Ivo Pogorelich – mehr Provokateur oder mehr Genie am Klavier?

  • Natürlich kommt es vor, dass Zweitplatzierte später die größere Karriere machen als die Gewinner.

    Ich würde es etwas anders formulieren: Das Erringen eines Zweiten Preises und auch eines Dritten Preises beim Chopin-Wettbewerb oder beim Tschaikowsky-Wettbewerb ist eine solch großartige Leistung, dass auch diesen Pianist(inn)en die große Karriere offen stehen sollte. Jedenfalls ich interesse mich immer auch für die Künstler, die "nur" Silber oder Bronze gewonnen haben.

    Daniil Trifonov erreichte beim Chopin-Wettbewerb 2010 "nur" den 3. Preis, wurde dann aber ein Jahr später beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2011 Wettbewerbssieger. Umgekehrt Seong-Jin Cho: "Nur" 3. Preis beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2011, dann aber vier Jahre später Wettbewerbssieger beim Chopin-Wettbewerb 2015. Allein diese beiden Beispiele zeigen, wieviel künstlerische Qualität in einem Wettbewerbsdritten stecken kann.

    Unter den Gewinnern des Zweiten Preises dieser Wettbewerbe finden sich Hochkaräter wie Vladimir Ashkenazy (Chopin-Wettbewerb 1955), Horacio Gutiérrez (Tschaikowsky-Wettbewerb 1970) oder Nikolai Luganski (Tschaikowsky-Wettbewerb 1994; ein Erster Preis wurde nicht vergeben), unter den Gewinnern des Dritten Preises eine meiner Lieblings-Pianistinnen, nämlich Gabriela Montero (Chopin-Wettbewerb 1995; ein Erster Preis wurde nicht vergeben).

    Aber Pogorelich war nicht Zweitplatzierter sondern er schied im Halbfinale aus.

    Das kann nicht oft genug betont werden. Pogorelich war nicht einmal Viertplatzierter wie z.B. Lucas Debargue beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2015 oder Fünftplatzierter wie z.B. Jean-Marc Luisada beim Chopin-Wettbewerb 1985, sondern er wurde im Halbfinale aussortiert. Stahl allen Gewinnern des Wettbewerbs aber gerade dadurch die Schau.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Ist es richtig, dass Pogorelich der Ältere nicht mehr ganz mit Pogorelich dem Jüngeren verglichen werden kann?

    Ich habe bei weitem nicht alles verfolgt, was er in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgenommen hat, und im Konzert habe ich ihn überhaupt nur einmal so ungefähr Mitte der 80er Jahre gehört. Deine Frage kann ich deshalb nicht wirklich beantworten. Was allerdings bei mir von vornherein zu Irritation geführt hat, die bis heute anhält, ist diese kalkulierte Künstlichkeit seines Spiels. Er wendet Mittel an, die mit "Ausdruck" assoziiert sind, also sowas wie starkes Rubato, harte Kontraste, extreme Tempi und Dynamik usw., aber gerade dadurch wirkt die Distanz zu seinem über weite Strecken kühlen und distanzierten, kopfgesteuerten und kalkulierten Spiel umso größer. Ich gebe zu, dass das stellenweise von eigenartiger Faszination ist, aber auf die Dauer ist mir das alles zu eisig und einsam. Diese Art der inneren Distanz passt naturgemäß am besten zu Ravel, und die Aufnahme von Gaspard de la nuit finde ich wirklich außerordentlich gelungen. Am wenigsten passt es hingegen bei Mozart. Sowas wie das grauenvoll verkitschte Thema aus dem Kopfsatz der A-Dur-Sonate offenbart hinter der geschmacklosen Oberfläche eine erschreckende innere Leere, an der ich nicht teilhaben möchte.

    Mich würde noch interessieren: Welchen Musikern ist es denn ähnlich wie Dang Thai Son ergangen?

    Die Preisträgerlisten der größten Wettbewerbe sind voller Namen (darunter übrigens auch solche aus dem Musikland Deutschland), die danach kaum Karrierechancen bekommen haben, während andere, die im direkten Vergleich weit abfallen würden, aus irgendwelchen (und jedenfalls nicht musikalischen) Gründen bevorzugt wurden. Ich fände es unangemessen, hier jetzt einzelne Namen stellvertretend zu nennen.

  • Das Erringen eines Zweiten Preises und auch eines Dritten Preises beim Chopin-Wettbewerb oder beim Tschaikowsky-Wettbewerb ist eine solch großartige Leistung, dass auch diesen Pianisten die große Karriere offen stehen sollte.

    Da stimme ich Dir absolut zu. Auch in Brüssel ist schon das Erreichen des Finales der letzten zwölf eine immense Leistung. In diesem Finale müssen die Teilnehmer dann u.a. ein traditionell extrem schweres Pflichtstück spielen, welches sie zuvor in einer Woche in völliger Abgeschiedenheit, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne Handy und ohne Internet in der Chapelle Musicale einstudiert haben. Das grenzt für mich schon an Psychoterror, und jeder, der das unbeschadet übersteht, hat meine große Bewunderung.

  • Am wenigsten passt es hingegen bei Mozart. So was wie das grauenvoll verkitschte Thema aus dem Kopfsatz der A-Dur-Sonate offenbart hinter der geschmacklosen Oberfläche eine erschreckende innere Leere, an der ich nicht teilhaben möchte.

    Ich erinnere mich an das erste Konzert, welches ich mit Pogorelich erlebt habe: Bei dem ersten Programm spielte er Beethoven, Chopin und Schumann. Bei Beethoven fand ich damals sein Spiel am wenigsten passend: Es war eine Sonate aus Opus 31. Extreme Tempgestaltungen, ich erinnere mich an einen Satz bei dem ich das Gefühl hatte, er zerfiele regelrecht in seine Einzelteile. Sehr überzeugend fand ich Chopin (eines der Scherzi) und Schumanns Symphonische Etüden. Das war Mitte der 90er. Bei dem zweiten Konzert (Ich meine 2008?) hatte ich die Neigung zu Extremen noch verstärkt.

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Ich kenne seine Liszt Sonate h-moll. Ich fand sie beim ersten Hören vor einiger Zeit sehr gut, und ich kannte die Sonate zu dem Zeitpunkt auch schon besser. Damals ist mir aber auch sofort aufgefallen, dass einige Stellen exzentrisch klingen. Ich habe sie mir eben gerade nochmal ganz angehört und der erste Eindruck hat sich bestätigt.

    Die Exzentrizität manifestiert sich für meine Ohren hauptsächlich auf eine Art und Weise und das ist in einem übertriebenen und sehr trockenen Staccatospiel, ohne Pedal, an Stellen, wo es für mich nicht hinpasst. Es kann leises Staccato oder auch lautes sein. Und manchmal zu stark betont. Ich finde nicht, dass es absolut unpassend ist, nur eben übertrieben. Dies geht mir dann auf die Nerven, wenn es an ähnlichen Stellen immer wieder so kommt.
    Andereseits finde ich in dieser Version vieles sehr gelungen, zb die leisen gesanglichen Stellen. Ich finde diese nicht künstlich auf Effekt getrimmt, sondern ernsthaft empfunden. Der Trümmerfaktor ist auch sehr hoch, im positiven Sinne;, also der Flügel wird ordentlich verdroschen, wenn er es liszt-mässig verdient hat.
    Technisch ist das Spiel sehr gut, meine ich.

    All considered, bin ich nicht so ganz überzeugt.

  • Die Preisträgerlisten der größten Wettbewerbe sind voller Namen (darunter übrigens auch solche aus dem Musikland Deutschland), die danach kaum Karrierechancen bekommen haben, während andere, die im direkten Vergleich weit abfallen würden, aus irgendwelchen (und jedenfalls nicht musikalischen) Gründen bevorzugt wurden. Ich fände es unangemessen, hier jetzt einzelne Namen stellvertretend zu nennen.

    Alles klar, danke für die Antwort!

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Er wendet Mittel an, die mit "Ausdruck" assoziiert sind, also sowas wie starkes Rubato, harte Kontraste, extreme Tempi und Dynamik usw., aber gerade dadurch wirkt die Distanz zu seinem über weite Strecken kühlen und distanzierten, kopfgesteuerten und kalkulierten Spiel umso größer. Ich gebe zu, dass das stellenweise von eigenartiger Faszination ist, aber auf die Dauer ist mir das alles zu eisig und einsam. Diese Art der inneren Distanz passt naturgemäß am besten zu Ravel, und die Aufnahme von Gaspard de la nuit finde ich wirklich außerordentlich gelungen. Am wenigsten passt es hingegen bei Mozart. So was wie das grauenvoll verkitschte Thema aus dem Kopfsatz der A-Dur-Sonate offenbart hinter der geschmacklosen Oberfläche eine erschreckende innere Leere, an der ich nicht teilhaben möchte.

    Zitat von andréjo

    Bei der Prokofieff-Sonate bin ich mir weniger sicher: Sie wird sehr eigen interpretiert, was keinesfalls schlecht sein dürfte, aber dieses merkwürdig Verhuscht-Zerhackte, eher nicht Kraftvolle ... ... doch eine Alternative auf jeden Fall ...


    Zu Deiner Charakterisierung passt die Prokofieff-Sechste, so wie ich sie höre, eigentlich bestens. Was Rosamunde schreibt über sein trockenes Staccatospiel, geht ebenso in diese Richtung.

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, bei seinem Hamburg-Debüt kurz nach dem 1980er Chopin-Wettbewerb, bei welchem ihn die Juroren schon früh aussortierten, in einer der vorderen Reihen zu sitzen. Und war fassungslos, welch eine Karrikatur einer Interpretation des 2. Chopin-Klavierkonzerts ich damals mit anhören musste.

    Na, da waren wir ja im gleichen Konzert. An den einsamen Buhrufer kann ich mich aber nicht mehr erinnern. :D
    Ich habe das Konzert damals gut gefunden, das war allerdings in der Anfangszeit meiner Klassikbegeisterung und da fehlte sicher der Vergleich. Aber meine Klavier spielende Begleiterin war auch angetan.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Na, da waren wir ja im gleichen Konzert.

    Ich war wie üblich in dem Konzert am Montag abend um 20.00 Uhr. Wenn Du in dem Konzert am Sonntag morgen um 11.00 Uhr warst, haben wir zwei unterschiedliche Aufführungen gesehen.

    Das Chopin-Klavierkonzert Nr. 2, gespielt im Jahr 1981 von Ivo Pogorelich mit dem Slowenischen Sinfonieorchester RTV unter der Leitung von Marko Munih, findet sich hier:
    https://www.youtube.com/watch?v=7R9HOkB2cK0

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!