumentale Wucht, die im 3. Akt entfaltet wird, umso stärker ab. Nagano lässt hier gewissermaßen das Orchester von der Leine und erreicht in der Szene der Stigmata eine dramatische Intensität, die mir weder von Metzmacher in Amsterdam noch von Naganos Salzburger Aufnahme so in Erinnerung ist. Zum Ende schließlich die grandiose Apotheose, die wohl auch den letzten Skeptiker im Theater in den Sessel gedrückt hat. Kleinere Koordinierungsprobleme hie und da, aber wen kümmert das bei dieser insgesamt doch atemberaubenden Leistung.
Das Publikum feierte mit großem Jubel Paul Gay, Christine Schäfer und vor allem Kent Nagano und sein Orchester. Nicht unerwartet lautstarke Buhs für Nitsch, aber bei weitem keine einheitliche Ablehnung: Viel Applaus und auch Bravorufe für ihn.