Krystian Zimerman - Versuche höchstmöglicher Authentizität des Nachschöpferischen

  • Krystian Zimerman - Versuche höchstmöglicher Authentizität des Nachschöpferischen

    Ich finde, dieser Pianist hat in Capriccio einen eigenen Thread verdient.

    Der 1956 in Polen geborene Zimerman gewann 1975 den nur alle fünf Jahre ausgetragenen Chopin Wettbewerb. Vorgänger von ihm waren dort unter anderem Martha Argerich und Maurizio Pollini. Das war der Startschuss für die Karriere eines Pianisten, der meiner Meinung nach besonders durch sein Verantwortungsbewusstsein den Werken gegenüber die er interpretiert herausragt. Auf den Konzertpodien der Welt gibt er sich rar, er hat da wohl ähnliche Skrupel wie viele andere große Pianisten, es gab auch schon diesbezügliche Krisen. Zimerman sträubt sich auch vielfach lange, CDs freizugeben, die an sich selbst gestellten Ziele (siehe Verantwortung!) gehen von der Einlösung allenfalls allerhöchsten Anspruchs und höchster Authentizität aus.

    Ich habe diesen außergewöhnlichen, sicher zu den ganz Großen zählenden Pianisten in den letzten Monaten mit einigen Aufnahmen die ich neu kennengelernt habe besonders schätzen gelernt.

    Meine erste Hörerfahrung mit ihm (und mit diesen Werken) waren die Klavierkonzerte von Brahms mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern in den 80ern. Nobel zurückhaltend könnte man sie im Vergleich zu anderen beschreiben, ich mag sie immer noch sehr gern.

    Hier die Original CDs (die Aufnahmen gibt es mittlerweile mit anderen Covers, in Boxen)

     

    Auf DVD:

    Mit Herbert von Karajan hat Zimerman die Klavierkonzerte von Schumann und Grieg veröffentlicht, diese Aufnahme kenne ich noch nicht, sie ist aber sicher für die Zimerman Diskografie wichtig zu nennen, vielleicht möchte jemand anderer darüber schreiben.

    Mit zu den letzten Projekten Leonard Bernsteins vor seinem Tod gehörten die Beethoven-Klavierkonzerte mit Zimerman, wieder mit den Wiener Philharmonikern. Ich hatte das Glück damals bei den Konzertmitschnitten im Publikum dabei gewesen zu sein, das bleiben (wie alle Bernstein Liveerlebnisse) unvergessliche Erinnerungen.

     

    Bedingt durch Bernsteins Tod stellte sich die Herausforderung, erstmals in Personalunion als Dirigent und Pianist aufzutreten, um den Zyklus zu vollenden.

    Der komplette Zyklus auf DVD:

    Seine Klavier Solo CDs (zumindest die die ich bis jetzt gehört habe) zeugen durchwegs von diesem Höchstmaß an künstlerischem Anspruch. Es wirkt alles bis ins kleinste Detail durchdacht und gleichzeitig wird versucht, allem wirklich von Herzen Seele zu geben. Ich glaube das bei Zimerman in jedem Takt, mit jedem Ton zu spüren.

     

     

    Zimermans „seriöse Hingabe“ macht für mich diese CDs zu den wertvollsten meiner Sammlung. Seine Aufnahme von Liszts h-Moll Sonate etwa empfinde ich (mittlerweile auch nach über 80 anderen gehörten Interpretationen dieses Werks) als eine der ganz großen, zeitlos bedeutenden Aufnahmen des Werks.

    Neu entdeckt habe ich Zimerman in den letzten Monaten aber vor allem mit für mich exemplarischen Aufnahmen von Klavierkonzerten. Man kann die alle anders spielen, aber den Versuch höchste künstlerische Authentizität zu erzielen mit allem was einem an interpretatorischem Genie zur Verfügung steht kann man Zimerman meiner Meinung nach nie absprechen.

     

    Und DIESE Doppel CD gehört meiner Meinung nach zum Allerbesten überhaupt, das sind Sternstunden der Aufnahmegeschichte. Zimerman und das speziell für dieses Projekt zusammengestellte Orchester widerlegen zunächst das Vorurteil, Chopin sei nichts für das Orchester eingefallen, und Zimerman spielt die Werke derart inspiriert, dass so einer wie ich aus dem Staunen nicht mehr herauskommt und auch nicht mehr herauskommen will.

    Zimermans Liszt Aufnahmen bei der DGG gibt es zum Liszt Jahr übrigens auf dieser neuen Kopplung:

    Im Detail zu einzelnen Aufnahmen vielleicht später mehr, dies soll ja nur einmal der Anstoß sein – welche Aufnahmen mit Krystian Zimerman gibt es noch, welche mögt Ihr, welche gefallen Euch gar nicht, und warum?

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Zitat

    Und DIESE Doppel CD gehört meiner Meinung nach zum Allerbesten überhaupt, das sind Sternstunden der Aufnahmegeschichte. Zimerman und das speziell für dieses Projekt zusammengestellte Orchester widerlegen zunächst das Vorurteil, Chopin sei nichts für das Orchester eingefallen, und Zimerman spielt die Werke derart inspiriert, dass so einer wie ich aus dem Staunen nicht mehr herauskommt und auch nicht mehr herauskommen will.

    Alexander, das unterschreibe ich sofort! Der fesselnden Aufnahme des 2. Chopin-Konzertes bin ich vor etlichen Jahren zufällig im Radio erstbegegnet - alleine das, was da an ebenso feiner wie schlüssiger Agogik geboten wird, ist geradezu atemberaubend und hat mich vom ersten bis zum letzten Takt fasziniert.

    Später habe ich Zimerman dann auch mal in der Kölner Philharmonie live mit einem Chopin-Soloprogramm erlebt. Vor dem Hintergrund der sensationellen Einspielung der Klavierkonzerte war ich damals ein wenig enttäuscht von dem äußerst klangschönen, sehr gediegenen, noblen, aber streckenweise doch etwas unterkühlt wirkenden Spiel des Pianisten. So kann es halt gehen, wenn die Erwartungen extrem hoch sind...

    Beste Grüße

    Bernd

  • Und DIESE Doppel CD gehört meiner Meinung nach zum Allerbesten überhaupt, das sind Sternstunden der Aufnahmegeschichte. Zimerman und das speziell für dieses Projekt zusammengestellte Orchester widerlegen zunächst das Vorurteil, Chopin sei nichts für das Orchester eingefallen, und Zimerman spielt die Werke derart inspiriert, dass so einer wie ich aus dem Staunen nicht mehr herauskommt und auch nicht mehr herauskommen will.

    Für mich war es gerade diese Neueinspielung der Chopin-Konzerte, die meine fast jahrzehntelange Zimerman-Verehrung hat bröckeln lassen. Das Problem dabei ist: Die Aufnahmen sind perfekt, jede Phrase ist klug gestaltet, jeder Ton glasklar hörbar, jeder Übergang bis zur Grenze ausgekostet. Oder nicht doch des öfteren über die Grenze des Sinnvollen hinaus? Wenn man z.B. den Kopfsatz des f-moll-Konzertes mit Zimermans eigener Ersteinspielung (unter Giulini) vergleicht, stellt man überall ein "mehr" fest: Die Streicherakkorde vor dem ersten Klaviereinsatz werden schier endlos gedehnt, der nach zwei Klaviertakten erreichte Grundton bleibt ewig lange stehen, bevor die Basslinie zum ersten Thema hochführt. Das ist großartig gespielt, aber für mein Empfinden eben doch übertrieben, mit überdeutlicher Absicht statt natürlicher Empfindung. In der alten Aufnahme macht Zimerman (bzw. Giulini) im Grunde gestalterisch dasselbe: Das Orchester bereitet den Klaviereinsatz mit einer Beruhigung vor, der Grundton stellt einen kurzes Innehalten dar usw.. Aber schon im Thema fließt die chromatische Basslinie viel einfacher und selbstverständlicher, der Übergang zur Themenfortsetzung ist keinesfalls überspielt, aber eben mit weniger gestalterischem Eingriff und dadurch - für mein Empfinden - natürlicher gespielt. Das zweite Thema spielte Zimerman schon 1986 trotz des vorgeschriebenen "a tempo" deutlich ruhiger als das erste. Das ist auch ohne Zweifel sinnvoll und legitim (das "a tempo" bezieht sich auf das "poco ritenuto" in dem kadenzierenden Übergang zuvor, muss also nicht zwangsläufig das Anfangstempo bedeuten). In der Neuaufnahme hat man das Gefühl, man befindet sich im langsamen Satz, so sehr kostet er die lyrischen Linien aus. Wiederum: Großartig, in dieser Art unübertrefflich gut gespielt, aber ist "diese Art" wirklich besser als die dezentere frühere? Ich meine: nein. Während ich bei Zimermans früheren Aufnahmen (nicht nur bei Chopin) beim Hören immer nur dachte "genau so muss es sein", denke ich bei diesen Einspielungen höchstens "kann man mal so machen". Böse gesagt zeichnet sich die Neueinspielung dadurch aus, dass alle gestalterischen Ideen aus der Ersteinspielung wie mit der Lupe vergrößert sind, so dass es auch dem Dümmsten Hörer nicht entgehen kann, welch kluge Gedanken sich Zimerman gemacht hat. Dabei bleibt die wunderbare Natürlichkeit der früheren Einspielung auf der Strecke, man staunt mehr über die großartigen Fähigkeiten des Solisten als über die Komposition. Zimerman macht den Eindruck, dass er dem im wahrsten Sinne des Wortes Selbst-Verständlichen nicht mehr traut und deshalb zum ständigen Stilmittel der Übertreibung greift. Merkwürdigerweise wirkt das im Ergebnis trotz der übergroßen agogischen Freiheit eher weniger spontan als bei der früheren Aufnahme. Das in den Chopin-Konzerten immer unterschwellig mitschwingende "Improvisando" kann bei einem Interpreten, dem es bei jeder Phrase und jedem Übergang um schiere gestalterische Perfektion geht, nicht wirklich entstehen.
    Zimermans Aufnahme der Schubert-Impromptus zeigte für mein Empfinden schon dieselben Symptome: Der Unisono-Anfang des ersten Impromptus aus D. 899 beginnt recht zügig, atmet im dritten Takt kurz, um dann mit einem "fragenden" Ritardando die akkordische Themenwiederholung vorzubereiten. Alles richtig, alles perfekt. Radu Lupu spielt das Stück wesentlich langsamer, aber vor allem gestalterisch nicht ganz so eindeutig: Die Tonwiederholungen im zweiten Takt steigert er z.B., nimmt dann aber den dritten eine Spur zurück. Das widerspricht eigentlich der Melodieführung (weshalb Zimerman so etwas niemals machen würde), wirkt aber gerade dadurch zweifelnd und melancholisch. Der "Wanderer" bei Zimerman marschiert entschlossen und hellwach durch sein Thema, während er bei Lupu von vornherein einsam, unsicher und verloren wirkt. Zimermans gestalterische Perfektion steht ihm bei Schubert meines Erachtens im Wege, weil sie das komponierte "Nicht-weiter-Wissen" konterkariert.
    Zusammengefasst habe ich den Eindruck, dass Zimerman in gewisser Hinsicht in einer künstlerischen Sackgasse steckt: In seinem Wunsch nach absoluter Perfektion, nach Kontrolle jedes noch so winzigen musikalischen Details (der sich z.B. auch darin äußert, dass er nicht nur mit eigenem Flügel reist, sondern auch noch je nach Werk die Klaviaturen wechseln lässt) verlieren seine Interpretationen an Spontanität, drohen in ihrer Überperfektion unnatürlich und kopfgesteuert zu wirken. Ich finde das sehr traurig, weil er zweifellos einer der größten Pianisten der Gegenwart ist, der mich jahrzehntelang ungeheuer fasziniert hat.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Lieber Christian,

    du sprichst ein Problem an, das mir den Zugang zu vielen Zimerman-Aufnahmen versperrt. Bei Chopin und der meisten "klangschönen" Musik stört mich das seltsamerweise noch am wenigsten. Allerdings in Beethovens 5. Klavierkonzert etwa, Durchführung des Kopfsatzes, möchte ich das Gefühl bekommen, dass der Pianist sich in wilder und zugleich hilfloser Ekstase durch das Orchester wühlt (und somit ein wenig das Gefühl von Erhabenheit entsteht, welches etwa ein Bild von C. D. Friedrich erweckt, wenn ein einzelner Mensch sich von der riesigen Natur überwältigt sieht).
    In der Zimerman/Bernstein-Aufnahme wird mir zu sehr auf dicken, glatten Klang mit voluminösem Fortissimo gespielt, werden z. B. Kempff/van Kempen Ausdruck und Atmosphäre m. E. sehr gut vermitteln.

    Es handelt sich eigentlich hier um etwas, was heute allgemeiner Trend ist: Alles muss so perfekt, vielfach abgesichert, ewig durchgekaut sein, dass man sich nicht mehr trauen kann, während des Spiels spontan zu gestalten.
    Meine Klavierlehrerin hat mal zu mir gesagt, ich solle doch als Komponist jetzt mal so spielen, als würde ich es gerade selbst komponieren. Finde ich ein guter Vorsatz. ;)

  • Hallo Ralph,

    Es handelt sich eigentlich hier um etwas, was heute allgemeiner Trend ist: Alles muss so perfekt, vielfach abgesichert, ewig durchgekaut sein, dass man sich nicht mehr trauen kann, während des Spiels spontan zu gestalten.

    ja, so kann man das in Bezug auf Zimerman sagen. Ich erinnere die Studenten immer daran, dass es Klavier spielen heißt. Etwas von spontaner Spielfreude muss immer erhalten bleiben. Der Hörer will ja Zeuge der Entstehung eines Kunstwerkes sein, nicht der Reproduktion eines zuvor bis in die feinsten Details festgelegten Plans, sei dieser auch noch so richtig und perfekt. Einen etwas ähnlichen Eindruck wie von Zimerman hatte ich in Konzerten von Grigory Sokolov. Auch der gestaltet derartig umfassend und bis in die letzten Kleinigkeiten durchdacht, dass ich als Hörer bei aller Faszination und Bewunderung ein wenig das Gefühl von Atemnot hatte (und direkt dankbar war, als ihm ein paar ganz unbedeutende Fehlgriffe passiert sind). Ich habe die ganze Zeit nicht so sehr die Musik selbst wahrgenommen als das, was er mit ihr gemacht hat (was aber, wie bei Zimerman, alles richtig, gut durchdacht und perfekt gespielt war). Heute habe ich noch einmal "Andante spianato e grande Polonaise" in der alten Aufnahme mit Zimerman und Guilini gehört: Meine Güte, was für ein Klavierspiel! Das Andante immer zart, aber nie verzärtelt, frei und natürlich fließend. Die Polonaise mit großartiger Klarheit (schon immer eines der Merkmale seines Spiels), voller Kraft und Spielfreude, mit einer phänomenalen Schlusssteigerung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man das besser spielen kann. Und da liegt vielleicht Zimermans Problem: Er will eben alles immer noch besser machen und hat sich dabei (wie gesagt: für mein Empfinden) in einen letzten Endes fruchtlosen Perfektionismus hinein manövriert. Ich hoffe, dass er irgendwann wieder zu anderen Lösungen findet.

    Viele Grüße,

    Christian

  • welche Aufnahmen mit Krystian Zimerman gibt es noch, welche mögt Ihr, welche gefallen Euch gar nicht, und warum?

    Krystian Zimerman gefällt mir immer dann, wenn er endlich mal die ausgetretenen Wege des Standardrepertoires verlässt, bei welchem er - nach meinem Eindruck - mit den ganz Großen der Zunft (wie z.B. mit Richter oder Michelangeli bei den Debussy-Préludes) einfach nicht mithalten kann. Interessant sind diese CDs:

     

    Das Zimerman gewidmete Klavierkonzert von Lutoslawski ist wirklich hörenswert. Auch bei der Sonate für Klavier Nr. 2 von Grazyna Bacewicz war Zimerman der Pianist der Uraufführung, so dass hier eine gültige Interpretation vorliegt.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Krystian Zimerman gefällt mir immer dann, wenn er endlich mal die ausgetretenen Wege des Standardrepertoires verlässt, bei welchem er - nach meinem Eindruck - mit den ganz Großen der Zunft (wie z.B. mit Richter oder Michelangeli bei den Debussy-Préludes) einfach nicht mithalten kann.

    Da bin ich entschieden anderer Ansicht! Zimerman gehört für mich ohne Zweifel zu den "ganz Großen". Abgesehen von seinen phänomenalen instrumentalen und gestalterischen Fähigkeiten ist es gerade diese rastlose Suche nach dem immer noch Besseren, die ihn auch von hervorragend begabten anderen Pianisten seiner Generation abhebt (von Medien-Stars mit Wolfsrudeln und fernöstlichen Zirkus-Artisten ganz zu schweigen). Michelangeli ist ja in mancherlei Hinsicht ein noch extremeres Beispiel für Perfektionismus, denn er reduzierte auf der Suche nach Vollkommenheit sein Repertoire erheblich mehr als Zimerman. Und auch ihm konnte ich in seinem Gang in abgelegene Höhen nicht immer folgen... Und Richter: Den habe ich u.a. unvergesslich mit Beethoven, Brahms und Chopin erlebt, finde seinen Schumann einzigartig. Aber seinen Schubert halte ich in vielen Fällen für ein - grandioses, beeindruckendes - Missverständnis. Also: Gerade die "ganz Großen" gehen immer auch Wege, auf denen ihnen mit guten Gründen nicht jeder rückhaltlos folgen kann. Da ist Zimerman keine Ausnahme. Der einzige, den ich als "ganz Großen" bezeichnen würde, ohne dass er je die "sichere Mitte" wirklich verlassen hätte, war Rubinstein. Bei dem hat man - zumindest in seinen besten 40 Jahren - den Eindruck, dass er nicht mehr suchen musste, und es klang dennoch nie langweilig oder routiniert.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Zitat

    Wenn man z.B. den Kopfsatz des f-moll-Konzertes mit Zimermans eigener Ersteinspielung (unter Giulini) vergleicht, stellt man überall ein "mehr" fest: Die Streicherakkorde vor dem ersten Klaviereinsatz werden schier endlos gedehnt, der nach zwei Klaviertakten erreichte Grundton bleibt ewig lange stehen, bevor die Basslinie zum ersten Thema hochführt. Das ist großartig gespielt, aber für mein Empfinden eben doch übertrieben, mit überdeutlicher Absicht statt natürlicher Empfindung.

    Christian (und Ralph), ich höre als jemand, der nicht direkt vom Fach ist, Klaviermusik sicherlich "naiver" als ihr. So hätte ich z.b. das oben angesprochene ewig lange Stehenbleiben auf dem Grundton an einer bestimmten Stelle nicht direkt als Phänomen benennen können. Aber: Ich hatte bei der ersten Begegnung mit dieser Interpretation des f-moll-Konzertes nie den Eindruck des Gewollten, im Voraus zu ehrgeizig Geplanten. Sowohl das, was im Klavier als auch das, was im Orchester passierte, hat mich einfach unglaublich direkt berührt und mitgenommen - obschon ich das Konzert schon vorher in guten Einspielungen (unter anderem mit Rubinstein) geliebt habe, wurde mir hier quasi noch einmal eine neue Dimension erschlossen. Jenseits aller Analyse war nach "Aha, so kann man das spielen!" mein nächster unwillkürlicher Gedanke "Nein, so muss man das unbedingt spielen!".

    Anders gesagt: Ich kann die Bedenken gegenüber der Aufnahme anhand der Erläuterungen gut nachvollziehen, aber ich kann sie rein emotional beim Hören nicht teilen.

    Später beim Live-Konzert wirkte Zimermans Spiel in der Tat eine Spur steril. Da scheint mir die Wendung vom letztlich fruchtlosen Perfektionismus im Nachhinein ganz gut zu passen.

    Beste Grüße

    Bernd

  • Und auch ihm konnte ich in seinem Gang in abgelegene Höhen nicht immer folgen...

    Viele Grüße,

    Christian

    Das sehe ich ähnlich. Ehrlich gesagt halte ich zumindest die bei DG erhältliche Aufnahme der Préludes von Debussy deutlich überschätzt, was IMO nicht wenig vom Kultstatus ABMs herrührt. Das ist aber sicher OT.
    Zimermans Debussy halte ich für sehr gut, ob referenzwürdig, wie in FonoForum einst eingeräumt wurde, kann nicht zuletzt ob einer Vielzahl an großartiger Einspielungen bezweifelt werden.

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • [quote]
    Anders gesagt: Ich kann die Bedenken gegenüber der Aufnahme anhand der Erläuterungen gut nachvollziehen, aber ich kann sie rein emotional beim Hören nicht teilen.

    Das finde ich wunderschön formuliert. In anderen Threads heißt es da meist "verdoppeln". Alles was hier geschrieben wurde kann ich nachvollziehen und als Threadstarter danke ich und freue mich über die konstruktiven Denkansätze für das nächste Hören der besprochenen Aufnahmen. Insgesamt bleibt Zimerman einer, der mich emotional sehr berührt, wo ich vielfach "zu denken aufhöre und mich nur mehr staunend freue". Bei Pogorelich etwa wirkt mir vieles viel gewollter und künstlich verstärkt, Pogorelich schwankt wie ich es empfinde (und das ist auch sehr spannend zu hören) oft zwischen totaler Inspiration und provokantem Kalkül. Bei Zimerman glaube ich stets zu verspüren, er will es authentisch hinkriegen, so gut es in diesem Moment eben geht. Und bei den Chopin Konzerten mag ich auch besonders gern den gemeinsamen Atem zwischen Pianist/Dirigent und Orchester.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Ehrlich gesagt halte ich zumindest die bei DG erhältliche Aufnahme der Préludes von Debussy deutlich überschätzt, was IMO nicht wenig vom Kultstatus ABMs herrührt. Das ist aber sicher OT.

    Wenn ich darauf - obwohl off topic - eingehen darf (falls nicht, bitte meinen Beitrag einfach löschen): Ich war beim letzten Konzert im Leben des ABM dabei. Er spielte ein reines Debussy-Programm: Children's Corner, Images I und II sowie den ersten Band der Préludes. Das war so dermaßen sensationell, dass Du Zimerman

    dagegen einfach nur als akademisch empfinden kannst. Noch mehr fällt Zimermans Einspielung gegen Live-Mitschnitte von Swjatoslaw Richter ab, der immerhin 22 der 24 Préludes gespielt hat. Welch eine Glut wird da entfacht, wie ist er diesen Kompositionen auf geradezu sprachlos machende Weise auf den Grund gegangen! Immerhin muss ich sagen, dass ich Zimermans Doppel-CD mit den Debussy-Préludes jedenfalls insoweit als diskussionswürdig (wenn auch bei Weitem nicht ebenbürtig) betrachte, als dass ich sie in meiner Sammlung behalten und noch nicht im Marketplace verkauft habe. Jegliches anderes Standardrepertoire mit ihm, sei es die Liszt-Sonate, sei es Schubert, sei es Brahms, habe ich vor Jahren schon abgestoßen.

    Das Lutoslawski-Klavierkonzert mit ihm ist toll, keine Frage. Aber da hat er ja bis heute keine Konkurrenz. Sollte es mal irgendwann eine Vergleichseinspielung z.B. mit Aimard oder Lubimov geben, weiß ich nicht, ob die nicht bei diesem Werk auch ganz schnell die Nase vorn haben.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Lieber AlexanderK,

    danke für die Threaderöffnung.
    Ich bin kein Pianoforte-Spezialist, aber die besondere Ernsthaftigkeit, Gewissenhaftigkeit und Seriosität habe ich immer in der Person und ggf. im Spiel dieses Künstlers ausgemacht. Von Authentizität spreche ich ungern, da auch Falsches, Unwahres, Schlechtes, Unästhetisches, Unschönes authentisch sein können und dieses m. E. nicht anstrebenswert ist. „Authentisch“, ein an sich „wertfreier“ Begriff über „Echtheit“, der von Personaltrainern und Psychologen u. a. durch einseitig positive Konnotation verdorben ist.

    Aber die von Dir vorgestellte Einspielung: J. Brahms, 1. Klavierkonzert, L. Bernstein halte ich für misslungen. Sie gehört zwar zu meinen „ersten 100 CD“, jedoch was für ein „mickriger“ Klavierklang und schlechtes Zusammenspiel. Kurz danach kaufte ich mit eine Aufnahme mit A. Rubinstein, F. Reiner, Chicago Symphony Orchester. Was für ein Unterschied. K. Zimerman hat sich später selbst von seiner Aufnahme distanziert (…falscher Flügel)

    http://www.zeit.de/2006/12/M-Zimerman.

    Deiner Empfehlung der Chopin-Konzerte mit den Wiener Philharmonikern komme ich gerne nach (habe selbst seine Aufnahmen mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter C. M. Giulini).

    Bis dann.

  • Zitat:
    die besondere Ernsthaftigkeit, Gewissenhaftigkeit und Seriosität

    Genau so habe ich den Begriff "Authentizität" hier verstanden. In diesem Sinne vielen Dank für die Begriffsverdeutlichung und Differenzierung.

    Es legt jeder andere "Wertmaßstäbe" an Interpretationen an. Vielen Dank weiter für alle Anregungen für das differenzierte Hören.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Aber die von Dir vorgestellte Einspielung: J. Brahms, 1. Klavierkonzert, L. Bernstein halte ich für misslungen. Sie gehört zwar zu meinen „ersten 100 CD“, jedoch was für ein „mickriger“ Klavierklang und schlechtes Zusammenspiel. Kurz danach kaufte ich mit eine Aufnahme mit A. Rubinstein, F. Reiner, Chicago Symphony Orchester. Was für ein Unterschied. K. Zimerman hat sich später selbst von seiner Aufnahme distanziert (…falscher Flügel) ["http://www.zeit.de/2006/12/M-Zimerman".


    So schlecht habe ich die Aufnahme nicht in Erinnerung, ich müsste sie aber mal wieder hören. Übrigens: Wer sich für Zimermans in dem Interview erwähnte Neueinspielung des ersten Brahms-Konzertes mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle interessiert, kann sie bei mp3.saturn.de für knapp 3 Euro in guter Qualität (320 kb/s) runterladen. Witzigerweise kostet das Album knapp 10 Euro, aber jeder einzelne Track (=Satz) nur 99 Cent. Da hat wohl jemand nicht gewusst, dass das Brahms-Konzert nur aus drei Sätzen besteht... Dass Zimerman sich im Nachhinein von seiner ersten Aufnahme distanziert hat, ist für ihn nicht ungewöhnlich: Er hat Anfang der achtziger Jahre z.B. auch die Brahms-Sonaten aufgenommen und später dafür gesorgt, dass die Aufnahmen komplett vom Markt verschwanden. Sie sind heute selbst gebraucht kaum zu bekommen (ich habe sie leider auch nicht). Irgendwie hat der Mann doch einen an der Waffel ;+) .


    Viele Grüße,

    Christian

  • Zitat

    Irgendwie hat der Mann doch einen an der Waffel

    Das Interview ist doch auch ein bißchen köstlich...
    Aber nicht unsympatisch...
    Auch wenn an der Stelle die angeschrägte Künstlerpersönlichkeit mit ihren Spleens und Marketing-Interessen nur scheinbar auseinanderlaufen...

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht


  • Das Lutoslawski-Klavierkonzert mit ihm ist toll, keine Frage. Aber da hat er ja bis heute keine Konkurrenz.

    Was heißt denn, Zimmerman habe hier bis heute keine Konkurrenz? Es gibt zumindest eine, IMO ziemlich gute, Konkurrenzaufnahme:

    Solist ist hier Piotr Paleczny.

    Zitat

    Sollte es mal irgendwann eine Vergleichseinspielung z.B. mit Aimard oder Lubimov geben, weiß ich nicht, ob die nicht bei diesem Werk auch ganz schnell die Nase vorn haben.

    Ahhh, verstehe: Du bist auf der Suche nach konkurrenzfähig großen Namen ... ;+)

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Was heißt denn, Zimmerman habe hier bis heute keine Konkurrenz? Es gibt zumindest eine, IMO ziemlich gute, Konkurrenzaufnahme

    Ich danke Dir sehr für den Hinweis auf Piotr Paleczny. Meine recherchenlos aufgestellte Behauptung, es gebe keine Vergleichseinspielungen, nehme ich mit der Bitte um Entschuldigung zurück. Es gibt in der Tat (mindestens) zwei: hinzu kommt noch die von Leif Ove Andsnes

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Bezüglich der hier eifrig diskutierten Zimermanschen Neueinspielung der Chopin-Konzerte hatte ich heute ein nettes Erlebnis: Ein Weinfreund, mit dem ich verabredet war, um gemeinsam einigen feinen Tröpfchen streng wissenschaftlich :D auf den Grund zu gehen, legte - seit neuestem von der Klassik-Leidenschaft gepackt - diverse CDs als Hintergrundmusik auf. Irgendwann kam dann auch das Chopin-Konzert in f an die Reihe. Und es klang schon in der Orchestereinleitung so, dass ich - 67er Auslese hin oder her - unwillkürlich aufhorchen muste.
    Nach dem Eintritt des in dieser Innigkeit (anscheinend :D ) noch nie vernommenen Seitenthemas meinte ich zu meinem Gastgeber: "Das ist aber ganz unglaublich gut gespielt! Wer ist denn da als Dirigent am Werke?". Die Antwort lautete: "Das ist dieser Zimerman! Den Tipp habe ich von dir!"

    Gerade im Hinblick auf den Orchesterpart betrachte ich diese quasi dirigentenfreie Interpretation als ganz große, nicht mehr wirklich zu überbietende Kunst.

    Viele Grüße

    Bernd

  • Jetzt ist für den 8. September tatsächlich eine neue CD mit den letzten beiden Schubert-Sonaten angekündigt, die er in den letzten Jahren mehrfach im Konzert gespielt hat:

    Na, das ist doch eine erfreuliche Aussicht.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

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