Patricia Petibon - die Kompromisslose
Liebe Capricciosi!
Die studierte Musikwissenschafterin Patricia Petibon (* 27. Februar 1970 in Montargis) ist wohl eine der bedeutendsten zeitgenössischen Sängerinnen. Im heutigen Einheitsbrei der Interpretationen ist sie ein leuchtender Stern am Himmel des klassischen Gesangs. Ihre eigenartige Stimme ist unverwechselbar timbriert, und ihre Interpretationen sind durchdacht und unerhört. Sie scheut sich nicht, mit Klangfarben zu experimentieren, Vokalfärbungen zu übertreiben, eigene Kadenzen zu komponieren und gesangsferne Elemente wie Gurgeln, Gähnen etc. in ihre Darbietungen aufzunehmen. Ihrer Stimme stehen unzählige Nuancen zur Verfügung - von kokett bis melancholisch, von Ironie oder gar Parodie bis zur ehrlichen Emotion - und immer lockt die Ablehnung des bloßen Schöngesangs, der Mut zur Hässlichkeit und eine kompromisslose Interpretation. Ihrer Wandlungsfähigkeit ist es dabei zu danken, dass sich ihr Repertoire bei gleichbleibender Qualität vom Barock bis in die Moderne erstreckt.
In meinem Eröffnungsposting möchte ich insbesondere ihre bislang drei Solorecitals vorstellen und ans Herz legen. Sie sind keine belang- und beziehungslose Abfolge verschiedener Bravourarien, sondern sorgfältig ausgewählte Werke, die hochemotional interpretiert werden und miteinander vielfältige und vielschichtige Verbindungen eingehen. Oft gelingt es ihr, anhand einer einzigen, manchmal zweier Arien eine komplexe Opernfigur in allen Facetten zu charakterisieren, wie es ihre Kolleginnen in Gesamtaufnahmen nicht besser und oft gar nicht schaffen. Freilich bergen ihre mitreißenden Recitals die Gefahr, dass man eine ganz neue Sicht auf manche Musikstücke gewinnt und sie schließlich fast nur noch in Petibons Interpretation hören will.
Ein großartiges Spielfeld für ihre Kunst hat sie in der französischen Barockoper gefunden, die sie ausschweifend üppig und sinnenfroh gestaltet. Neben einigen Gesamtaufnahmen hat sie in diesem Bereich auch ihr erstes Recital angesiedelt, nach dessen Genuss wohl hoffentlich auch der letzte Barockopern-Skeptiker bekehrt ist. Sowohl die Auswahl der Werke als auch die Darbietung sind nur grandios zu nennen: vom Hass der Lully'schen Armida, bei dem man unweigerlich zum Lullisten wird, bis hin zur verrückten Arie des personifizierten Wahnsinns aus der "Platée" von Rameau, in dem sie alle Register zieht... :juhu:
Mit großem Erfolg hat sie sich dann die französische Oper und Operette zu Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen: Auch hier funktioniert eine "Affektausdeutung" nach barockem Vorbild. Ihre CD "French Touch" halte ich für das Beste, was in puncto französischer Spätromantik in den letzten Jahren auf den Markt gekommen ist und für ein gelungenes Revival des französischen Stils, dem weitere Aufnahmen folgen sollten.
Besonders bemerkenswert ist wohl ihre Interpretation der Olympia mit der selbstkomponierten Kadenz, besonders bewegend ihre Manon mit "Adieu, notre petite table", was für mich die Referenzaufnahme dieser Arie darstellt. Aber Patricia vermag mit ihrem Witz auch in den Operettenpartien (Chabrier, Messager, Hahn) vollauf zu überzeugen. (Wann kommen endlich die Gesamtaufnahmen?)
Leider ist diese zweite Recital-CD vergriffen und wohl nur noch zu monströsen Preisen zu bekommen - nicht, dass die geniale CD diese Preise nicht wert wäre... :juhu:
Erst im vergangenen Herbst ist ihr dritter Streich herausgekommen: Unter dem Titel "Amoureuses" widmet sich Patricia Petibon der Wiener Klassik. Mit ihrem üblichen Engagement geht sie an die Marmorheroinen der Wiener Klassik heran und gibt ihnen ihre ursprüngliche bunte Bemalung zurück. Besonders gelingt ihr das mit den Gluck- und Mozartarien, gegen die die Haydn-Arien meiner Meinung nach schon im Grad der musikalischen Textausdeutung abfallen. In der Konzertarie "Vorrei spiegarvi oh Dio!" KV 418 motiviert sie den Spitzenton durch ihre expressive Interpretation und setzt ihn wie einen Nadelstich in das seelische Universum der Arie. Ihre Königin der Nacht kocht wirklich (man beachte etwa den hasserfüllten rauen Ton bei "kocht in meinem Herzen"!) und ist das hochdramatische Porträt einer Frau, die nur noch hassend lebt.
Dagegen im scharfen Kontrast die wunderbare Barbarina-Arie, wo Patricia die selbe mädchenhafte Traurigkeit verströmt, die ich schon an ihrem "Adieu, notre petite table" bewundert und gerühmt habe. Eine Barbarina der Superlative! Attacca, um die mögliche Entwicklung von Barbarinas Liebesleben anzudeuten, folgt das zärtliche "Deh vieni, non tardar". Ein weiteres phänomenales Highlight: "Tiger! Wetze nur die Klauen" aus Zaide, nach dem ich eine Zeit lang regelrecht süchtig war. (Von den Arien der Barbarina, der Königin der Nacht und der Zaide kann man übrigens auf Patricias Homepages etwas längere Hörschnipsel genießen - aber Achtung: das Anhören könnte zum zwanghaften Ankauf führen!)
Und natürlich liegen ihr die Gluck-Arien mit den seelischen Ausnahmezustände der Iphigenie "Non, cet affreux devoir... Je t'implore et je tremble", einem Musterbeispiel ihrer stimmlichen Nuancierungskunst, und der Armide in "Le perfide Renaud me fuit". Überhaupt hat sie mit diesem Recital nun schon erfolgreich die Arien dreier Armiden aufgenommen: von Lully, Gluck und Haydn. Von den Haydn-Arien möchte ich besonders die Arie "Salamelica, Semprugna cara" aus "Lo speziale" hervorheben, in der Patricia wiederum mit ihrem komischen Talent besticht. Kurz: eine unbedingte Empfehlung für alle Liebhaber der Wiener Klassik und alle, die Mozart, Haydn und Gluck bislang verzopft und altmodisch fanden! :juhu:
Restlos begeistert war ich auch von einem youtube-Video, in dem sie ein berührendes "Send in the clowns" aus dem Sondheim-Musical "A Little Night Music" aufführt, mit ihrer Leibpianistin Susan Manoff am Klavier - nicht gerade das Kernrepertoire lyrischer Koloratursopranistinnen, aber großartigst! :juhu: :juhu: :juhu:
Im Sommer wird Patricia Petibon bei den Salzburger Festspielen als Despina auftreten, eine Rolle, die sie, nach allem, was ich bisher von ihr gehört habe, mit Sicherheit wieder hervorragend gestalten wird. Die Premiere am 30. Juli wird vom ORF übertragen (3sat: 15. August); ein paar Tage zuvor, am 26. Juli um 9:35 Uhr wird auch ein Porträt dieser Ausnahmesängerin gesendet.
Liebe Grüße,
Areios