Valery Gergiev

  • RE: ...Beispiel für Starkult....Gergiev

    Hier der Link zum Cover:https://www.capriccio-kulturforum.de/wcf/images/smilies/tongue.png

    oder im AnhangBildschirmfoto 2016-01-27 um 19.56.03.png

    Der Schriftzug Gergievs ist 3mal so groß wie der des Komponisten geschweige des Orchesters.

    Ich halte diese Argumentation für wenig stichhaltig – im Vergleich dazu ein Cover des „Lichtblick“-Kandidaten Rattle (da wird übrigens nicht einmal ein Orchester erwähnt):

    Mir ist es ziemlich wurscht, ob ein Dirigent besonders eloquent über Musik reden kann, ob er tolle Bücher schreibt oder was auch immer. Was nützt es, zu sagen „Er [Rattle] sprüht immer vor Begeisterung wenn er Interviews gibt“, wenn hernach kommt: „(auch wenn ich diese Begeisterung manchmal in den Interpretationen nicht wiederfinde)“?

    Ein Brendel beweist auch sein schriftstellerisches Talent, gibt sich gerne als Denker und Grübler – trotzdem ziehe ich die Interpretationen eines scheuen Richter oder Koroliov vor, die sich beide nicht produzieren müssen. Für mich zählt vor allem das klingende Ergebnis.

    „Starkult“ im Zusammenhang mit Gergiev? Das kann ich nach allem, was ich von diesem Dirigenten gelesen und gehört habe (hier habe ich vor allem auch Sune viele Eindrücke und Einblicke zu verdanken), überhaupt nicht nachvollziehen. Der Mann mag ein Workaholic sein, aber darüber habe nicht ich zu richten (obgleich ich mir bei manchen Produktionen etwas mehr Sorgfalt wünschen würde). Begeisterung für und Hingabe an die Musik bei Gergiev sind aber für mich auf jeden Fall deutlich spürbar und in seinen Deutungen auch hörbar. Das klingende Ergebnis überzeugt mich eben sehr oft.

    Cäcilius schrieb weiter oben über Gergievs Prokofiev-Aufnahmen:

    Zitat

    Gergiev war bis vor zwei Wochen eher sehr weit unten auf meiner Dirigentenscala für Prokofieff.
    Wie gesagt: Romeo und Julia: Na Ja, mittelmäßig.
    Der unverzeihliche Fault-Pas: das Weglassen der Kotusov-Arie in KRIEG und FRIEDEN

    Romeo und Julia fand ich auch eher mittelmäßig. Die Symphonien werden m.E. zu Recht gelobt. Und was ist mit der der GA der Klavierkonzerte (zusammen mit Alexander Toradze – m.E. referenzwürdige Aufnahmen), Liebe zu den drei Orangen, Der feurige Engel, Skythische Suite? Alles tolle Aufnahmen! Wieso Gergiev hier also ganz unten auf der „Prokofiev-Dirigentenskala“ rangiert, das ist mir unverständlich.

    Gruß, Cosima

  • Gergiev als Prokofiev-Interpret

    Gergiev war bis vor zwei Wochen eher sehr weit unten auf meiner Dirigentenscala für Prokofieff.
    Wie gesagt: Romeo und Julia: Na Ja, mittelmäßig.
    Der unverzeihliche Fault-Pas: das Weglassen der Kotusov-Arie in KRIEG und FRIEDEN
    Die 2. Sinfonie mit einem Moskauer Orchester, glaube ich: chaotisch, konfus(..ist ja auch schwierig zu machen).

    Lieber Cäcilius,

    ehrlich gestanden, habe ich Probleme mit Deinen Beiträgen. Dem Vorstellungsthread nach zu urteilen, bist Du kein Teenager oder Twen mehr, bei denen Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit üblich sind und mit dem Argument der fehlenden Erfahrung verziehen werden. Du wirst mir hoffentlich nachsehen, wenn ich mich Deiner Neigung zu Polemik nicht anschließe, sondern versuche, realtiv sachlich zu argumentieren.

    Zu "Krieg und Frieden". Nach schnellem Überfliegen des CD-Booklets fand ich keinen Hinweis darauf, warum die Kutusov-Arie in dieser Einspielung weggelassen wurde. Trotzdem hierzu einige Anmerkungen bzw. Vermutungen.

    1. Es gehört zu Gergievs Arbeitsmethoden, ein Stück vor der szenischen Premiere mehrfach konzertant auszuprobieren. Dies tat er auch mit "Krieg und Frieden" und dirigierte dies Werk am 9.7.1990 im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals in der Hamburgischen Staatsoper. Ich müßte noch einmal in meinen Mitschnitt hineinhören, aber ich glaube, die Kutusov-Arie war nicht ausgespart.

    2. Die CD ist ein Mitschnitt der Premiere, die im Juli 1991 im Mariinsky-Theater stattfand und auch im TV zu sehen war. Üblicherweise stimmen sich Regisseur und Dirigent über Fragen der Fassungen ab. Ich denke also, daß Gergiev und Regisseur Graham Vick gleichermaßen für die Auslassung verantwortlich waren.

    3. Wenn ich mich nicht irre, wurde die Arie in der Met-Produktion 2002 und 2007 nicht ausgelassen, sondern von Samuel Ramey gesungen.

    4. Sigrid Neef (Handbuch der russischen und sowjetischen Oper) und Eckart Kröplin (Frühe sowjetische Oper) weisen darauf hin, wie viele verschiedene Fassungen von "Krieg und Frieden" existieren, angefangen von der konzertanten Uraufführung mit Klavier in Moskau am 16.10.1944 bis hin zur Aufführung einer theatereigenen Fassung des Bolshoi-Theaters am 15.12.1959.

    Wie Du sicherlich weißt, hat Prokofiev die Kutusov-Arie nachkomponiert; sie ist also erst in der Fassung vom 7.6.1945 enthalten. Angesichts dieser Tatsache von einem "Faux-pas" Gergievs zu sprechen, halte ich zumindest für übertrieben.


    Zur 2. Sinfonie. Die von Dir angegebene Aufnahme hat Gergiev 1988 mit dem Großen Rundfunk- und TV-Sinfonieorchester der UDSSR eingespielt (zumindest ist sie in diesem Jahr veröffentlicht worden). Das Interesse Gergievs an dieser Sinfonie kannst Du auch daran ablesen, daß er sie am 30.6.1989 bei seinem Debüt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zur Aufführung brachte. Obwohl ich insgesamt 8 verschiedene Gergiev-Mitschnitte dieser Sinfonie besitze (und sie auch einmal live in Mikkeli gehört habe), würde ich mich nicht als Kenner dieses Werks bezeichnen. Trotzdem kommt mir Deine Einschätzung der Moskauer Aufnahme als "chaotisch, konfus(..ist ja auch schwierig zu machen)" als unangemessen großsprecherisch vor. Mich würde also interessieren, auf welcher Grundlage Du zu diesem Urteil gelangt bist. Partiturstudium? Vergleichsaufnahmen?

    In diesem Sinne kommt mir Dein Lob gegenüber Gergievs LSO-CD der 6. Sinfonie ("Ich bin also sehr zufrieden....Das kann also noch was werden mit diesem Gergiev") genauso überheblich vor wie Dein Tadel. Aber vielleicht wolltest Du einfach nur polemisieren.

    Tut mir leid. Damit kann ich wenig anfangen!

    Gruß,
    Sune

  • Lieber Cäcilius,

    Allerdings denke ich schon, daß man -danach- einen gewissen Einfluß nehmen kann, auch als Herr Gergiev.
    Daß auf den CD Covern unbedingt der Name des Dirigenten nicht 3mal so groß wie der des Komponisten stehen muß, das könnte sich Herr Gergiev inzwischen ausbedingen.
    Dazu reicht seine Macht bestimmt inzwischen.
    Daß er das nicht tut, ist schade und schlechter Stil. Ich meine: Es schadet dem Ansehen der Musik, wenn mehr Wind um die Interpreten gemacht wird als um die, denen sie diesen Wind verdanken.

    Generell stimme ich Dir durchaus zu, aber wir werden das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen können. Die Tonträgerindustrie möchte ihre Produkte absetzen. Und auch wenn man sich fragen kann, ob es denn die 100. Aufnahme der Pathétique sein soll, so haben die heutigen Interpreten recht, mit ihren Einspielungen vertreten zu sein. Wer schon 5 Aufnahmen der Pathétique besitzt, wird sich die 6. also nicht mehr des Werks wegen, sondern wegen des Interpreten kaufen. Insofern ist es doch verständlich, daß die Industrie mit dem Interpreten und nicht mit dem Komponisten wirbt. In diesem Sinne halte ich die Cover des LSO- (Mahler) bzw. des Mariinsky-Labels (Die Nase) für vertretbar.


    Leute wie Gergiev oder der unsägliche Mariss Jansons - da habe ich schon den starken Verdacht, daß die sich an der Reckstange ihres Egos hochziehen.
    Der hochrote Kopf und der Schweiß kommen oft von diesem Kraftakt und nicht von der Arbeit mit Musik.
    Signifikant für diese Spezies: Sie wollen alles und sie können alles. Hier Brahms, dort Bruckner und Strawinski nicht zu vergessen, dann natürlich Oper von Strauss und auch gepflegter Mozart.... alles geht --Mittelmäßigkeit:? ein Fremdwort.

    Hier geht der Polemiker mit Dir durch. Also : Wer beim Dirigieren schwitzt, stellt sein Ego in den Vordergrund; wer nicht schwitzt, dient der Musik??? Jansons kenne ich zu wenig, aber die körperliche, schweißtreibende Arbeit (die ja noch nichts über die Qualität des Dirigat aussagt) gehört einfach zu Gergiev wie das Zu-spät-Kommen. Das Alles-Wollen würde ich nicht auf Gergiev münzen, und wenn Du seine Konzertprogramme kennen würdest, würdest Du dieses Argument zumindest nicht in einem Gergiev-Thread benutzen. Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms, Bruckner kommen darin vergleichsweise wenig vor, denn auch hier reagieren Angebot und Nachfrage. Warum sollte ich als Konzertveranstalter Gergiev mit Haydn oder Mozart präsentieren, wenn ich ihn mit Prokofiev oder Stravinsky haben kann?


    Wirkliche Dirigenten sind die Diener der Musik und der Komposition. Darüberhinaus wird's lächerlich.

    Ein Stokowski war sicherlich nicht der uneitelste unter den Dirigenten. Und obwohl er sich bei seinem Turandot-Dirigat an der Met ausbedungen hatte, seine Hände müßten extra angestrahlt werden, möchte ich behaupten, daß auch er sich als Diener der Musik und der Komposition verstand - so, wie er sie verstand. Dieses Statement ist so allgemein, daß es schon wieder reif ist für das Phrasenschwein beim DSF-Fußball-Stammtisch.

    Ich habe Deinen Beitrag, Deinen allerersten, auch so verstanden, daß Du Gergiev nur als Aufhänger benutzt hast, um Dein Credo zum Ausdruck zu bringen. Ich denke nur, man kann Gergiev vieles vorhalten, aber als Beispiel für Starkult taugt er m.E. weniger. Als ich vor vielen Jahren einmal einen Beitrag für ein Philips-Booklet über das Mariinsky-Theater schrieb, verglich ich Gergiev in ihm mit einem (im positiven Sinn gemeint) Diktator. Doch da heute in Finnland einer der wichtigsten Tage des Jahres ist (Juhannus = Mitsommer), bitte ich um Verständnis, wenn ich mich erst demnächst wieder melde, um über den Autokraten Gergiev zu schreiben

    Gruß,
    Sune

  • RE: Gergiev als Prokofiev-Interpret

    Zitat von sune_manninen

    Du wirst mir hoffentlich nachsehen, wenn ich mich Deiner Neigung zu Polemik nicht anschließe, [...]

    Dem möchte ich mich anschließen. Außerdem möchte ich hinzufügen, dass ich mit solchen Äußerungen:

    Zitat

    Zitat von Cäcilius: Nun, was ist denn die vorrangige Aufgabe eines Dirigenten, Cosima?
    Mir scheint, Du stellst Dein persönliches Gefallen und Missfallen über das Denken und Fühlen.
    Bitte mal rein gehen ins Thema....

    … noch viel weniger anfangen kann. Mehr noch: Da verliere ich die Lust, überhaupt noch auf einen Beitrag des entsprechenden Autors zu antworten.

    Gruß, Cosima

  • Zurück zum Thema…

    Weil ich sie gerade höre, kann ich die Aufnahme auch hier erwähnen (sie entstand in Mariinsky-Theater in 7/2001):

    Yuri Bashmet spielt zwei beeindruckende Werke aus jüngerer Zeit, auf sehr beseelte Art und Weise:

    Giya Kancheli – „Styx“ aus 1999 (Ersteinspielung)
    Sofia Gubaidulina – Violakonzert aus 1996

    Valery Gergiev dirigiert das Mariinsky-Orchester. Ihm liegt diese teilweise entrückte, kontrastreiche, intensive und kraftvolle Musik sehr – klingt fantastisch das alles! Unbedingt hörenswert.

    Gruß, Cosima

  • Noch einmal : Starkult oder Reden über Musik

    Ich sage ja gerade daß keiner es schafft, dem Starkult zu entgehen, auch Rattle nicht. An seinem Umgang mit diesem kann man aber erkennenn, wer einen sekundären Gewinn daraus schmiedet und wer nicht.
    Es ist schon auffällig, wer sich wie präsentiert.
    Mit Lichtblick war weit mehr gemeint als nur Abweenheit von Starkult. Wer Rattle je über Musik hat reden hören im Ggs. zu Gergiev, weiß von was die Rede ist.

    Pardon, lieber Cäcilius, hier outest Du Dich als jemand, der gerne "eine dicke Lippe riskiert", den Beweis für seine Behauptungen aber schuldig bleibt. Mag sein, daß ich Dich mißverstanden habe : Rattle redet über Musik, Gergiev über sich selber?

    Über Rattle kann ich nichts sagen, aber Gergiev gehört zu den eloquentesten Dirigenten, die ich kenne. In Gesprächen, die viel mehr lange Monologe sind, schafft er es immer wieder, auf Fragen (scheinbar) kurz einzugehen, um dann sogleich wieder zur Hauptstraße, also zu dem, was er eigentlich sagen will, zurückzukehren. ABER : Es kommt äußerst selten vor, daß er dabei über sich selber spricht, meistens über den Komponisten, das Werk oder (sein Lieblingsthema) das Mariinsky.

    Es existieren inzwischen viele Features, die im TV zu sehen waren oder die es auf DVD gibt. Filme über Shostakovich, Prokofiev, Rachmaninov, über die Entstehung des Sacre, Probenarbeit an der Skythischen Suite, über seine Arbeit in Rotterdam (bezeichnenderweise unter dem Titel "Conducting doesn't tire me"!).

    Die BBC überträgt darüber hinaus regelmäßig Gergievs Konzerte mit dem LSO, die üblichweise mit einem interessanten Beitrag des Dirigenten über Komponisten und Werk eingeleitet werden.

    Sieh bzw. höre Dir doch einmal etwas von diesen Beiträgen an; danach können wir uns gerne wieder über Starkult à la Gergiev unterhalten. Dieser Mann schwitzt nicht nur beim Dirigieren; der kann auch etwas über Musik aussagen!

    Gruß,
    Sune

  • RE: Noch einmal : Starkult oder Reden über Musik

    Zitat von sune_manninen


    Es existieren inzwischen viele Features, die im TV zu sehen waren oder die es auf DVD gibt. Filme über Shostakovich, Prokofiev, Rachmaninov, über die Entstehung des Sacre, Probenarbeit an der Skythischen Suite, über seine Arbeit in Rotterdam (bezeichnenderweise unter dem Titel "Conducting doesn't tire me"!).

    Die DVD mit den Proben zur Skythischen Suite ist toll!

    Ja, es macht Freude, Gergiev bei Probenaufnahmen, in Interviews etc. zu erleben. Es gibt eine Dokumentation über eine seine Meisterklassen. Ich war sehr beeindruckt davon, wie er die jungen Dirigenten anleitet, seinen Ideen zu folgen, wie er seine Gefühle und Vorstellungen vermittelt, wie er mit den Augen, mit Mimik und Gestik arbeit. Er setzt eine Art innerer Bildersprache ein, die viel von seinem Phantasiereichtum und seiner Leidenschaft vermittelt. Einer der jungen Dirigenten in der Meisterklasse sagte über Gergiev sinngemäß: Bei diesem Mann fühle er sich geborgen und beschützt. Das sagt auch etwas über Gergievs menschliche Qualitäten aus.

    Gruß, Cosima

  • Polemik kann öffnen

    Natürlich beschämt mich, Sune, dein enormes Fakten- und Fachwissen. :hide: Und was du beschreibst, war sicher der wahre Grund für das Weglassen dieser Kotousov-Arie bei Krieg und Frieden. Danke für diese Info.

    Ja, Polemik ist meines Erachtens eine gute Methode dafür, ausgetretenen Pfade zu verlassen.
    Schade, daß Du dich in die Annahme zu verabschieden scheinst, ich sei überheblich und unsachlich.
    Verzeih, aber damit kann ich wiederum "wenig anfangen".
    Ich verpacke die Sachen, die ich sagen möchte, nur anders.

    Alle Gergievs und Rattles erleiden medial dasselbe Schicksal...müssen sie sich ihm ergeben? Was ist mit dem "sekundären Gewinn", den die Personen damit haben? Welche Wirkungen hat das auf die Ausübung und Wahrnehmung der Musik?
    Die Werbung für André Rieu ist diesselbe wie für die "echten" Musiker u n d die Musik, die sie spielen.

    Es ist schon erstaunlich, daß Du ohne weiteres über die Kernargumente meiner Polemik hinweggehst.
    Live-Erlebnisse blenden die mediale Realität nicht per se aus.
    Es kann und darf einem Dirigenten oder Solisten nicht eagl sein, daß das, was außermusikalisch zu sein scheint, längst sie mitbestimmmt.

    Ich erwartete, daß man gleich -dankbarerweise hat dies Cosima übernommen- von Rattle ein noch schlimmeres Beispiel für Starkult hier präsentieren wird.
    Rattle kann nicht "besser" sein als Gergiev und umgekehrt, da die Konserven-Musik sie vor den selben Karren spannt, den sie gemeinsam ziehen. Und doch: alle haben Furtwängler als Vorbild...warum wohl?
    Sie wollen zurück zu der Zeit "als das Musizieren, die Musik allein noch gehlfen hat."
    Das meine ich nicht polemisch.

    Ich höre aus deinen Worten und anderen Beiträgen heraus: Du gehörst zu den Glücklichen und Zeithabenden, die ihre musikalischen Resümes fast ausschließlich aus Live-Erlebnissen ziehen, CD-Einspielungen sind vermutlich nur Ergänzungen für dich. Das dürfte für den Rest der Welt kaum die Regel sein; im Ggt: Dieser ist darauf angewiesen vom CD-Booklet und der Hifi-Couch aus, die Komposition zu erfahren. Ich kann keine Partituren lesen. Ich kann nicht mal schnell nach Hamburg fahren, um eine Neuproduktion des Dirigenten XY zu erleben. Das ist jedenfalls bei mir die Ausnahme.
    Dein Blick mag daher viel klarer sein auf den "Dirigenten vor Ort" als meiner, der nur die Konserve kennt.
    Das ist gut und in Ordnung, und wunderbar, wenn Du hier immer wieder Infos aus erster Hand beisteuern kannst. Aber es sagt nichts aus zu dem Starkult-Thema.
    Die heutigen, bekannten Dirigenten, die es "geschafft" haben, sind in Wahrheit zwei in einem:
    Der eine dirigiert vor Ort, der andere takt im Studio oder wird getakt in Nachproduktion der "Live"-Aufnahmen, die oft aus zwei Auftritten "zusammengebessert" werden.

    Die Musik bleibt Musik - egal wie sie wiedergegeben wird.
    Das wirft Fragen auf, die beantwortenswert sind....

    Mich interessiert allein: ob eine Aufführung, egal ob live oder nicht, die Notwendigkeit gerade dieser Musik herausarbeitet, die beim Erstellen der Komposition aus dem Komponisten "herauswollte".
    D.H. aus meiner Sicht ist ein Komponist ein Medium, eine Hebamme für Musik. Beim Musizieren dann wird diese Notwendigkeit nachgeschöpft. Dies ist aus meiner Sicht die alleinige Aufgabe eines (notenspielenden) Musikers.
    Dem Dirigent kommt eine Sonderrolle dabei zu. Das Verstehen der Notwendigkeit von gerade dieser Musik muß plausibel werden, "rüberkommen": Über ihn und die Zuhörer.
    Notwendigkeit könnte in diesem Kontext bedeuten: Schönheit.

    Was könnte notwendiger sein als Schönheit?
    :?:
    Wie macht Musik das, daß wir Schönheit empfinden?
    Leidet Musik und ihre Schönheit unter André Rieu?
    Was machte Furtwängler so Besonderes?

    Lb. Gr.

    Cäcilius

    "Ist es ein Fortschritt, wenn ein Kannibale Messer und Gabel benutzt?"
    (S.J.Lec)

  • RE: Polemik kann öffnen

    Zitat von Cäcilius

    Das ist gut und in Ordnung, und wunderbar, wenn Du hier immer wieder Infos aus erster Hand beisteuern kannst. Aber es sagt nichts aus zu dem Starkult-Thema.

    Hallo Cäcilius,

    ich finde es von Sune auch wunderbar – vor allem, weil das Thema „Valery Gergiev“ lautet. Da Du Gergiev nur als Aufhänger benutzt, in Wirklichkeit lieber ein anderes Thema („Starkult“) besprechen möchtest, schlage ich vor, dass Du zu diesem Zweck einen gesonderten Thread aufmachst. – Danke!

    Gruß, Cosima

  • RE: RE: ...Beispiel für Starkult....Gergiev

    Mir ist es ziemlich wurscht, ob ein Dirigent besonders eloquent über Musik reden kann, ob er tolle Bücher schreibt oder was auch immer. Was nützt es, zu sagen „Er [Rattle] sprüht immer vor Begeisterung wenn er Interviews gibt“, wenn hernach kommt: „(auch wenn ich diese Begeisterung manchmal in den Interpretationen nicht wiederfinde)“?

    Gruß, Cosima


    Es ist ja schön wenn dir meine Meinung "wurscht" ist, aber so sehe ich es nunmal. Ich habe diese Aussage auch gar nicht auf deinen Liebling Valery bezogen (ich kenne zuwenig Interviews mit ihm, sofern er welche gibt), es gibt also keinen Grund gleich so verschnupft zu reagieren.
    Und dass meine Aussage einen Nutzen hat, bitte ich dich einfach mal anzunehmen und zu akzeptieren.

    Ich habe hier nur Rattle als Beispiel gebracht, weil er in der Diskussion vorkam. Da könnte man auch andere Leute nennen: Bernstein, Wand, Sanderling, Harnoncourt, Norrington, Jansons, Gardiner. Sie können/konnten auch beides. Tolle Interpretationen liefern und darüber reden/schreiben. Und JA, ich meine das gehört zum Dirigent-Sein dazu. Man erwartet ja auch von einem Schauspieler, dass er über seine Rolle reden kann, wenn man ihn danach fragt. Natürlich kein Mensch erwartet, dass sich ein Dirigent hinstellt und den Leuten die 4. Brahms erklärt. Aber wenn im Vorfeld ein Journalist fragt, warum er für den dritten Satz 12 Minuten braucht, sollte eine Antwort kommen, die zumindest zeigt, dass zumindest der Dirigent selber weiß warum er so lange braucht.
    Aber nachdem dir das wahrscheinlich eh "wurscht" ist, lass ich das Thema jetzt auch ruhen.


    Was Starkult betrifft, so habe ich das Gefühl, dass Gergiev im deutschsprachigen Raum überhaupt eher selten behandelt wird (im Vergleich zu Rattle, Thielemann oder Barenboim).

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Es ist ja schön wenn dir meine Meinung "wurscht" ist, aber so sehe ich es nunmal. Ich habe diese Aussage auch gar nicht auf deinen Liebling Valery bezogen (ich kenne zuwenig Interviews mit ihm, sofern er welche gibt), es gibt also keinen Grund gleich so verschnupft zu reagieren.
    Und dass meine Aussage einen Nutzen hat, bitte ich dich einfach mal anzunehmen und zu akzeptieren.

    Hallo Harnoncourt-Fan,

    ich habe nicht geschrieben, dass mir Deine Meinung „wurscht“ ist. Ganz unabhängig von Gergiev wollte ich mit diesem Absatz zum Ausdruck bringen, dass es für mich zweitrangig ist, wie gut Dirigenten über Musik reden können. Grundsätzlich ist ja nicht jeder Dirigent ein großer Mann der Worte, oftmals scheuen sie auch die Öffentlichkeit. Das muss aber alles nicht bedeuten, dass sie nicht trotzdem große Dirigenten sein können. Ich habe zwar Deinen Satz zitiert, bezog das Gesagte aber mehr auf Cäcilius’ Aussage und zwar diese:

    Zitat

    Mit Lichtblick war weit mehr gemeint als nur Abwesenheit von Starkult. Wer Rattle je über Musik hat reden hören im Ggs. zu Gergiev, weiß von was die Rede ist.

    Selbst wenn Rattle ein eloquenterer Redner als Gergiev wäre, hieße das gar nichts – jedenfalls nicht in Bezug auf das klingende Ergebnis, um das es mir vorrangig geht.

    Ich habe mich vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt, „verschnupft“ war ich aber keinesfalls wegen Deines Statements. Ich hoffe, ich konnte das Missverständnis aufklären.

    Gruß, Cosima

    P.S.:

    Zitat

    Was Starkult betrifft, so habe ich das Gefühl, dass Gergiev im deutschsprachigen Raum überhaupt eher selten behandelt wird (im Vergleich zu Rattle, Thielemann oder Barenboim).

    So sehe ich das auch, weshalb ich es als etwas ärgerlich empfand, dass Cäcilius ausgerechnet das Beispiel Rattle in Sachen „Starkult“ als „Lichtblick“ heranzog.
    Andererseits ist es klar, dass über den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker in Deutschland mehr berichtet wird. Ich vermute mal, dass die Londoner Medien auch viel über Gergiev bringen. Sei’s drum – das ist eh ein anderes Thema.

  • Als ich vor vielen Jahren einmal einen Beitrag für ein Philips-Booklet über das Mariinsky-Theater schrieb, verglich ich Gergiev in ihm mit einem (im positiven Sinn gemeint) Diktator.

    Lieber Sune,

    welcher Text ist das denn? Könntest Du ihn nicht hier zitieren?

    Ich hoffe, Du hattest einen schönen Mitsommer-Tag. :)

    Gruß, Cosima

  • Gergiev-Artikel

    Zitat von »sune_manninen«
    Als ich vor vielen Jahren einmal einen Beitrag für ein Philips-Booklet über das Mariinsky-Theater schrieb, verglich ich Gergiev in ihm mit einem (im positiven Sinn gemeint) Diktator.


    Lieber Sune,

    welcher Text ist das denn? Könntest Du ihn nicht hier zitieren?

    Liebe Cosima,

    um die Diskussion um Valery Gergiev anzuheizen, zitiere ich gerne aus diesem Text, jedoch nicht aus dem für ein Philips-Booklet (den ich nicht mehr habe), sondern aus dem, den ich vor vielen Jahren einmal für das Programmheft des Mikkeli Musik-Festivals geschrieben habe. Vieles darin Geschriebene ist auch heute noch gültig.

    " Valéry Gergiev und das Mariinsky-Theater

    Aus der römischen Geschichte wissen wir, daß es zu Cäsars Zeiten die sogenannte Zweierherrschaft gab : In normalen Zeiten berieten zwei Konsuln die anstehenden Probleme und entschieden sie gemeinsam. Nur in Notzeiten, also in Hungersnöten und Kriegen, blieb keine Zeit zum Ausdiskutieren, und so erhielt einer der beiden Konsuln die Macht, allein zu entscheiden. Der „Diktator“ (so wurde er nun genannt) war also zunächst ein durchaus positiv besetzter Begriff. Nur durch Mißbrauch dieses Amtes erfuhr er (genau wie der griechische „Tyrann“) einen negativen Bedeutungswandel.

    Dies zum besseren Verständnis vorausgeschickt, könnte man Valéry Gergiev, eine der ambitioniertesten und dynamischsten Dirigentenpersönlichkeiten der jüngeren Musikergeneration, durchaus als einen „positiven Diktator“ bezeichnen. Bis 1996 stand an der Spitze seines Theaters, des renommierten St. Petersburger Mariinsky-Theaters de iure ein Generaldirektor. De facto allerdings fungierte damals schon Gergiev als „Mr. Mariinsky“ – Aushängeschild und Hauptattraktion seines Theaters, das bis zum Zusammenbruch der Sowjet-Union (und heute noch vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum) unter dem Namen „Kirow-Oper“ bekannt war und nun wieder zu der aus der Zarenzeit stammenden Bezeichnung zurückgekehrt ist. So ist es nur folgerichtig, daß Präsident Boris Jelzin Valéry Gergiev im August 1996 zum Künstlerischen Leiter und gleichzeitig Generaldirektor des gesamten Mariinsky-Theaters machte.

    Wie der legendäre Eduard Napravnik, der das damalige Kaiserliche Theater mehr als ein halbes Jahrhundert lang (von 1863 bis 1916) als Alleinherrscher regierte und unter dessen Leitung sich das Mariinsky-Orchester als eines der besten Europas erworben hatte, ist Valéry Gergiev heute der praktisch unumschränkt herrschende starke Mann. Zum Wohle seines Theaters hält er alle Fäden in seiner Hand, kümmert sich um die Beschaffung von Sponsorengeldern, plant – Intendant, Generalmusikdirektor und Leiter des Betriebsbüros quasi in Personalunion – Neuinszenierungen, hört sich Vorsingen neuer Sänger an, nimmt für das Label „Philips“ CD’s auf, geht mit seinem Ensemble weltweit auf Tournee...... In einer Zeit, in der das leckgeschlagene russische Staatsschiff andere politische und ökonomische Probleme hat, als Opernhäuser mit staatlichen Subventionen zu versorgen, in der das ehemalige Aushängeschild der russischen Musikszene, das Moskauer Bolschoi-Theater, in Ermangelung einer Führungspersönlichkeit nur unter großen Schwierigkeiten aus seiner Lethargie erwacht, scheint das Ein-Mann-Kraftwerk Gergiev der richtige Mann für diese schwierige Aufgabe zu sein.

    Es ist schwer vorstellbar, daß für den gewohnt umtriebigen Gergiev der Tag nur 24 Stunden und das Jahr nur 365 Tage hat. Er scheint wie eine Kerze zu sein, die an beiden Enden brennt. Ein beliebiger Tag des Sommers 1997 dient zur Illustration seines Tagesablaufs. Juli 1997. Ort : Mikkeli. Am Vormittag nimmt Gergiev zusammen mit seinem Mariinsky-Orchester im akustisch hervorragenden Mikaeli, dem Kongreß- und Konzertzentrum, Tschaikowskys „Pathétique“ auf. Auf dem städtischen Fußballplatz wartet man schon ungeduldig auf den Maestro, der mit seiner Mariinsky-Mannschaft Hauptanziehungspunkt des erstmalig ausgetragenen Mikkeli Fußball-Pokals ist. Gegner : Teams der Sponsoren, Journalisten und Mitarbeiter des Festivals. Nach Ende des Turniers, das auf Gergievs Wunsch noch um ein Spiel Rußland gegen Finnland über das ganze Feld verlängert wird, geht es nahtlos ohne Pause in die Holzkirche, die drittgrößte Finnlands, in der am Abend eine konzertante Aufführung von Bizets „Carmen“ mit der russischen Star-Mezzosopranistin Olga Borodina stattfinden soll. Probe und anschließendes Konzert beschließen einen normalen Arbeitstag, der auch nach Ende des Konzerts sicherlich noch nicht zu Ende ist.

    Man könnte lange darüber nachdenken, was Valéry Gergiev zu diesem, einen einzelnen Menschen normalerweise überfordernden Arbeitspensum treibt. Ist es die Aufbruchsstimmung eines neuen, eines jungen Rußlands, in dem sich das Individuum, nun von staatlichen Fesseln nicht mehr gebremst, frei entfalten kann? Ist es der missionarische Eifer, der westlichen Welt die Schätze russischer Kultur näherzubringen und gleichzeitig St. Petersburg für westliche Entwicklungen zu öffnen? Nur eines scheint es nicht zu sein : das Interesse an der Vermehrung des eigenen Ruhms. Würde Gergiev, der sich heute aussuchen kann, an welchem Opernhaus im Westen er dirigieren möchte, der bisher alle bedeutenden Orchester der Welt geleitet hat, sonst noch im heimatlichen Rußland bleiben? Mit Leichtigkeit ließe sich sein Terminkalender an allen Tagen des Jahres allein mit Angeboten aus Europa, Amerika und Japan füllen, doch sieht der energiegeladene Gergiev seine Hauptaufgabe vor allem darin, dem ehrwürdigen Mariinsky-Theater jenen Ruf als eine der europäischen Kulturmetropolen zurückzugewinnen, den es sich seit der Zarenherrschaft erarbeitet hatte...

    Unter der Sowjetherrschaft erhielt das Ensemble den Namen Kirow-Oper (benannt nach einem Leningrader Parteisekretär), konnte aber besonders unter der Leitung des Dirigenten Juri Temirkanows sein hohes künstlerisches Niveau halten. Als dieser Nachfolger des legendären Jewgeni Mrawinsky bei den renommierten Leningrader Philharmonikern wurde, wurde 1988 der gerade 35jährige Valéry Gergiev zum Künstlerischen Leiter berufen – erstmalig nicht vom bisher allmächtigen Staats- und Parteiapparat ernannt, sondern vom künstlerischen Personal gewählt...

    Doch auch das Mariinsky-Theater ist nicht frei von der Umbruchsstimmung, die das post-kommunistische Rußland erfaßt hat. Der von wirtschaftlichen Problemen geplagte Staat sieht sich nicht mehr wie noch zuvor zur Unterstützung der Theater in der Lage; so wird das Mariinsky – immerhin eines der kulturellen Renommier-Aushängeschilder – nur zu etwa 20 % vom Staat subventioniert – ein Nichts im Vergleich zu den im Westen üblichen Subventionen, aber auch zu den Kosten, die ein Theater von der Größe und Bedeutung dieses Hauses tragen muß. Notwendigerweise ist das Mariinsky-Theater also zu einer ausgedehnten Gastiertätigkeit in der westlichen Welt gezwungen, die es fast zu einer „touring company“ werden ließ. Das Problem ist nur : Je besser die Sänger sind, je mehr Gergiev ihnen die Chance bietet, ihre Talente auf Gastspielen und durch CD- oder Video-Produktionen zu präsentieren, desto größer wird die Verlockung, daß sie vom Westen entdeckt werden und den Verlockungen „harter Währungen“ verfallen.

    So ist Gergiev notgedrungen ständig auf der Suche nach neuen Sängern für sein Theater, hat dadurch aber auch die Chance, sich sein Ensemble nach eigenen Vorstellungen zusammenzustellen – und die sind mehr von der italienischen als der russischen Gesangsschule geprägt. Sängerinnen und Sänger wie Galina Gorchakova, Olga Borodina, Gegam Grigorian, Nikolai Putilin (um nur die prominentesten zu nennen) besitzen eben nicht die typisch russischen Stimmen mit slawischer Härte bzw. Schärfe, sondern sind weicher und runder timbriert und können somit nahtlos, auch bei Gast-Engagements im Westen, im italienisch-französischen Repertoire eingesetzt werden.

    Dies ist das Lockmittel, das der Loyalität zum Mariinsky-Theater demonstrierende, aber auch dasselbe von seinen Künstlern verlangende Gergiev diesen bietet : Regelmäßig werden sie zu seinen eigenen Gastspielen an den größten Bühnen der Alten und Neuen Welt mit herangezogen. Er gibt seinen Spitzensängern aber darüber hinaus auch die Gelegenheit, sich neue Partien im heimischen St. Petersburg oder auf Tourneen zu erarbeiten, bevor sie mit ihnen im Westen gestieren. Eine Gorchakova sang ihre erste Tosca, die sie nun an den größten Bühnen der Welt darstellt, beim Mariinsky-Gastspiel in Savonlinna; eine Borodina konnte Rossinis Cenerentola zu Hause in St. Petersburg ausprobieren, bevor sie sich damit in England und Amerika präsentierte..."

    Ich denke, daß ich nun darauf verzichten kann, Weiteres über den "Diktator" Gergiev zu schreiben.

    Liebe Cosima, danke der Nachfrage zum Mitsommer-Tag, der (wie so oft) bei Temperaturen von 12° verregnet war. Aber das Wetter wird besser, so daß zu hoffen ist, daß ab 29. Juni (Beginn des Festivals) strahlender Sonnenschein vorherrscht. Oftmals in der Vergangenheit hat Gergiev dann im (Festival)T-Shirt dirigiert wie auch seine Musiker in Freizeitkleidung.

    Gruß,
    Sune

  • Lieber Cäcilius,

    Es ist schon erstaunlich, daß Du ohne weiteres über die Kernargumente meiner Polemik hinweggehst.

    wie Cosima finde ich, daß Du zum Thema Starkult einen eigenen Thread beginnen solltest. Deshalb habe ich mich in diesem Gergiev-Thread nicht allgemein, sondern nur ihn betreffend dazu geäußert.

    Ich höre aus deinen Worten und anderen Beiträgen heraus: Du gehörst zu den Glücklichen und Zeithabenden, die ihre musikalischen Resümes fast ausschließlich aus Live-Erlebnissen ziehen, CD-Einspielungen sind vermutlich nur Ergänzungen für dich.

    Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter ausführen, woher mein Bezug zu Gergiev stammt. Dies kannst Du, wenn es Dich interessiert, im Vorstellungsthread nachlesen.
    Ich gebe Dir Recht, daß ich - Gergiev betreffend - meine musikalischen Erlebnisse mehr aus Live-Erlebnissen als aus seinen CD-Einspielungen ziehe. Sofern es sich um Studioaufnahmen handelt, geben diese in vielen Fällen nicht den "echten" Gergiev wieder. Dem finanziellen Niedergang der Tonträgerindustrie ist zu verdanken, daß mehr und mehr Mitschnitte produziert werden; auch die von Dir gepriesenen Prokofiev-Sinfonien mit dem LSO sind meines Wissens so entstanden.

    Ich wünsche Dir in Deinem Kampf gegen den Starkult alles Gute - in einem anderen Thread!

    Gruß,
    Sune

  • Lieber Sune,

    vielen Dank für den interessanten Text! Kurz vorab hierzu:

    Man könnte lange darüber nachdenken, was Valéry Gergiev zu diesem, einen einzelnen Menschen normalerweise überfordernden Arbeitspensum treibt. Ist es die Aufbruchsstimmung eines neuen, eines jungen Rußlands, in dem sich das Individuum, nun von staatlichen Fesseln nicht mehr gebremst, frei entfalten kann? Ist es der missionarische Eifer, der westlichen Welt die Schätze russischer Kultur näherzubringen und gleichzeitig St. Petersburg für westliche Entwicklungen zu öffnen? Nur eines scheint es nicht zu sein : das Interesse an der Vermehrung des eigenen Ruhms. Würde Gergiev, der sich heute aussuchen kann, an welchem Opernhaus im Westen er dirigieren möchte, der bisher alle bedeutenden Orchester der Welt geleitet hat, sonst noch im heimatlichen Rußland bleiben?

    Ja, ich glaube auch nicht, dass es ihm vorrangig um den eigenen Ruhm geht. In Interviews wird immer wieder deutlich, wie stark Gergiev mit seiner Heimat verwurzelt ist. Mich berührt das stets sehr. Ich erinnere mich an ein Interview, in dem er (obgleich in Moskau geboren und später in St. Petersburg als Student tätig) voller Stolz verkündet: „Ich bin ein Ossete!“ Er spricht mit viel Hingabe und Liebe über seine Heimat, was sicher auch eine Antriebsfeder für seine aufreibende Arbeit ist.

    Wie gern wäre ich bei Eurem Festival in Mikkeli dabei! Ich hoffe, Du wirst ausführlich darüber berichten.

    Gruß, Cosima

  • Gergiev-Mikkeli

    " Das Österreichisch klingt wie ein einzig großer Topfenknödel "......Zitat aus der Krimiserie "Bella Block"

  • Lieber Sune,was ich dich schon immer fragen wollte.Auf dem schwarzen Festival T-Shirt ist dieses weisse Abzeichen zu sehen,dass du auch als Avatar genommen hast.Es stellt eine Musiknote dar,aber was bedeuten die vielen Blätter? Wer hat das eigentlich kreiiert?

    Liebe Grazer Freundin!

    Danke für Deine freundliche Unterstützung und Deine Frage nach meinem Avatar, dessen Bedeutung ich gerne erklären möchte. Es ist seit vielen Jahren (kreiert von Kari Tiippo) das Logo des Mikkeli Musik-Festivals, auf das Gergiev (und auch ich) sehr stolz ist. Auf Finnisch heißt es Sävelkukka, also Notenblume und versinnbildlicht die Verbindung von Kultur (= Notenschlüssel) und Natur (= Blumenblätter).

    Man kann sich natürlich fragen, was diesen Mann seit 1993 Sommer für Sommer nach Mikkeli zieht, denn es gibt genug Verpflichtungen für ihn, die wichtiger sind bzw. mehr Geld einbringen wie Baden-Baden, die Salzburger Festspiele oder sein Festival "Stars der Weißen Nächte" im heimischen St. Petersburg. Warum also Mikkeli? Die Antwort ist einfach : Es ist Finnland, besonders die finnische Natur in diesem Gebiet voller Wälder und Seen. Für Gergiev und sein Orchester (seit einigen Jahren ohne Solisten oder Chor - aus Kostengründen!) bedeutet Mikkeli Urlaub. Die Musiker können bis 16 Uhr (Probenbeginn) fischen und schwimmen, und Gergiev ist ja bekanntermaßen nicht nur Chefdirigent, sondern auch Generaldirektor des Mariinsky-Theaters, hat also jede Menge administrativer Aufgaben. Diese erledigt er in St. Petersburg in seinem Büro, in Mikkeli jedoch in seinem Sauna-Häuschen, direkt am See, kann aus der Sauna heraus direkt in den See springen und dann weiter seinen Geschäften nachgehen. Dazu ist er in Mikkeli umgeben von seiner Familie, seiner Frau, seinen 3 Kindern, einer seiner Schwestern, ihrem Mann und deren Söhnen. Also Familienleben pur!!! Dies ist für Gergiev so wichtig, daß er Jahr für Jahr für einen Spottpreis, also für einen Bruchteil seines sonstigen Honorars, nach Mikkeli kommt, denn was er hier bekommt, ist mit Geld nicht zu bezahlen.

    Es freut mich, daß Du bei Deinem Besuch vor 4 Jahren das Gergiev-Konzert in so guter Erinnerung behalten hast, obwohl es nicht zu seinen besten zählte. Dieses Konzert begann bereits nachmittags, da er abends in St. Petersburg sein wollte, um die US-Tanzcompagnie, die er eingeladen hatte, persönlich zu begrüßen. Er wirkte während des Konzerts auf mich merklich unkonzentriert (vielleicht interessierte ihn das Programm nicht so sehr) und ließ sich nach dem Konzert per Helikopter zur Grenze bringen, die er per Auto überquerte, um dann mit einem zweiten Hubschrauber nach St. Petersburg weiter zu fliegen. Es war übrigens das erste Mal, daß Gergiev nach der Pause auf das Publikum warten mußte statt (wie sonst üblich) umgekehrt.

    Liebe Grüße aus Mikkeli nach Deutschlandsberg

    Sune

  • Gergiev-Festival Mikkeli

    Liebe Cosima,

    Wie gern wäre ich bei Eurem Festival in Mikkeli dabei! Ich hoffe, Du wirst ausführlich darüber berichten.

    dieser freundlichen Einladung werde ich gerne nachkommen, doch bevor das Festival am 29.6. beginnt, würde ich gerne etwas über seine Entstehung schreiben. Die Korrektur des Programmbuchs, für das ich verantwortlich zeichne, ist eben gerade abgeschlossen, und so habe ich im Moment ein wenig Zeit, bevor nächsten Montag die große Hektik Einzug hält.

    Gegründet wurde das heute so genannte Gergiev-Festival Mikkeli im Jahre 1992 als ein reines Kammermusik-Festival, dessen Künstlerischer Leiter Vladimir Ashkenazy sein sollte. Doch der zog es vor, nicht zu erscheinen, und schickte statt dessen seine Kinder als Solisten.

    Das Mikkeli Musik-Festival ist unzertrennbar mit dem Namen Seppo Heikinheimo verbunden, einem genialen, aber umstrittenen Musikwissenschaftler (er schrieb u.a. über Merikanto Vater und Sohn sowie über Martti Talvela) und Kritiker der größten finnischen Zeitung Helsingin Sanomat. Umstritten deshalb, weil er als Kritiker eine ziemlich scharfe Klinge schlug und (so sagt man) so manche Karriere damit beendet hatte. Perfekt in russischer Kultur und Sprache (dies galt auch für die deutsche), hatte er viele russische Freunde, so z.B. Ashkenazy.
    Als Valery Gergiev 1992 erstmalig in Helsinki gastierte, lud Heikinheimo ihn ein zu einem Besuch in sein Sommerhaus. Dort erzählte er von einem kürzlich erbauten Konzerthaus im nur 40 km entfernten Mikkeli. Gergiev wurde hellhörig, ließ sich nach Mikkeli zu einer Akustikprobe des Konzerthauses fahren und entschied : "Hier machen wir ein Festival!" Und so wurde, bevor das erste (Kammermusik-) Festival 1992 stattfand, das Mikkeli Musik-Festival geboren, bestritten vom Mariinsky-Theater, erstmalig ausgetragen 1993, also im selben Jahr wie das St. Petersburger Festival Stars der Weißen Nächte. Leider beging Heikinheimo im Jahre 1997 Selbstmord.

    Wie heute dauerte das erste Festival 1993 nur 5 Tage, und Gergiev dirigierte 5 Konzerte. Das sollte sich bereits 1994 ändern; das Festival dauerte nun fast 2 Wochen mit 12 von Gergiev geleiteten Aufführungen. Erstmalig gab es auch Opern zu sehen und zu hören : szenisch "Nozze di Figaro" (mit der damals am Anfang ihrer Karriere stehenden Anna Netrebko), konzertant "Forza del destino" (in der Besetzung der CD-Einspielung mit Galina Gorchakova) und "Cenerentola" (mit Olga Borodina). Die "Forza" war so erfolgreich, daß sie wiederholt werden mußte. Von diesem Jahr "zehrt" das Festival noch heute, denn seitdem heißt es, wegen der hohen Kosten für Opernaufführungen einen immensen Schuldenberg abzutragen. Aus diesem Grund wird Jahr für Jahr der Gang nach Canossa angetreten, d.h. zu Gergiev, um ihn davon zu überzeugen, daß die vom Mariinsky-Theater verlangte Gage auf keinen Fall gezahlt werden könne. Bisher gelang dies jedes Mal (ein türkischer Dirigent : "Poor Valery comes to Mikkeli just for charity!"). Bis auf den Festival-Direktor und eine für den Kartenverkauf verantwortliche Sekretärin (beide nur wenige Monate) arbeiten alle auf der finnischen Seite der Organisation Beteiligten mit viel Herz, aber unbezahlt!

    Von Anfang an hätte das Festival auch "Valery Gergiev und seine Freunde" heißen können, denn im Laufe der Jahre gastierten Vadim Repin, Yuri Bashmet, Alexander Toradze und seit neuestem Sergey Khachatryan regelmäßig in Mikkeli, wie auch Lang Lang.

    Chaotisch war anfangs die Programmgestaltung. Wenn das Festival Anfang Juli beginnen sollte, schickte das Mariinsky-Theater das Programm im April, das dann noch tausend Mal geändert wurde. Heute sind wir so weit (bzw. haben wir Gergiev so weit), daß er am Ende des Festivals bereits das Programm für das nächste Jahr ankündigt, das heutzutage nur noch unwesentlich geändert wird. Somit ist das Festival verläßlicher geworden, und die Auslastung der Konzerte steigt. Im vergangenen Jahr waren bei Kartenverkaufs-Beginn (1.3.) 75% der Karten vorbestellt; bei Beginn des Festivals waren alle Konzerte ausverkauft. Dieses Jahr sieht es nicht ganz so günstig aus. Zwar sind 3 der Konzerte total ausverkauft, doch für die mit finnischen Künstlern kaufen sich die Finnen die Karten erfahrungsgemäß erst im letzten Moment.

    Unsere große Aufgabe wird wie jedes Jahr darin bestehen, von Gergiev ein Programm für 2010 zu bekommen. Dies wird immer schwieriger, denn wenn der Herr nicht daran erinnert wird, daß er sich bereits für eines entschieden hat, beginnt er jedes Mal wieder laut zu denken - bei Adam und Eva! Es ist gewiß nicht einfach vorauszuahnen, womit das finnische (letztes Jahr 10% aus dem Ausland) Publikum angelockt werden kann. Optimal wären 4 oder 5 von Gergiev dirigierte Konzerte mit Sergey Khachatryan als Solisten. Seit seinem Debüt vor 2 Jahren in Mikkeli mit Shostakovichs 1. Violinkonzert (ohne eine einzige Sekunde Probe; Gergiev hatte sich um 1 Stunde verspätet; die beiden lernten sich erst auf der Bühne kennen!!!) ist der junge, in Frankfurt lebende Armenier der Publikumsliebling, dessen Konzerte alle als erste ausverkauft sind. Ansonsten kommt es auf die Verpackung an, dann kann man auch Shchedrin oder Messiaen anbieten. Also : entweder populärer Solist oder kombiniert mit einer Sibelius-Sinfonie. Dann kommt das Publikum.

    Falls Interesse besteht, berichte ich gerne über die Vorgeschichte des diesjährigen Programms, das man via http://www.mikkelimusic.net einsehen kann.

    Vielen Dank für die Geduld beim Lesen und viele Grüße aus dem nun etwas wärmeren Finnland!

    Sune

  • Gergiev-Festival Mikkeli

    Die Entstehung des diesjährigen Programms wirft ein bezeichnendes Licht auf die Person Valery Gergievs. Im vergangenen Sommer noch hatte er das Festival ermahnt, nicht mit potentiellen Solisten zu reden, bevor er nicht seine "Visionen" ausgesprochen hätte. Sonst würde er sich bloß als Dirigent und nicht als Künstlerischer Leiter fühlen. Witzigerweise stammen jedoch nur 3 Stücke seiner 4 1/2 Konzerte von ihm; alle anderen wurden vom Festival vorgeschlagen und von ihm "abgenickt".

    Anfangs monierte er das Programm des Eröffnungskonzerts (Beethovens 5. Klavierkonzert, Tschaikowskys Pathétique), sah denn aber diese Zusammenstellung ein. Es sei besser, den von ihm gewünschten, für Finnland neuen Pianisten Alexei Volodin mit einem populären Programm vorzustellen. Außerdem bräuchte dieses - im Falle, daß er, Gergiev, wieder einmal verspätet käme - garantiert nicht geprobt zu werden - eine Bemerkung, die er mit einem Stirnrunzeln quittierte. Allerdings sei es ihm trotzdem noch zu traditionell, er wolle noch etwas Moderneres haben. Also Shostakovichs Festliche Ouvertüre, gespielt von seinen brillanten Blechbläsern, dirigiert von ihm.

    Das Brahms-Violinkonzert des zweiten Abends ist ein Wunsch des Solisten Sergey Khachantryan. Die Koppelung mit einer Mahler-Sinfonie fand Gergiev ideal und wollte diejenige haben, die er im Anschluß an Mikkeli dirigieren würde, konnte sich aber nicht erinnern, welche das gewesen sei. Somit akzeptierte er unseren Vorschlag, die Fünfte zu dirigieren.

    Der dritte Tag des Festivals ist traditionellerweise sein freier Tag, bei uns Kazakhstan-Tag genannt. Warum dies? Weil er vor einigen Jahren an eben diesem freien Tag dorthin (nicht gerade vor Mikkelis Haustür) entschwand, um auf Einladung Putins zu dirigieren; wider Erwarten kam er pünktlich wieder.

    Am vierten Tag gibt es abends das Gedenkkonzert für den großen finnischen Bassisten Martti Talvela, der in der Nähe Mikkelis einen Bauerhof bewirtschaftet hatte und vor 20 Jahren beim Hochzeitstanz anläßlich der Verheiratung einer seiner Töchter tot umgefallen war. Es sollten Werke gespielt werden, die in Bezug zu Talvela standen, also Wagners Parsifal-Vorspiel (damit hatte Talvela 1962 in Bayreuth debütiert) und Sibelius' 5. Sinfonie. Mit Yuri Bashmet als Solisten sollte dann Giya Kanchelis Liturgie für Viola und großes Orchester "Vom Winde beweint" gespielt werden, ein Werk, das Gergiev 1990 in Berlin uraufgeführt hatte (jedoch konnte er sich nicht mehr daran erinnern). Wie ich vermute, aus politischen Gründen, wollte Gergiev es aber nicht aufführen; Kancheli ist Georgier und Gergiev Ossete!!! Somit gibt es nun Hindemiths Trauermusik und Bartóks Violakonzert.

    Für den Nachmittag dieses 4. Tages hatte Gergiev den Wunsch, ein Kammermusik-Konzert mit dem Cellisten Sergey Roldugin (ein Jugendfreund Putins) und dem Pianisten Miroslav Kultyshev haben. Nach unserem Einwand, daß sich dieses Konzert nicht verkaufen lassen würde, sagte er : "OK, dann dirigiere ich im 2. Teil Mozarts Sinfonia concertante für Blechbläser; dann verkauft es sich besser!" Somit leitet er an diesem Tage 1 1/2 Konzerte.

    Für das Abschlußkonzert ist der georgische Pianist Alexander Toradze gewonnen worden, ein enger Freund Gergievs und häufiger Gast in Mikkeli. Das Problem mit ihm ist jedoch, daß er ein äußerst schmales Repertoire hat, dessen Werke er allesamt hier schon gespielt hat. Um so mehr freuen wir uns, ihn mit Stravinskys Capriccio und Shostakovichs 2. Klavierkonzert mit zwei neuen Stücken präsentieren zu können. Auf Gergievs Wunsch wird dieses Konzert mit Messiaens L'Ascension eingeleitet, ein Werk, das ich vorher nicht kannte und das nun in mir nach mehrmaligem Hören regelrecht Suchtcharakter auslöst. Abgeschlossen wird dieses Konzert mit Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, aber nicht in Ravels Fassung, sondern - damit einen Bogen zum Beginn des Festivals schlagend - von den Blechbläsern des Mariinsky-Orchesters gespielt.

    Nicht unerwähnt bleiben sollte eines der Konzerte am Gergiev-losen Mittwoch, weil es dazu eine für ihn typische Geschichte gibt. Vor 3 Jahren wurden Gergiev und einige der Festival-Administratoren, die nach einem Konzert zusammensaßen, von einer Dame angesprochen. Sie hätte einen 12jährigen Sohn, der Pianist sei. Ob Gergiev sich den nicht mal anhören könnte? Zu meiner Überraschung sagte Gergiev zu und meinte nach dem Vorspiel, mit dem Jungen könnte man in der Zukunft etwas machen. Diese Zukunft kam schneller als erwartet, denn der Junge gab bereits im nächsten Jahr ein Klavier-Recital, u.a. mit Debussy, Mozart, Prokofiev - und eigenen Werken!!! Denn er ist auch (und das in diesem Alter!) Komponist und hatte bereits einen Wettbewerb gewonnen. In diesem Jahr spielt der nunmehr 15jährige Johannes Piirto das frühe Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das dieser im Alter von 12 Jahren komponiert hatte. Wenn der junge Künstler, der nebenbei auch noch bei Jorma Panula Dirigieren studiert, sein erstes Werk für großes Orchester komponiert haben wird, versprach Gergiev, es in Mikkeli aufzuführen. Auch so etwas gibt es!!!

    Ich bitte diejenigen um Verständnis, die mehr an Gergievs CDs interessiert sind, daß ich diese "Geschichten" hier so ausbreite, aber mit ihren Hintergrund-Informationen bilden sie m.E. einen Teil des Gergiev-Mosaiks, deren Kenntnis allerdings keinen Einfluß hat auf die Beurteilung seines interpretatorischen Könnens.

    Sune

  • Gergiev, der Probierer

    Allen, die etwas mehr über Valery Gergiev erfahren wollen, empfehle ich John Ardoins Buch "Valery Gergiev and the Kirov" mit dem erstaunlichen Untertitel "A Story of Survival". Kein Russe, sondern der Amerikaner Ardoin, der bereits über Furtwängler und Callas veröffentlicht hatte, wurde Mitte der 90er Jahre gebeten, ein Buch über das im englischen Sprachraum immer noch besser unter dem Label "Kirov" bekannte Mariinsky-Theater zu schreiben. Lesenswert vor allem deswegen, weil es keineswegs in eine unkritische Huldigung Gergievs ausartet, sondern auch seinen Gegnern Raum gibt.

    In ihm beschreibt Ardoin genauestens, wie Gergiev 1995 ein Konzert mit Beethovens Neunter probte; keinesfalls - wie üblich - das ganze Werk, sondern nur die ersten beiden Sätze, die aber durchaus im Detail. Nur kurz danach führte Gergiev dieselbe Sinfonie auch in Mikkeli auf, und ich konnte selbst miterleben, wie Gergiev wieder nur die ersten beiden Sätze probte. Es war ein unglaublich heißer Tag, und die Holzkirche, in der das Konzert stattfand (die drittgrößte Finnlands) heizte sich von Minute zu Minute mehr auf. Wie üblich probte Gergiev wieder bis zum angekündigten Konzertbeginn (ich kenne kein geduldigeres Publikum als das von Mikkeli), und ohne daß für Luftaustausch gesorgt wurde, strömten die Leute auf ihre Plätze. Die ersten beiden (geprobten) Sätze verliefen denn auch durchaus eindrucksvoll, doch im langsamen Satz schien Gergiev in ein tiefes Loch zu fallen, aus dem er bis zum Schluß nicht wieder herauskam. Später bekannte er, er sei angesichts der drückenden Hitze Tode gestorben.

    Wie ich schon früher einmal sagte, gibt es den Gergiev nicht, also auch nicht den Probierer. Und wenn sein Kollege und Freund Esa-Pekka Salonen diese Art damit beschreibt, daß Gergiev die Verwirklichung seiner Klangvorstellung dem Konzert überließe, indem er nur Details probte und dann darauf vertraut, daß das Orchester seine Intentionen am Abend umsetzt, so ist dies nur ein Teil des Gergiev-Mosaiks. Ich vermute, daß er diese Methode vor allem mit seinem eigenen Orchester anwendet, das - im Prima-vista-Spiel genauso perfekt wie er im Prima-vista-Lesen - darauf eingeschworen ist.

    Doch man kann bei ihm auch andere Kuriosa erleben. Vor einem Konzert mit dem kompletten Nußknacker-Ballett (das "natürlich" nicht geprobt wurde) verbiß er sich in Mahlers Dritte, die am nächsten Abend gespielt werden sollte, aber nicht im selben Saal. Als er ca. 15 Minuten vor Konzertbeginn bemerkte, daß er für den diese Sinfonie abschließenden langsamen Satz, der etwa 30 Minuten dauert, nicht mehr genügend Zeit haben würde, ließ er diesen Satz im doppelten Tempo spielen. Darauf angesprochen, ob dies seine Original-Interpretation sei, meinte er, nein, aber so hätten die Musiker die Noten wenigstens einmal vor dem Konzert gespielt!!!

    Ähnliches geschah, als ihm einmal eine Suite aus Shostakovichs einziger Operette "Moskva-Cheryomuzhski" abverlangt worden war; abverlangt deshalb, weil er sich erst nach mehreren Versuchen "breitschlagen" ließ, diese witzige Musik auf das Programm zu setzen. Wieder erst kurz vor Probenende drehte er sich um und fragte, wieviel er davon spielen lassen sollte. Antwort : Die Suite dauert 18 Minuten. Darauf blätterte er die Partitur durch und entschied sich dann für zwei längere Ausschnitte, wieder im doppelten Tempo gespielt!

    Letztes Jahr standen mit Sibelius' Vierter und dessen Karelia-Suite zwei für Gergiev neue Werke auf dem Programm in Mikkeli. Eigens dafür war diese Sinfonie bereits in St. Petersburg angesetzt worden. Der Geiger Sergey Khachatryan sollte dort der Solist des Violinkonzerts sein und fragte, warum die Probe verspätet anfinge. Antwort : Gergiev sei noch zu Hause und würde die Partitur der Sinfonie lernen. Davon war allerdings beim Konzert in Mikkeli nichts zu spüren, denn seine Interpretation war so überzeugend, als hätte er dieses schwierige Werk schon öfter dirigiert. Die Karelia-Suite gelang ebenso, obwohl Gergiev sie in der Probe nur 2 Minuten lang "angespielt" hatte (ein Assistent hatte das Orchester in St. Petersburg vorbereitet).

    Als kritischer Musikfreund muß man sich natürlich fragen, ob diese geschilderten Beispiele, die durchaus keine Einzelfälle sind, noch etwas mit Kunst zu tun hätten. :shake: Die Antwort dürfte lauten : eher nicht! Doch Proben sind für Gergiev ein "work in progress". Außer er kommt wieder einmal zu spät, wird ständig geprobt : in St. Petersburg vor einer Aida mal eben die Mahler-Sinfonie, mit der man anderntags auf Japan-Tournee gehen wird, und in Mikkeli Schuberts Neunte, obwohl Sheherazade und Petrushka auf dem Programm stehen. Dies kann er sich bei "seinem" Orchester erlauben, wohl kaum bei Musikern, die diesen Probenstil nicht gewohnt sind. Verständlich deshalb sein "Rückzug" auf wenige mit ihm vertraute Orchester.

    Zum Schluß noch meine schönste Proben-Story. Weil Gergiev (ich glaube, es war 2002) in Salzburg "Samson et Dalila" dirigieren sollte, setzte er diese Oper sozusagen als Generalprobe in Mikkeli an, sogar mit einer Klavierprobe, da das Stück für alle Beteiligten neu sei. Zur Klavierprobe erschienen denn auch brav alle Solisten, doch kein Gergiev, kein Pianist erschien, so daß sich der Samson-Sänger ans Klavier setzte und seine Kollegen mit reichem Repertoire von der Mondschein-Sonate bis hin zu Nationalhymnen unterhielt. Anschließend dann Probe mit Orchester, aber angesichts dessen, was zu erleben war, von "Probe" zu sprechen, ist die reinste Übertreibung. Obwohl es teilweise drunter und drüber ging, wurde kein einziges Mal abgebrochen und korrigiert, bis die "Probe" nach 1 1/2 Akten vorbei war. Der Rest dann am nächsten Tag unmittelbar vor dem Konzert.

    Gergiev hatte die Titelrolleninterpreten neben seinem Dirigentenpult postiert, die Sänger der kleineren Rollen sollten in der 1. Reihe der Kirchenbänke singen (wieder wurde die Holzkirche benutzt), doch diese Plätze waren verkauft, und das an Sponsoren. Gergiev ließ sich überzeugen und entschied : Der Oberpriester des Dagon steht neben der Harfe (und das bei einem großen Duett mit Dalila!), die übrigen "Kleindarsteller" neben dem Chor!!! Was anfangs wie Chaos aussah (bei den "Proben"), endete mit einer brillanten Aufführung - der Aderenalinspiegel war ja auch hoch genug!

    Mal sehen, welche "Döntjes" ich nach dem Montag beginnenden Mikkeli-Festival erzählen kann. :D

    Sune

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