Bestandsaufnahme russische Sinfonik vor 1917

  • Bestandsaufnahme russische Sinfonik vor 1917

    Die russische Musikgeschichte ist ja ein eigenartiges Ding. Da gab es "seit jeher" die Musik der orthodoxen Kirche, die erst aus Kiew kommend den Kirchenstil prägte, sich später in Moskau und St. Petersburg weiterentwickelte. An den Hof in Petersburg wurden dann irgendwann westliche Komponisten geholt, die dort Musik in der italienischen, französischen, deutschen Tradition aufführten. Erste russische Komponisten (etwa Bortnjanskij) nahmen den Ball an und komponierten Instrumentalmusik im westeuropäischen Stil und begannen den bis heute gebräuchlichen Stil der russisch-orthodoxen Chormusik zu formen.

    Schwer nachvollziehbar ist die Entwicklung, die in kurzer Zeit zur Ausprägung einer eigenen russischen Kunstmusik führte. Man hat den Eindruck, dass Glinka 1836 seinen Iwan Susanin / Ein Leben für den Zaren (gemeinhin bezeichnet als "erste russische Oper") aus dem Hut zaubert und auf einen Schlag bzw. ein paar Jahrzehnte später (das Loch dazwischen ist der spannende Zeitraum) gibt es eine Kunstmusik mit eigenständig russischem Idiom, auch auf dem sinfonischen Sektor. Mit der Geburt und Entwicklung "der russischen Sinfonie" hätte ich mich im Folgenden gerne ein bisschen auseinandergesetzt.

    Bevor wir den Erblinien zwischen den (häufig dilettierenden) Slawophilen und den vermeintlichen Westlern nachgehen können und diese bewerten, möchte ich eine kleine Bestandsaufnahme beginnen. Helft mir doch bitte, alle für die Musikgeschichte relevanten russischen Sinfoniker zusammenzutragen.


    Mili Balakirew (1837 - 1910) 2 Sinfonien (zwischen 1864 und 1908 !!!)
    Pjotr Tschaikowskij (1840 - 1893) 6-7 Sinfonien zwischen 1866 und 1893
    Nikolai Rimski-Korsakow (1844 - 1908) 3 Sinfonien ab ca. 1861
    Aleksandr Tanejew (1850 - 1918) ? Sinfonien ab ?
    Michail Ippolitow-Iwanow (1859 - 1935) 2 Sinfonien 1907 und 1935
    Aleksandr Gretschaninow (1864 - 1954) 2 Sinfonien vor 1917, weitere 3 im Exil
    Aleksandr Glasunow (1865 - 1936) 8 Sinfonien zwischen 1880 und ca. 1910
    Wassili Kalinnikow (1866 - 1901) 2 Sinfonien zwischen 1895 und 1897
    Aleksandr Skrjabin (1872 - 1915) 3 Sinfonien
    Sergej Rachmaninow (1873 - 1943) 3 Sinfonien zwischen 1897 und 1936
    Reinhold Gliér (1875 - 1956) 3 Sinfonien 1900 - 1911
    Nikolai Mjaskowski (1881 - 1950) 27 Sinfonien vor und nach 1917


    Keine Sinfonien komponierten:

    Michail Glinka (1804 - 1857)
    Modest Mussorgski (1839 - 1881)
    César Cui (1835 - 1918)
    Anatoli Ljadow (1855 - 1914)

    Die zusammengetragenen Daten sind wahrscheinlich nicht hundertprozentig zuverlässig, aber Orientierungswerte.

    Weißrussische, ukrainische, etc. Komponisten dürfen natürlich mitberücksichtigt werden.

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Alexander Borodin (1833-1887) 3 Sinfonien ab 1862/67, die 3. (1886/87) blieb unvollendet.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Die zusammengetragenen Daten sind wahrscheinlich nicht hundertprozentig zuverlässig, aber Orientierungswerte.


    Vielen Dank für den Überblick!!

    Ergänzen möchte ich Anton Rubinstein mit sechs Symphonien ....

    • 1.Symphonie F-Dur op.40, 1850
    • 2.Symphonie Okean (Ozean) C-Dur op.42, 3 Fassungen: 1851, 1863, 1880
    • 3.Symphonie A-Dur op.56, 1854/55
    • 4.Symphonie Dramatičeskaja (Dramatische) d-Moll op.95, 1874
    • 5.Symphonie g-Moll op.107, 1880
    • 6.Symphonie a-Moll op.111, 1886


    lg

    tastenrabe

    http://schattenspiegelungen.wordpress.com/

  • Yeah, danke fürs Zusammentragen, Спасибо!

    Hab auch noch einen erwischt:

    Anton Arenski (1861 - 1906) 2 Sinfonien (1883 und 1889)

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Mir fällt noch der andere Tanejew ein:

    Sergei Iwanowitsch Tanejew (1856 - 1915): 4 Symphonien, davon 3 vollendet, zwischen 1873 und 1898.

    :wink:
    Renate

    Unsre Freuden, unsre Leiden, alles eines Irrlichts Spiel... (Wilhelm Müller)

  • Ah, Argh, Danke! Hab ich doch wieder die beiden Tanejews durcheinandergebracht... da habe ich im Eröffnungsbeitrag glaube ich was durcheinandergeworfen...

    :wink:

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Keine Sinfonien komponierten:

    Michail Glinka (1804 - 1857)


    Das ist zwar richtig, stimmt aber dennoch nicht ganz, denn: "Wesentlich bedeutender ist die »Symphonie-Ouvertüre« bzw. Sinfonia sopra due motivi russi, die M. Glinka im Apr. 1834 in Berlin zur Zeit seines Studiums bei Siegfried Dehn in Angriff nahm", heißt es in der (mir vorliegenden, da vor einiger Zeit bei 2001 in digitaler Form günstig angebotenen) Altauflage des MGG. Und weiter: "Das Werk, in welchem er später die Teillösung des Problems in Form durchgängiger »Hintergrund-Var.« fand, Kamarinskaja (1848), ist zwar keine Symphonie, enthält aber, wie Tschaikowsky einmal gemeint hat, latent den Keim, aus dem die gesamte russ. Symphonie-Schule erwachsen sollte »wie die ganze Eiche aus der Eichel«"

  • Ein paar Ergänzungen hätte ich auch noch.

    Der meines Wissens erste russische Komponist, der Sinfonien komponiert hat, war Alexander Aljabjew (1787–1851). Aljabjew hatte ein recht bewegtes Leben (unter anderem wurde er zeitweise nach Sibirien verbannt). Laut MGG-Artikel muss er schon vor 1820 mindestens eine vollständige Sinfonie komponiert haben (und ein Fragment). Später entstanden offenbar noch zwei weitere Sinfonien, von denen eine allerdings verschollen ist. Ich kenne diese Werke aber nicht und weiß auch von keinen Aufnahmen (besonders intensiv beschäftigt habe ich mich damit allerdings bisher noch nicht).

    Glinka hat sich, obwohl er keine vollständige Sinfonie komponiert hat, zeitweise eben doch ein wenig mit der Gattung auseinandergesetzt. Es gibt ein ganz frühes "Andante cantabile und Rondo" für Orchester von ihm, entstanden 1823, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Skizze für eine Sinfonie handelt. Das klingt allerdings noch ganz zahm und "unrussisch", eher in Richtung Frühklassik, mit ausgedehnten Holzbläsersoli. Dann gibt es noch eine unvollendete Sinfonie B-Dur, laut MGG um 1824 entstanden, die ebenfalls mit dem späteren Glinka nicht viel gemein zu haben scheint (ich kenne sie nicht, aber es gibt bei jpc Hörproben). Ambitionierter ist schon die "Sinfonie über zwei russische Themen" von 1834. Ein einsätziges Stück (ob noch mehr Sätze geplant waren, weiß nicht nicht), die Orchestration stammt von Wissarion Schebalin. Alle drei Stücke sind übrigens auf CD erhältlich. (Sehe gerade, dass sich dies teilweise mit dem Vorgängerbeitrag überschneidet.)

    Bei ASV gab es mal die Sinfonie c-moll op. 14 von Alexander Kopylow (1854–1911), entstanden 1888–90. Musikalisch in etwa das, was man erwarten würde: solide gearbeitet, eine Art Mischung aus Tschaikowski und nationaler Schule. Felix Blumenfeld (1863–1931) hat 1907 eine Sinfonie c-moll op. 39 mit dem Titel "Den geliebten Toten" komponiert, war auch mal auf CD zu haben. Alexander Goedicke (1877–1957) hat zwischen 1902 und 1922 drei Sinfonien komponiert, von denen die dritte auf einer Melodija-LP veröffentlicht wurde. Etwas bekannter ist sicherlich Sergei Ljapunow (1859–1924) mit zwei Sinfonien (1887, 1917). Wladimir Schtscherbatschow (1889–1952) hat seine erste Sinfonie 1913 komponiert, bis 1948 folgten vier weitere (die Fünfte gibt es auf CD, die monumentale Zweite bei Amazon als mp3). Maximilian Steinbergs (1883–1946) Sinfonien Nr. 1&2 gab es sogar mal bei DG; die Erste stammt aus den Jahren 1905/06, die Zweite entstand 1909. Leider sind seine drei weiteren, schon zu Sowjetzeiten entstandenen Sinfonien dann nicht mehr eingespielt worden. Ein weiterer teilweise noch präsowjetischer Sinfoniker ist Sergei Wassilenko (1872–1956); seine ersten beiden Sinfonien entstanden 1906 bzw. 1913, zu Sowjetzeiten noch drei weitere (bis 1947). Eingespielt wurde nur die Dritte, ein Werk für Volksorchester (Melodija-LP).

    Alexander Tanejew hat übrigens drei Sinfonien komponiert, entstanden zwischen 1890 und 1908. Auch Igor Strawinski sollte man nicht vergessen, seine frühe Es-Dur-Sinfonie entstand ja noch in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Die erste ukrainische Sinfonie stammt aus dem Jahre 1876: es handelt sich um Mychailo Kalatschewskyjs (1851–1910/12) "Ukrainische Sinfonie" a-moll, vielleicht eine Art Adaption von Mendelssohns Schottischer Sinfonie auf Ukrainisch, wenn ich mich gerade richtig erinnere (das Stück gab es auch mal auf LP). Außerdem wäre die Sinfonie g-moll op. 5 (1892) von Wolodymyr Sokalskyj (1863–1919) zu nennen, ebenfalls ein Ukrainer. Keine echte Sinfonie, aber eine "Sinfonie-Kantate" ist Stanislaw Ljudkewytschs (1879–1979) "Der Kaukasus" (1912/13) nach Worten von Taras Schewtschenko. Mir fällt auch noch der Lette Jāzeps Vītols (1863–1948) ein, der schon 1888 eine e-moll-Sinfonie komponierte. Ich glaube, die Partitur ist später verschwunden, aber noch zu Vītols' Lebzeiten hat sein Schüler Ādolfs Skulte (selbst ein ausgezeichneter Sinfoniker) die Sinfonie auf Basis des Klavierauszuges reorchestriert.

    Weißrussische Sinfonien vor 1917 gibt es m. E. nicht, genauso wenig kaukasische oder zentralasiatische Sinfonien. Gerade die Sinfonik aus den Kaukasus-Republiken und Zentralasien ist ein sowjetischen Phänomen, der Pionier war hier Aram Chatschaturjan mit seiner Ersten Sinfonie (1933/34). Dafür kam dann später umso mehr...

    Gut übrigens, dass es hier nicht um sowjetische Sinfonien geht, dann wäre der Arbeitsaufwand noch mal ganz immens höher (die Anzahl sowjetischer Sinfonien dürfte vermutlich im vierstelligen Bereich liegen!).

    Viele Grüße
    Holger

  • Zu dieser Liste möchte ich noch beitragen: Anton Stepanowitsch Arenski (1861-1906): Ich kenne zwei Symphonien in den 1880ern.

    Lucius Travinius Potellus
    Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety. (B.Franklin)

  • Sergei Michailowitsch Ljapunow (1859-1924):

    Symphonie Nr. 1 h-Moll op. 12 (1887)
    Symphonie Nr. 2 b-Moll op. 66 (1917)


    Cheerio,

    Lavinski :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Ich danke Tastenrabe, Thomas Knulp, Holger Sambale (wie erwartet hat er mich nicht enttäuscht :juhu: ) und den anderen für die Erweiterungen der Liste. Ich werde dem mit Vergügen nachgehen. Die erste Sinfonie von Anton Rubinstein, 1850, wie sie der Tastenrabe verortet, bringt mich etwas aus dem Konzept, aber ich werde dem dankbar nachgehen.

    Ansonsten gehe ich (experimentell) vorläufig weiter davon aus, das die Geburt der (aufführenswerten) russischen Sinfonie klassischer/romantischer Art (viersätzig, Wiener/Mannheimer Formschema) erst gegen 1860 stattgefunden hat.

    Und 1860 ist offensichtlich verdammt spät. Dass Russlands Komponisten Haydn, Mozart, auch Beethoven "verschlafen" hätten, wäre durchaus noch erklärbar. Aber auch Mendelssohn († 1847) und Schumann († 1856) ... !? Das ist schon eine sehr ernüchternde Feststellung....

    Andererseits... auch Alexander Puschkin, der als Vater des russischen Klassizismus, ja als Vater der russischen schöngeistigen Literatur überhaupt gilt, wurde erst 1799 geboren und hat somit eine Verspätung auf Goethe von ganzen 50 Jahren. (sogar 70 Jahre jünger als Lessing ist er).

    Sind die Russen eben einfach Spätentwickler? Ist das nicht auch eine schöne Erklärung dafür, dass Russen in der zweiten Hälfte des 20. JHs eben einfach noch Sinfonien schreiben konnten, weil sie eben noch etwas zu sagen / nachzuholen hatten, während der Westen mit diesem Genre (als Königsdisziplin) mehrheitlich einfach schon durch war?

    Das mein vorläufiger Erkenntnisgewinn für heute. Bleiben Fragen über Fragen. Hurra.

    :wink:

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Sind die Russen eben einfach Spätentwickler? Ist das nicht auch eine schöne Erklärung dafür, dass Russen in der zweiten Hälfte des 20. JHs eben einfach noch Sinfonien schreiben konnten, weil sie eben noch etwas zu sagen / nachzuholen hatten, während der Westen mit diesem Genre (als Königsdisziplin) mehrheitlich einfach schon durch war?


    Und ich werde mich dem mit Freuden anschließen und einmal in der Geschichte Russlands blättern ..... für Entwicklungsverschiebungen dieser Art muss es Gründe außerhalb der Musik geben - und sei es nur ein grundsätzliches Problem hinsichtlich der Überlieferung .....

    Als Anregung möchte ich hinzufügen, daß wir vielleicht einen Thread eröffnen könnten, in dem wir uns mit Werken und vorhandenen Aufnahmen beschäftigen ? (Zu Mahler, Beethoven, Tschaikovskij usw. gibt es so etwas ja erfreulicherweise schon ... ) Es wäre interessant, wichtig, lehrreich und - natürlich sollte es auch dies sein - erfreulich !

    lg

    tastenrabe

    http://schattenspiegelungen.wordpress.com/

  • Sind die Russen eben einfach Spätentwickler?

    Naja, solche Fragen sind immer Fragen der Vergleichsreferenz: Verglichen mit Skandinavien, kaum und verglichen mit den jungen Balkanstaaten, sind die Russen "früh" dran. :D

    Aber, klar, das 'deutsche' Symphonienmodell steht als Vorbild und ist insofern Referenz. Es wurde es auch, weil es in Deutschland und Österreich früher einen entwickelten bürgerlichen Konzertbetrieb, eine bürgerliche Öffentlichkeit und Nachfrage dafür gab, die nicht zufällig mit einer bürgerlichen Nationalbewegung, oder auf 'Kakanien' bezogen, Nationalbewegungen zusammenviel. Mit einerseits als Vorbild, andererseits in Absetzung zu Deutschland, entstehen Debatten um die Ausbildung einer 'nationalen Romantik' mit der Symphonie als ihrer höchsten Ausdrucksform, die einerseits allgemein sein soll, die 'deutsche' Symphonienform, andererseit irgendwie davon abgesetzt und national geprägt sein soll, auch in anderen Teilen Europas mit den Entstehungen eigener bürgerlicher Nationalbewegungen.

    Das verweist auf die sozialen und politischen Konjunkturen für Symphonien. In Rußland war eine bürgerlichen Nationalbewegung relativ schwächer, noch die Dekabristen hatten keine Chance. Ich kenne mich mit den russischen Musikdebatten dieser Zeit zu wenig aus, aber mindestens bei Moussorgsky spielt ja die Verarbeitung der Niederlage der Dekabristen eine Rolle, wohl auch in den Konflikten zwischen "Westlern" und "Slawophilen", die u.a. auch zwei konkurrierende Verarbeitungsformen dieser Niederlage darstellten. Symphonien als 'Ausdrucksform' einer 'nationalen Romantik' zu schreiben, setzte weiterhin vorraus, dass es zumindest als realistische Erwartung erschien, eine Verbreitung einer auch kulturellen Nationalbewegung damit Ausdruck geben zu können und zu dem Aufbau eines bürgerlichen Konzertbetriebs beitragen zu können.

    Sobald das 'in der Luft' liegt, studieren angehende Komponisten besonders in Deutschland, besonders oft in Leipzig, insofern spielen Schumann und Mendelssohn über ihre Schüler und Nachfolger dann wohl schon eine große Rolle.

    Gegenprobe: Italien. Die Nationalbewegung ist ähnlich alt und stark, wie in Deutschland, aber weniger eindeutig vor allem bürgerlich geprägt. Auch der Adel und einige Regionalfürsten springen früher auf sie auf, andererseits ist sie auch stärker plebeisch geprägt (Garibaldi). Die ideale kulturelle Ausdrucksform wird die Oper, die schon vorher in Italien eine klassenübergreiffende Anhängerschaft hat und die einzige kulturelle Gemeinsamkeit Italien ist, besonders die Opern Rossinis und dann Verdis. Verdi verfolgte dann seine Opernstrategie ganz bewußt auch als politische, nämlich als kulturelle Einheitsbewegung, wo es außerhalb der Oper nur venetische, sardische, ligurische, napolitanische, sizilianische usw. Volkskultur als Regionalkultur gab und erfindet, nach Rossinis implizitem Vorbild, eine Musiksprache, die aus diesen ganzen Volkskulturen, wie aus der europäischen 'Hochkultur' schöpft.

    Das italienische Opern-'Paradigma' wird ja dann zum teils konkurrierenden, überwiegend aber wohl eher ergänzenden Modell kultureller Nationalbewegungen in der Musik.

    Das ist natürlich erst einmal nur eine sehr holzschnittartige Skizze. So müßten die Entwicklungen in Frankreich und Polen noch einbezogen werden, die auch eine Rolle gespielt haben, an deren Beispielen sich 'spätere' kulturelle Nationalbewegungen in der Musik auch haben abarbeiten können, während die britische Entwicklung der 'kontinentalen' zu sehr anders war.

    :wink: Matthias

  • Noch ein anschließender Gedanke:

    Musik als 'Ausdrucksform' und Repräsentation einer nationalkulturellen Bewegung ist einerseits natürlich hochgradig imaginär. Denn ist nicht jede gute Musik nicht einfach allgemein, statt national?

    Andererseits muß da genug dran sein, dass diese Imaginationen funktionieren können, d.h. es müssen irgendwie regionale Besonderheiten eingebaut werden, und zwar solche regionalen Besonderheiten, die dann irgendwie als 'nationale' erscheinen können.

    :wink: Matthias

  • Danke Mathias, das finde ich wunderbar dargestellt!

    Auch die Frage, warum manche Nationen sich einfach nicht auf Sinfonien verlegt haben, am Beispiel Italiens...
    Vielleicht gibts wirklich Symphonie-affine Regionen? Die Zeit der Entstehung der Form ist ja auch eine, in der volkstümliche "tunes" Eingang in die klassische Musik gefunden haben, nur waren es da eben österreichische (oder Kakanische im weitesten Sinne...)...
    Ich behaupte mal ganz keck, daß die deutsch-österreichische Symphonik durchaus auch Züge der Entwicklung eines eigenen, "teutschen" Stils hatte in Abgrenzung gegen die Herrschaft des italienischen über die Oper Mitteleuropas, also schon so eine Art Vorläufer der verschiedenen Nationalromantiken war, nur doch noch etwas weniger abgegrenzt, im Selbstverständnis im Gefolge der Aufklärung "universeller"... Vielleicht tatsächlich "Nationalklassik? klingt echt schräg...
    Und wenn ich bei Rosen lese, wieviel der klassische symphonische Stil der Opera Buffa verdankt, wiederum in seiner Anverwandlung durch Mozart und Haydn, wirds wieder herrlich multikulturell. Nur, die Blüte der klassischen Instrumentalmusik ist schon auf deutschsprachigem Boden gewachsen, was ja auch mit einer international nicht so verbreiteten Sprache zu tun haben kann. Und da können natürlich "kleinere" Nationen ansetzen, deren Komponisten ja schließlich auch auf internationales Publikum angewiesen waren... Die klassisch-romantischen Formen der Instrumentalmusik (für die Nationalromantik waren auch symphonische Dichtungen und Konzertouvertüren sehr wichtig) eignen sich durch ihre internationale Verständlichkeit schon besonders für "nationale", "volkstümliche" Anverwandlungen..

    Zitat

    Musik als 'Ausdrucksform' und Repräsentation einer nationalkulturellen Bewegung ist einerseits natürlich hochgradig imaginär. Denn ist nicht jede gute Musik nicht einfach allgemein, statt national?


    Allgemein verständlich, würde ich sagen. D.h. sie muß auch funktionieren, wenn der Hörer die etwa verwendeten Volksmelodien nicht erkennt...
    Man könnte da mit Sinn eine Regel draus machen: gute Musik ist, wenn die nationalen Elemente so im Stil aufgehen, daß sie nicht nur "Farbflecken" sind...
    schon interessant, daß für uns ein Tschaikowsky, der ja vom "mächtigen Häuflein" als Westler abgelehnt wurde, immer noch ganz schön "russisch" "klingt".

    Zitat

    Andererseits muß da genug dran sein, dass diese Imaginationen funktionieren können, d.h. es müssen irgendwie regionale Besonderheiten eingebaut werde, und zwar solche regionalen Besonderheiten, die dann irgendwie als 'nationale' erscheinen können.

    Es müssen ja nicht mal Melodien sein, auch bestimmte Farben: man könnte sicher über Statistiken eine Häufung von ausdrucksvollen Fagottsoli in der russischen Symphonik ermitteln :D

    Spätentwickler gabs ja noch andere, die wirkliche Blüte der skandinavischen Symphonik muß man wohl auch etwas später ansetzen, oder?

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Es müssen ja nicht mal Melodien sein, auch bestimmte Farben: man könnte sicher über Statistiken eine Häufung von ausdrucksvollen Fagottsoli in der russischen Symphonik ermitteln :D


    Wobei ich mich eigentlich an eine Äußerung Sibelius' zu erinnern glaube, der das Fagott als ein ausgesprochen finnisches Instrument bezeichnete.

    Wenn wir schon mit Charakteristika anfangen: ich habe das Gefühl, schmelzende Klarinettensoli in langsamen Sätzen immer als sehr 'russisch' zu empfinden, in Symphonien oder Konzerten.

    Lucius Travinius Potellus
    Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety. (B.Franklin)

  • Der folgende Beitrag aus "Eben gehört" ist zu wichtig, um ihn dort verhungern zu lassen. Man beachte den link.


    :D Galynin hat gar keine Sinfonie geschrieben. Habe ich natürlich etwas schlampig formuliert.

    Aber noch mal zur Kernaussage: ich habe eben mal bei jpc das derzeitige Angebot von Melodija geprüft. Natürlich sind mittlerweile einige interessante Sachen dabei, die Galynin-CD ist ein Beispiel, und je nach Geschmack kann man sicher noch einige mehr nennen. Insgesamt scheint mir Melodija heutzutage aber leider tendenziell eher auf große Namen zu setzen (vgl. etwa die Dirigentenporträts), und das ist angesichts der Auswahl und Vielfalt des alten Schallplattenkataloges einfach mehr als schade.

    Einen kleinen Einblick kann man sich z. B. hier verschaffen:
    http://www.musicweb-international.com/Russian_Discog…Symphonies1.htm
    Ein Bekannter von mir hat dort eine Liste aller russischen und sowjetischen Sinfonien veröffentlicht, die mal auf Tonträger erschienen sind (nicht ganz vollständig, mindestens eine LP fehlt noch). Das ist wirklich sehr viel, und das allermeiste davon kenne ich. Natürlich ist nicht alles auf dem gleichen Niveau, aber vieles ist eben doch sehr hörenswert, und es ist bedauerlich, dass das heute im Wesentlichen vergessen ist.

    :wink:

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Der Vervollständigung halber wäre noch Sergei Sergejewitsch Prokofjew (1891-1953) zu erwähnen, dessen 1. Sinfonie D-dur op. 25 ("Symphonie classique") aus den Jahren 1916 bis 1917 stammt, wenngleich sie erst im Folgejahr uraufgeführt wurde.
    Drei unpublizierte "Vorläuferwerke" lasse ich jetzt einmal unerwähnt.

    Für Nikolai Andrejewitsch Roslawez (1881-1944) erwähnt die deutsche Wikipedia eine Symphonie c-Moll aus dem Jahr 1910 (erstmals hrsg. von M. Lobanova; Kompositor International 51585). Eine Schallplatteneinspielung ist mir nicht bekannt.


    Interessant ist sicherlich auch die Liste derjenigen Komponisten, die keine Sinfonien hinterlassen haben.
    Dieser möchte ich noch
    Alexander Sergejewitsch Dargomyschski (1813-1869) hinzufügen, der eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entwicklung einer originär russischen Tonsprache gehabt haben dürfte.

    LG, Kermit

    Es ist vielfach leichter, eine Stecknadel in einem Heuhaufen zu finden, als einen Heuhaufen in einer Stecknadel.

  • Möglicherweise schon genannt:

    Strawinski 1. Sinfonie
    Rachmaninow Jugendsinfonie

    :wink: maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

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