Brahms, Johannes: Klavierkonzerte Nr.1 und 2

  • Kennt jemand eine Einspielung mit einem Kopfsatz von (deutlich) unter 20 min? Horowitz? Ich besitze keine und habe meine nicht in letzter Zeit verglichen.

    Aber die verbreiteten "zügigen" Aufnahmen liegen meist bei ca. 21 min. Gould/Bernstein benötigen beinahe 26, aber Gilels/Jochum oder Buchbinder/Harnoncourt auch über 24. Da sind natürlich Schwankungen der einzelnen Abschnitte gar nicht berücksichtigt, aber mir scheint das kein allzu extremes Spektrum für einen solch langen Satz. Das ist bei ähnlichen Sätzen von Beethoven (Kopfsätze der 3. und 9. und viele langsame Sätze, bei den adagios aus op.106, op.125 oder 132 geht das mitunter bis zu einem Faktor 2, nicht 0,25 wie hier), Schubert (späte Sonaten) oder Bruckner ja nicht anders.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Es gibt zwei Aufnahmen von Brahms' 1. Klavierkonzert mit Wilhelm Backhaus, wo er für den Kopfsatz jeweils weniger als 20 Minuten braucht. Allerdings liegt er nicht gerade deutlich unter der 20-Minutenmarke, wobei die meisten anderen Interpreten aber wirklich mindestens 20 Minuten und mehr brauchen.

    1. Aufnahme von 1932:

    Spielzeiten: 1. Satz: 19:10, 2. Satz: 12:46, 3. Satz: 10:53

    2. Aufnahme von 1953:

    Spielzeiten: 1. Satz: 19:36, 2. Satz: 12:40, 3. Satz: 11:24

    Beide Aufnahmen kenne ich nicht aber man kann sie sich bei simfy komplett anhören.

    Lionel

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Der Mitschnitt mit Horowitz/Bruno Walter (Amsterdam 1935) ist leider nur verstümmelt auf Youtube zugänglich, deshalb kann ich hier auch keine Gesamtspielzeit angeben (Music Lover hatte die CD aber in "Eben gehört" abgebildet und kann sicher weiterhelfen). Allerdings verwirklicht hier Bruno Walter in der Orchesterexposition ziemlich exakt die Metronomangabe des Brahms'chen Manuskripts (58 punktierte Viertel). Bis kurz vor Ende der Exposition ist der Mitschnitt bei Youtube ungekürzt: beim Einsatz des Klaviers wird sehr stark abgebremst, bei der Rückkehr zum Hauptthemenkomplexes kehren auch Walter und Horowitz wieder zum Grundtempo zurück. Ebenso wird innerhalb des Seitenthemenkomplexes das Tempo mehrfach modifiziert. Hat mich sehr angesprochen, leider gibt es dann (bei Youtube) einen brutalen Cut bis zum Ende der Durchführung.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Hallo zusammen!!

    Oh ja - die Brahms'schen Konzerte sind, und das Erste ist ganz besonders, meine großen Favoriten unter den Klavierkonzerten. Kennengelernt habe ich sie mit Gilels/ Jochum - für mich eine recht gute Arbeit auf allen Ebenen, allerdings mit einer gewissen Kühle.
    Mehr dem dichterischen zugewandt - und auch schwerer und voller im Gesamtklang - scheinen mir Arrau/ Guilini das ganze anzugehen. Diese Aufnahme mag ich sehr. Man muß nicht mit der epischen Auffassung einverstanden sein, um diese Leistung genießen und schätzen zu können ;+) (Anmerkung zur Metronomdiskussion).

    Live gehört habe ich den immer etwas umstrittenen Alexis Weissenberg - trotzdem erwähnenswert, weil er einen persönlichen Stil hat, der sich in vielem von der breiten Masse heraushebt. Ich mag sein Spiel immer wieder gerne hören.

    Die Liste ist lang ......

    Hélène Grimaud - recht emotional. Leider läßt diese Aufnahme an Klangqualität zu wünschen übrig.

    In Bezug auf das Zweite hätte ich noch eine Aufnahme, die mir wegen der herben Romantik gut gefällt. Da könnte ich mir auch vorstellen, daß da Brahms spielt ... ;+) ...

    (ich habe hier leider nur das Zweite auf LP)

    lg

    tastenrabe

  • Der Mitschnitt mit Horowitz/Bruno Walter (Amsterdam 1935) ist leider nur verstümmelt auf Youtube zugänglich, deshalb kann ich hier auch keine Gesamtspielzeit angeben (Music Lover hatte die CD aber in "Eben gehört" abgebildet und kann sicher weiterhelfen). (...)
    leider gibt es dann (bei Youtube) einen brutalen Cut bis zum Ende der Durchführung.

    Lieber Bernd,
    wie ich im Posting #2 dieses Threads bereits schrieb, fehlen auch auf der Archipel-CD mit diesem Amsterdamer Mitschnitt vom 20. Februar 1936 ca. 5 Minuten aus der Durchführung des ersten Satzes. Es handelt sich also nicht um ein youTube-Problem, sondern diese 5 Minuten sind leider nicht überliefert.

    Den vermeintlichen Mangel, dass Leinsdorfs Orchesterbegleitung nicht so dramatisch oder gar harmlos sein soll, kann ich nicht nachvollziehen. Mag sein, dass er aufgrund des kurzfristigen Einspringens für den erkrankten Fritz Reiner nicht die Vorbereitungszeit hatte, die er normalerweise zur Verfügung gehabt hätte aber Leinsdorf war ja kein "Greenhorn", der nur ein Pflichtprogramm abspulte.

    Lieber Lionel,
    Ich bin, was Erich Leinsdorfs Dirigat bei der berühmten Studioaufnahme des Klavierkonzerts Nr. 2, die für RCA am 17. und 18. Oktober 1960 mit Richter entstand, ebenso wie Du keineswegs der Meinung, dass es hier irgendetwas zu bemängeln gibt. Möglicherweise bin ich auch ein wenig befangen, denn das erste Werk, das ich überhaupt jemals in meinem Leben in einem Konzertsaal gehört habe, war das Klavierkonzert Nr. 2 von Brahms - es dirigierte damals Erich Leinsdorf (und zwar das Boston Symphony Orchestra, Solist war André Watts). Mit ihm habe ich also das Werk "live" kennengelernt und mit ihm habe ich es auch auf Schallplatte in meiner Kindheit und Jugend verinnerlicht. Vielleicht bin ich daher nicht ganz "objektiv". Gerne zitiere ich aber, was Richter selbst von dieser Aufnahme hielt: nämlich gar nichts. Das muss man bei Richter aber immer alles mit größter Vorsicht zur Kenntnis nehmen, denn er fand eigentlich alles grauenhaft, was es an Aufnahmen von ihm gab (selbst wenn sie noch so großartigen Anklang beim Publikum fanden), war fast schon pathologisch selbstkritisch und war daher ebenfalls nicht ganz "objektiv". Richter schreibt über diese Einspielung: "Eine meiner schlechtesten Aufnahmen, obwohl die Leute sie in den Himmel loben. Ich kann sie nicht ertragen". Er begründet dies mit dem von Leinsdorf gewählten Tempo, welches ihm viel zu schnell war: "A tempo di Allegretto! Aber Leinsdorf nahm es als ein Allegro, drängte ständig voran" (Quelle: Karl Aage Rasmussen, "Sviatoslav Richter - pianist", 2010, S. 163).

    Da neben der Studioeinspielung mit Richter/Leinsdorf aber auch zahlreiche Live-Mitschnitte des Klavierkonzerts Nr. 2 mit Richter und anderen Dirigenten erhältlich sind, kann der an Richters Interpretation Interessierte auf Alternativen zurückgreifen. In meiner Sammlung habe ich folgende Live-Mitschnitte mit den Dirigenten Sir John Barbirolli, Charles Munch, George Georgescu, Kurt Sanderling:
         [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/51ySvKt6BcL._SS400_.jpg]
    Es gibt auch noch eine weitere Studioeinspielung (die ich allerdings nicht besitze), und zwar mit Lorin Maazel und dem Orchestre de Paris

    Enthalten übrigens auch in der "Icon"-Box von EMI

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Gestern fand man in der Rheinischen Post einige bedenkenswerte Bemerkungen von Wolfram Goertz zu der Gould/Bernstein-Einspielung des 1. Klavierkonzertes. Im Zusammenhang von Amnimositäten unter Klassik-Stars weist Goertz (ausgehend von dem Konflikt Grimaud/Abbado) auf Gegenbeispiele hin:

    Zitat

    Wie es wundervvoll gehen kann, zeigte ein New Yorker Konzert vom 6. April 1962. Damals betrat der Dirigent Leonard Bernstein die Bühne und ließ alle per Mikrophon wissen, eigentlich sei er in der Carnegie Hall fehl am Platz, denn gleich werde der exzentrische Kanadier Glenn Gould das Klavierkonzert d-moll von Brahms gegen den Strich bürsten. Es gebe heftige Differenzen zwischen Dirigent und Solist. Gleichwohl sei Gould, sagte Bernstein, ein derart seriöser Musiker mit einer so interessanten Konzeption, dass gerade das Unorthodoxe die kuriosesten, sportlichsten, erfrischendsten Kräfte freisetzen könne. Eskönne ein Ereignis werden. deswegen werde er, Bernstein, nun dirigieren.

    Es gab eine der langsamsten Aufführungen des Werks. Goulds absichtsvoll zarter Blick aufs Werk ließ ffast kriminelle Energie vermuten. Andererseits erzeugte das gedrosselte Tempo einen Kräftestau, der erregender klang als der übliche Schwung. Weil er das ertragen konnte, gelang Bernstein am Pult der New Yorker Philharmoniker mehr als nur das spannendste Remis der Interpretationsgeschichte. Ihm gelang der Sieg der Demut.

    (Rheinische Post vom 17.11.2011)

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Ich habe Fleisher/Szell/Cleveland und Gilels/Jochum/BPO (DGG). Bin sehr zufrieden damit. mehr brauche ich nicht.

    Hey, das hätte von mir sein können! Einige Aufnahmen habe ich zwar außerdem, die finde ich aber im Vergleich weniger gelungen. Nur ist es mit Brahms Klavierkonzerten bei mir in etwa so wie mit Beethovens Sinfonie Nr. 5: Die mag ich nur noch live hören. Heiß geliebt habe ich die Konzerte früher und sehr, sehr oft gehört. Jetzt ist es seit längerer Zeit genug (merkwürdigerweise geht es mir mit Brahms' Violinkonzert anders). Rittner habe ich übrigens auch auszugsweise im Radio gehört, fand ich klasse und hätte ich um ein Haar gekauft, weil ja doch ein deutlich anderer Interpretationsansatz.

  • Zitat von »Gerhard«
    Ich habe Fleisher/Szell/Cleveland und Gilels/Jochum/BPO (DGG). Bin sehr zufrieden damit. mehr brauche ich nicht.


    Hey, das hätte von mir sein können!


    Diese Übereinstimmung freut mich!

    Herzliche Grüsse

    Gerhard

  • Wahrscheinlich schlägt jetzt die Brahms-Gemeinde die Hände über dem Kopf zusammen, aber dies ist meine favorisierte Aufnahme des ersten Klavierkonzertes von Brahms:

    Vielleicht ist es ja die Tatsache, dass das die erste Aufnahme ist, die mir ehedem von diesem Stück untergekommen ist. Vielleicht ist das aber auch nicht so. Vielleicht handelt es sich ja auch um eine ganz brauchbare Interpretation. Ich für meinen Teil bin davon sogar einigermaßen überzeugt. "You need balls to play Brahms" hieß es vor Ewigkeiten in einer Kritik des Gramophone - doch das scheint mir, hört man diese Einspielung, nicht unbedingt der Fall zu sein. Natürlich: Will man Dauerdruck wie bei Fleisher/Szell, den ich als Ansatz (im Gegensatz zu Serkin/Szell im Übrigen) unsäglich enttäuschend fand (eventuell, weil ich sie erst spät und nach vielen anderen kennengelernt habe?), so ist man hier sicher falsch. Leonskaja und Inbal (dessen Dirigat mich hier tatsächlich einmal rundum erfreut) zeichnen einen insgesamt eher melancholischen Brahms, eine Musik, der das Wütende sicher nicht fremd ist, die aber (so schreibt es der Tastenrabe weiter oben im Zusammenhang mit Arraus Einspielung) eher das Dicherische fokussiert, wenn man das denn so sagen kann. Ich höre in Leonskajas Brahms (vielleicht zu unrecht?) noch eine Menge Schumannsche Romantik heraus und das spricht mich durchweg an. Das geht schon mit dem Einsatz des Klavieres im Kopfsatz los. Das ist schwebend, wie aus dem nichts kommend, zwei Mal mit einer minimalen Verzögerung vor der nächsten Eins, die dem Motiv etwas ausgesprochen Sehnsuchtsvolles verleiht. Und eben dieses Element halten die Interpreten den Kopfsatz hindurch gemeinsam durch, auch in der Gestaltung des zweiten Themas, nicht nur in der Vorstellung durch das Klavier, sondern beispielsweise auch, wenn das Horn in Takt 201 das "Halali" wirklich marcato ma dolce aufgreift. Großartig gelingen auch solche Stellen wie 255 ff, die hier ausgesprochen geheimnisvoll und zwielichtig wirken. Und und und. Aber auch das Wuchtige kommt nicht zu kurz, sei es in 244 ff, in den accellerierenden Takten vor der herrlichen leggiero-Stelle in 287 oder in den Fortissimo-Takten vor der Reprise. Ich kann mich daran kaum satt hören.

    :wink: Agravain

  • Da mir eine HIP-Aufnahme von Brahms´ erstem Konzert noch fehlt, und ich Hardy Ritters Brahms Aufnahmen für Soloklavier sehr schätze, habe ich mir die oben erwähnte Aufnahme gerade bestellt ;+)

    Grundsätzlich höre ich beide Konzerte gerne - die Gattungsfrage ist dabei für mich völlig nebensächlich: ob Klavierkonzert oder Symphonie mit obligatem Klavier? Das ist nun wirklich keine Frage von Belang. Sehr schätze ich den ersten Satz des d-moll-Konzerts.

    :wink: :wink:

    Christian


    Ich habe diese CD zu Weihnachten bekommen und kann mich gern einmal unqualifiziert äußern. Mit ging es beim Hören so, wie vor vielen Jahren, als ich die 6. von Beethoven mit reichlich Karajan - Solti - Bernstein-Erfahrung zum ersten mal mit der Hanover Band unter Roy Goodman gehört habe: ein anderes Klangbild, das sich von meinen bisherigen Aufnahmen deutlich abhebt und mir ganz neu die Ohren geöffnet hat. Ich weiß: "das habe ich so noch nie gehört" ist ein beliebtes Klischee, aber jedes Klischee enthält auch einen Hauch Wahrheit. Genau so erging es mir.

    Gebannt habe ich das ganze Konzert gehört, ein spannender Dialog zwischen dem brillianten Pianisten und einem pointiert und farbig spielen Orchester, das zwar weniger Volumen hat als ein großes Sinfonieorchester, in dem aber viel mehr Klangfarben zu hören sind und das sehr dynamisch, packend und mitreißend spielt. Bis zum furiosen Abschluss des Konzertes (Pauke!) eine Aufnahme, die mich mitgerissen und begeistert hat und die ich in den letzten Tagen häufig gehört habe.

    In einer Rezension habe ich es so formuliert gefunden:


    Zitat

    Überraschend anders als gewohnt klingt aber auch Brahms, wenn er auf einem Pariser Erard-Flügel aus dem Jahr 1854 gespielt wird. Zur Verfügung gestellt vom Berliner Piano Salon Christophori und ergänzt durch ein Orchester, das ebenfalls Originalinstrumente umfasst, nimmt der Flügel alle Schwere aus dem monumentalen Werk. Luftiger, schillernder und beweglicher sind die Solopassagen, kompakt und voller Charaktere erscheint der Orchesterklang.

    Das scheint mir zutreffend.

    Mir gefällt diese Aufnahme sehr gut. Aber das besagt nicht viel. Ich höre die Sinfonien von Brahms schon seit langem am liesbten in den Einspielungen des Scottish Chamber Orchestra unter Leitung von Charles Mackerras.

    Ich denke, das Schreiben dieses Beitrages ist für mich ein guter Anlass, diese erfrischende Interpretation wieder aufzulegen ...

    Beste Grüße von Ansgar

  • Ich kenne diese Neuaufnahme nicht, aber bei allem Respekt für den zitierten Rezensenten werde ich doch stutzig, wenn positiv bewertet wird, dass "alle Schwere aus dem monumentalen Werk" genommen würde.
    Das Konzert, besonders der Kopfsatz ist nun eben nicht nur zu seiner Entstehungszeit von ungeahnter gewichtiger Monumentalität gewesen; der Kopfsatz scheint die bis damals mit Abstand monumentalste Sinfonie, Beethovens 9,. als Ausgangspunkt zu nehmen. Sondern selbst im der Gesellschaft späterer Brocken wie Reger, Rachmaninoff oder Prokofieff ist es zweifellos auch heute noch ein offensichtlich auf Monumentalität und "Schwere" angelegtes Stück. Bei Konzerten Mozarts, vielleicht auch Beethovens oder Chopins könnte man vielleicht streiten, ob die nicht (teilweise) zu gewichtig interpretiert wurden. Bei Brahms 1 finde ich das ziemlich unplausibel...

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ich kenne diese Neuaufnahme nicht, aber bei allem Respekt für den zitierten Rezensenten werde ich doch stutzig, wenn positiv bewertet wird, dass "alle Schwere aus dem monumentalen Werk" genommen würde.

    Ich kenne die Aufnahme inzwischen ganz gut und muss ehrlich sagen, dass ich die Feststellung, dass dem Werk »alle Schwere« genommen würde mindestens irreführend, wenn nicht falsch finde. In meinen Ohren gelingt es den Ausführenden ganz famos, das Klavierkonzert - etwa die massive Einleitung des Maestoso-Satzes - transparent im Klang und gewichtig im Ausdruck zu gestalten. Wenn das Werk hier von etwas befreit wird, dann nicht von der ihm eigene Schwere, sondern von einer vielen Einspielungen (zumindest vielen mir bekannten) eigenen Schwerfälligkeit. Gewichtigkeit ohne Übergewicht, das ist es was Rittner und co hier bieten. ;+)

    Der von Rittner verwendete Erard-Flügel klingt auch keineswegs schmalbrüstig (ist ja kein Waltergerät aus 1795 ...). Klar ist das Instrument ziemlich obertonreich und klingt in den Höhen brilliant bis spitz, es hat aber durchaus Volumen und kann auch ordentlich donnern.

    Die Streicher sind verglichen mit einem üblichen Symphonieorchester zwar klein besetzt (8 Erste Violinen, 7 Zweite Violinen, 5 Bratschen, 4 Celli, 3 Bässe), in meinen Ohren führt das aber keineswegs zu einem dünnen Klangbild oder so.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Ich kenne diese Neuaufnahme nicht, aber bei allem Respekt für den zitierten Rezensenten werde ich doch stutzig, wenn positiv bewertet wird, dass "alle Schwere aus dem monumentalen Werk" genommen würde.

    Genauso ging es mir auch, ich bin nur schon müde geworden, gegen diesen modernen Schlankheitswahn immer wieder anzuschreiben. Ich kann z.B. in der Süddeutschen kaum noch die Besprechung einer beliebigen orchestralen Neuaufnahme zwischen Bach und Mahler lesen, in der nicht entweder auf die "Schlankheit" lobend hingewiesen oder ihr Fehlen beklagt wird. Je nach Komponist wird das gern mit zusätzlichen Adjektiven wie "ironisch" (Schostakowitsch), "gebrochen" (Mahler) oder - der größte Rezensenten-Renner - "unpathetisch" (Beethoven) unterfüttert. Da wird allen Ernstes gelobt, dass eine Neuaufnahme der Beethoven-Symphonien "ohne ein Gran Pathos" sei - wenn das wahr ist, kann ich die Aufnahme nur für eine Fehlinterpretation halten. "Schlankheit" wird, nicht anders als in der Mode, als Wert an sich betrachtet, "Pathos" grundsätzlich als Unwert. Irgendwie beneidenswert, wenn man mit einem derart simplen Weltbild zwischen gut und böse unterscheiden kann ;+) .


    Viele Grüße,

    Christian

  • Ich kann z.B. in der Süddeutschen kaum noch die Besprechung einer beliebigen orchestralen Neuaufnahme zwischen Bach und Mahler lesen, in der nicht entweder auf die "Schlankheit" lobend hingewiesen oder ihr Fehlen beklagt wird.


    Ich stimme völlig zu, zumal ich selber nicht schlank bin.

    Diese Worthülsen wie "schlackenlos", "ohne Schwulst" usw. sind völlig nichtssagend und austauschbar. Aber auch hier steckt in jedem Klischee ein Körnchen Wahrheit. Hilfreich und weiterführend ist, was Algabal schreibt:


    Zitat

    Wenn das Werk hier von etwas befreit wird, dann nicht von der ihm eigene Schwere, sondern von einer vielen Einspielungen (zumindest vielen mir bekannten) eigenen Schwerfälligkeit. Gewichtigkeit ohne Übergewicht, das ist es was Rittner und co hier bieten.


    Genau so ist es. In der hier diskutierten Einspielung wird das Klavierkonzert sehr kraftvoll und mächtig zu Gehör gebracht. Einfach mal reinhören, ist nur halb so schlimm! ;+)

    Schöne Grüße, Ansgar

  • Eine Aufnahme des ersten Klavierkonzerts, die mich überzeugt, ist diese:

    Sie stammt aus dem Herbst 1989, einer bekanntlich bewegten Zeit in Prag. Der erste Satz dauert 21'49'' und ist in meinen Ohren "Maestoso" genug. Moravec hat Autorität aber auch Poesie und ich mag das Zusammenspiel Klavier/Orchester. Die Art, wie Moravec im Adagio sein Klavier beinahe in ein Orchester verwandelt, finde ich gar magisch. Und dazu braucht er kein Érard ;-).

    Ich habe nicht soviele Vergleichseinspielungen (Arrau/Giulini irgendwo ...) aber, wenn ich mir Brahms I gönnen will, dann diese ...

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Ich kann z.B. in der Süddeutschen kaum noch die Besprechung einer beliebigen orchestralen Neuaufnahme zwischen Bach und Mahler lesen, in der nicht entweder auf die "Schlankheit" lobend hingewiesen oder ihr Fehlen beklagt wird. Je nach Komponist wird das gern mit zusätzlichen Adjektiven wie "ironisch" (Schostakowitsch), "gebrochen" (Mahler) oder - der größte Rezensenten-Renner - "unpathetisch" (Beethoven) unterfüttert

    Das höchste Lob für die Darbietung eines großbesetzten Orchesterwerkes: "kammermusikalisch"...

    Falstaff

  • Das höchste Lob für die Darbietung eines großbesetzten Orchesterwerkes: "kammermusikalisch"...

    Das kann man doch als Lob verstehen für ein großes Orchester, das ein transparentes Klangbild anbietet. Bruno Walter oder Josef Krips fallen mir ein, die einen (in meinem Verständnis) kammermusikalischen Ton realisieren konnten: dynamisch, klar ... wo er nötig war. Und das hatte nichts mit Anämie zu tun.

    Ich warte aber mit Spannung auf eine kammermusikalisch schlanke, unpathetische Darbietung von Mahlers 8ten ;)

    Und um auf das Thema des Threads zurückzukommen, meinen Brahms mag ich auch gerne mit etwas Fleisch auf den Rippen ...

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Das kann man doch als Lob verstehen für ein großes Orchester, das ein transparentes Klangbild anbietet.


    Schon klar. Ich wollte nicht bestimmte Orchesterspielweisen bewerten, sondern bezog mich auf die Schablonenhaftigkeit, mit der das "Kammermusikalische" immer wieder in Kritiken genannt wird.

    Falstaff

  • Genauso ging es mir auch, ich bin nur schon müde geworden, gegen diesen modernen Schlankheitswahn immer wieder anzuschreiben. Ich kann z.B. in der Süddeutschen kaum noch die Besprechung einer beliebigen orchestralen Neuaufnahme zwischen Bach und Mahler lesen, in der nicht entweder auf die "Schlankheit" lobend hingewiesen oder ihr Fehlen beklagt wird. Je nach Komponist wird das gern mit zusätzlichen Adjektiven wie "ironisch" (Schostakowitsch), "gebrochen" (Mahler) oder - der größte Rezensenten-Renner - "unpathetisch" (Beethoven) unterfüttert. Da wird allen Ernstes gelobt, dass eine Neuaufnahme der Beethoven-Symphonien "ohne ein Gran Pathos" sei - wenn das wahr ist, kann ich die Aufnahme nur für eine Fehlinterpretation halten. "Schlankheit" wird, nicht anders als in der Mode, als Wert an sich betrachtet, "Pathos" grundsätzlich als Unwert. Irgendwie beneidenswert, wenn man mit einem derart simplen Weltbild zwischen gut und böse unterscheiden kann ;+) .


    Lieber Christian,
    Du und ich waren in der Vergangenheit nicht immer einer Meinung. Aber diese Meinung von Dir unterschreibe ich 110-prozentig. Danke, dass Du das so dermaßen gut auf den Punkt gebracht hast :klatsch:
    Herzliche Grüße
    music lover

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Sicherlich wäre es gut, wenn zwei Diskussionsebenen unterscheiden:

    Die eine Ebene ist die zu Recht bemängelte und bewitzelte sprachliche und inhaltliche Gestaltung von Rezensionen, die klischeehaft sogenannte schlackenlose, kammermusikalische, sportive, schlanke und entschlackte, vibrato- und glutenfreie, schwulstlose und unpathetische, leichtgewichtige und dennoch ballaststoffreiche, nicht behäbige und dafür sportlich-dynamische, nicht schwerfällige und fettarme Interpretationen loben und dafür das Vokabular von Modedesignern, Sportmedizinern und Ernährungsberatern nutzen. Es wäre vielleicht einen eigenen Thread wert, diese Klischees zu sammeln.

    Ich möchte aber auch bemerken, dass es für musikalische Laien manchmal gar nicht so einfach ist, sprachliche Formen für Höreindrücke zu finden. Da neige ich mitunter auch zum Griff in die Kiste mit Plastikwörtern. :hide:

    Die andere Ebene ist die Diskussion über die musikalische Gestaltung z.B. des ersten Brahms-Konzertes mit Hardy Rittner auf einem Erard von 1854 und dem Orchester L'Arte del Mondo unter der Leitung von Werner Ehrhardt. Hier würde mich interessieren, wie andere MItglieder des Forums diese Interpretation jenseits der sprachlichen Unzulkänglichkeiten von Rezensionen wahrnehmen.

    Es wäre schön, wenn jemand einen Thread über die Gestaltung von Rezensionen eröffnete und wir hier dann mit Brahms weitermachen könnten. Beides finde ich interessant, aber eine gewisse Ordnungsstruktur erleichtert das Posten und hinterher das Lesen.

    Damit schließe ich mich den Vorrednern inhaltlich ausdrücklich an, wünsche mir nach dem Exkurs aber eine Rückkehr zu Brahms' Klavierkonzerten und vielleicht auch zum Austausch über Interpretation von Rittner/Ehrhardt. :yes:

    Ich wünsche allen einen schönen Sonntag! :wink:

    Beste Grüße von Ansgar

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