Paul Hindemiths zweimalige Vertreibung aus dem deutschen Musikleben

  • Und warum gerade die und nicht (um bei den Orchesterwerken zu bleiben) das "Konzert für Orchester" oder "Nobilissima Visione" ? Beides viel besser...


    ... oder die "Sinfonischen Tänze". Die Antwort ist, fürchte ich, simpel: "Mathis-Sinfonie" und Weber-Metamorphosen schmeicheln den Ohren eines rein kulinarischen Publikums. Warum das beim "Mathis" meiner Meinung nach so ist, habe ich oben ausgeführt, bei den Weber-Metamorphosen machte Hindemith den Kotau vor dem US-Publikum. Die Anpassung fiel ihm offenbar leicht. "Nobilissima Visione", meiner Meinung nach das beste Werk der unseligen zweiten Schaffensperiode, leidet darunter, ausschließlich noble Musik zu enthalten, die einfach nichts Reißerisches hat.
    Noch mehr bedauere ich aber, daß gewisse andere Werke Hindemiths nicht gespielt werden: "Sancta Susanna", "Mörder, Hoffnung der Frauen" und "Nusch-Nuschi" gehören zum besten, was der Expressionismus an Bühnenwerken hervorgebracht hat; die Kammermusiken sind gleichfalls erstrangige Werke, und die "Drei Gesänge" übertreffen das meiste, was es an Orchesterliedern gibt - wenn man das mittlere hört ("Es ist ein weinen in der Welt" nach Lasker-Schüler), dann verblassen dagegen sogar die "Vier letzten Lieder" von Strauss.
    Es ist auch ganz aufschlußreich, das der frühen Phase noch relativ nahestehende "Unaufhörliche" mit dem späten "Flieder-Requiem" zu vergleichen: Natürlich hat das "Unaufhörliche" ein paar Hunger-und-Durst-Strecken und ein paar schwer erträgliche pathetische Momente, aber welch ein Geniestreich ist es gegen diese trockene Routine des "Flieder-Requiems". Es geht mir ja nicht darum, den ganzen Hindemith zu verurteilen - nicht einmal den ganzen späten Hindemith. Ich bin nur der vollen Überzeugung, daß er nicht "ein zweites Mal" "vertrieben" wurde, sondern daß sich, nachdem er zeitweise überproportional aufgeführt wurde, eine Normalisierung eingestellt hat - bloß mit den falschen weil nur publikumswirksamen Stücken. Aber das haben wir ja auch im Fall Orff: Die "Carmina burana" sind der Dauerbrenner - aber wer macht schon "Trionfo di Afrodite", "Prometheus", "De temporum fine comedia"...?
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • seine vor dem Krieg gedruckten Noten hatten beim Verlag den Bombenhagel überlebt und waren in der plötzlichen Nachfragesituation nach vorher "entarteter" Musik verfügbar,


    Und außerdem hatte man nicht mit dem noch immer latent vorhandenen Antisemitismus zu kämpfen. Denn zu glauben, daß der 1945 von einem Tag auf den anderen erlosch, wäre blauäugig.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Nobilissima Visione - die ganze Ballettmusik...

    "Nobilissima Visione", meiner Meinung nach das beste Werk der unseligen zweiten Schaffensperiode, leidet darunter, ausschließlich noble Musik zu enthalten, die einfach nichts Reißerisches hat.


    Bei der Gelegenheit: Kennst Du eine Aufnahme der ganzen Ballettmusik von Nobilissima Visione, und nicht nur der 3-sätzigen Suite?

    Ich kenne diese hier:

    aber die ist sehr dröge gespielt, macht echt keinen Spass...

    Gibt es noch eine andere, bessere Aufzeichnung des vollständigen Balletts??


    [Eine Kopie dieses Beitrags habe ich hier eingefügt, wo Aufnahmen Hindemithscher Orchestermusik besprochen werden. Bitte ggf. auch dort beantworten! Danke.
    :wink:
    Gurnemanz]

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Zitat

    "Mathis-Sinfonie" und Weber-Metamorphosen schmeicheln den Ohren eines rein kulinarischen Publikums.

    Edwin, weshalb genau sollte die Mathis-Sinfonie den Ohren eines rein kulinarischen Publikums schmeicheln? Mir persönlich kommt das Sujet der Mathis-Oper sehr entgegen, mir gefällt auch das Libretto - aber die Musik finde ich so trocken wie einen über Jahrzehnte abgelagerten Leibnitzkeks! Meine Güte, ist das akademisch fade! Ich habe es gestern nach Lektüre der entsprechenden Threads noch einmal kurz damit versucht, aber nach fünf Minuten Gähnen konnte ich nur noch abschalten.
    Und genau das ist mein persönliches Problem mit dem späten Hindemith: Rein theoretisch müsste seine Musik in mir auf starken Widerhall stoßen, rein praktisch langweilt sie mich entsetzlich.

    Beste Grüße

    Bernd

  • Ich bin nur der vollen Überzeugung, daß er nicht "ein zweites Mal" "vertrieben" wurde, sondern daß sich, nachdem er zeitweise überproportional aufgeführt wurde, eine Normalisierung eingestellt hat - bloß mit den falschen weil nur publikumswirksamen Stücken.

    Ich vermute, ginge es hier um Zemlinsky statt Hindemith, wäre der Begriff Vertreibung niemandem weiter aufgefallen. Freilich hatte auch Zemlinskys noch ausbleibende Wiederentdeckung nichts mit Vertreibung zu tun.
    Mir erscheinen die Ausgangspostings als ausreichende Relativierung des Threadtitels.

    Auf der Homepage der Fondation Hindemith wird zum Aspekt Emigration aus einem Brief des Komponisten an seinen Verleger, vom 10. März 1933 zitiert: "Nach allem, was ich hier im Musik- und Theaterbetrieb sehe, glaube ich, daß alle Theaterposten in Kürze mit stramm nationalen Jungs besetzt sein werden. Im nächsten Frühjahr, nach Überwindung der ersten Schwierigkeiten, dürften dann die Aussichten für eine Oper von Penzoldt und mir sehr gut sein."
    Statt dieser "deutschen Volksoper" kam es also zum "Mathis". Falls Hindemith an Penzoldt mit seinen "Plänen" zu einer Gutenberg-Oper herangetreten sein sollte, würde mich die letztendliche Entscheidung für den Maler, den ich für die ergiebigere Bühnenfigur halte, nicht wundern.

    Viele Grüße


    "Unter den bekannten Malern in Deutschland bin ich der ärmste, der schlecht bezahlteste."
    Markus Lüpertz (http://www.focus.de, 17.4.2015)

  • Lieber Arundo donax,
    das ist auch mein Eindruck. Hochgelahrter Contrapunctus, trocken, akademisch, saufade. Aber das Publikum kann sich an ein paar süffigen Themen anhalten, glaubt, die Pseudo-Modernität der paar Dissonanzerln wäre avanciert und bekommt ab und zu Stellen, die (ungeschickte) Bruckner-Kopien sind. Insgesamt ergibt das eine Musik, die "anhörbar" ist, viele Spezialisten wahrscheinlich tödlich langweilt, aber durch ihr ernsthaftes Auftreten Größe vorspiegelt.
    Diese Verschulung ist ja mein Hauptkritikpunkt am späteren Hindemith. Seine Unterwerfung unter sein System ist nicht weit entfernt von Schönbergs Unterwerfung unter das Zwölftonsystem - und bei beiden Komponisten kommen fallweise hervorragende Werke heraus. Aber eben nur fallweise...
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Mal eine Frage von mir als Hindemith-Wenigkenner: Kann es sein, daß ein grundlegendes Problem Hindemiths ist, daß er zwar versucht hat, eine "ästhetische Schule" zu begründen, ihm dies aber nicht gelungen ist? Die komplette Garde der jungen Wilden in den 1950er Jahren hat sich auf die Zweite Wiener Schule und die dodekaphone Technik berufen und bezogen, aber so gut wie niemand auf Hindemith, obwohl er einige Schüler gehabt hat. Er blieb letztlich singulär, wollte aber gern ein prinzipielles musikalisches System etablieren. Kann es sein, daß seine Reputation unter diesem Widerspruch bis heute leidet?

    Unabhängig davon wäre ich dafür, Hindemiths Werken möglichst unbefangen zu begegnen. Ich habe am Wochenende mal kurz in seine Klaviersonaten reingehört. Das ist m. E. keine bahnbrechende Musik, aber schlecht ist sie auch nicht - durchaus anhörbar, wie ich finde!

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich vermute, ginge es hier um Zemlinsky statt Hindemith, wäre der Begriff Vertreibung niemandem weiter aufgefallen. Freilich hatte auch Zemlinskys noch ausbleibende Wiederentdeckung nichts mit Vertreibung zu tun.


    Aber Zemlinsky ist doch "wiederentdeckt"... Rund 50 Aufnahmen, davon acht Mal die "Lyrische Symphonie", die auch live mit gewisser Regelmäßigkeit auftaucht, zeigen, daß Zemlinsky sicherlich nicht posthum zum Erfolgskomponisten wurde, aber zu den Etablierten gehört. "Wiederentdeckung" wäre für mich, wenn man sich endlich um Komponisten kümmern würde wie Krasa, Haas, Schnabel, Rathaus, Vogel aber auch andererseits um Graener, Haas, Distler, Klenau, Berger etc.
    Man muß wirklich in der Frage der "Wiederentdeckung" abrücken vom Blick auf das Gesamtwerk eines Komponisten. Von den wenigsten, speziell des 20. Jahrhunderts, ist ein großer Teil des Werks im Repertoire. Oft sind es ein bis fünf Werke. Vielleicht auch, weil eben nur diese ein bis fünf Werke lebensfähig sind. Ich weiß es klingt hart, aber: Was bringt es, schwache Werke im Repertoire zu halten nur, weil der Komponist ein Opfer der NS-Diktatur war? Da ist es mir lieber, starke Werke zurückzugewinnen, auch wenn der Komponist kein NS-Opfer war sondern sich vielleicht sogar arrangierte. Oder anders gesagt: Was für Strauss gilt, sollte auch für Graener und Vollerthun gelten. Und ich würde es bei weitem vorziehen, ab und zu auf ein Werk Graeners zu stoßen als auf einen späteren Hindemith...
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Kann es sein, daß ein grundlegendes Problem Hindemiths ist, daß er zwar versucht hat, eine "ästhetische Schule" zu begründen, ihm dies aber nicht gelungen ist?

    Leider ist es ihm gelungen. Nahezu alle seine Schüler wurden zu "Hindemithläufern", wärend Schönberg und Schreker ihre Schüler lehrten, selbst zu denken...

    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • Der offensichtliche Unterschied ist doch, dass Zemlinsky bis in die 1970er höchstens Experten bekannt war und kaum eine Rolle im Musikleben spielte, während Hindemith, was der Ausgangspunkt des threads gewesen ist, noch in den 1960ern deutsche Konzertprogramme dominierte, was klassische Moderne betraf. Da damals oder überhaupt insgesamt gar nicht so wenige Aufnahmen gemacht wurden, kann ich die Klagen in dem anderen thread nicht in diesem Umfange nachvollziehen.

    Wenn man einräumt, dass das damals eine Überpräsenz war und Hindemith an Rang eben nicht Bartok, Stravinsky oder Berg nahekommt, sondern eher Schulhoff oder K.A. Hartmann (ohne irgendein ernstes Ranking machen zu wollen), kann man sich eigentlich nicht über einen Mangel an Aufnahmen beschweren. Selbst wenn naturgemäß einzelne Werke beliebter und präsenter sind als andere.

    Wie gesagt glaube ich, dass der Einfluss einzelner Kritiker oder "Ideologen" tendenziell überschätzt wird. Die Wirksamkeit der Wiener Schule auf andere Komponisten (und ihre lange weitgehende Ablehung durch das Publikum) liegt ebensowenig an Adorno wie er die fortgesetzte Beliebtheit Tschaikowskys durch Polemik verhindern konnte usw.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Leider ist es ihm gelungen. Nahezu alle seine Schüler wurden zu "Hindemithläufern", wärend Schönberg und Schreker ihre Schüler lehrten, selbst zu denken...

    :wink:


    Lieber Edwin,

    ich befürchte, daß ich mich nicht präzise genug ausgedrückt habe. Natürlich hat Hindemith Schüler hervorgebracht, aber wer von denen hat als Komponist wirklich Rang und Bedeutung erlangt? Ich bin gerade auf Wikipedia (was natürlich cum grano salis zu lesen ist) die Liste seiner Schüler durchgegangen. Bis auf von Einem (der ihn allerdings als schlechten Lehrer ansah) kenne ich keinen einzigen der Hindemith-Schüler. Zugegeben, ich bin musikalischer Laie mit vielleicht bestenfalls mittelprächtigem Wissen in neuer Musik, und Dir als Experte werden ungleich mehr dieser Personen geläufig sein. Für den normalen Musikhörer allerdings sind dies m. E., bei allem gebotenen Respekt, "no names". Sollte ich damit total falsch liegen, so sieh es bitte als Ausdruck meiner Unwissenheit.

    Deine Aussage über Schönberg kann man gar nicht deutlich genug betonen! Ihm wurde ja immer wieder Ideologismus vorgeworfen, dabei ist dieser Vorwurf im Hinblick auf seine Tätigkeit als Lehrer sicherlich unhaltbar. Über Schreker als Lehrer weiß ich leider noch zu wenig.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Aber Zemlinsky ist doch "wiederentdeckt".

    Ich schrieb "Freilich hatte ..." und nicht "hat" weil ich an die ersten Nachkriegsjahr(zehnt)e dachte.

    Was bringt es, schwache Werke im Repertoire zu halten nur, weil der Komponist ein Opfer der NS-Diktatur war?

    Nichts. So wie man vor einem halben Jahrhundert musikalische Gründe für die zweite Vertreibung/das zweite Vergessen anführte, sollte es auch bei den Wiederentdeckungen sein, falls neue Interpretengenerationen meinen, dafür musikalische Gründe gefunden zu haben.

    Der offensichtliche Unterschied ist doch

    offensichtlich.
    Ich wollte wirklich nur verdeutlichen, daß zweite "Vertreibung" hier wohl nicht "politisch" gemeint war.

    Viele Grüße


    "Unter den bekannten Malern in Deutschland bin ich der ärmste, der schlecht bezahlteste."
    Markus Lüpertz (http://www.focus.de, 17.4.2015)

  • Bis auf von Einem (der ihn allerdings als schlechten Lehrer ansah) kenne ich keinen einzigen der Hindemith-Schüler.


    Es gibt ein paar amerikanische Hindemith-Schüler, die in den USA zeitweise bekannt waren, etwa Norman dello Joio. Überhaupt ist der Einfluß Hindemith/USA wechselseitig. Einerseits hat Hindemith die pathetischen Posen mancher US-Komponisten übernommen, und seine ziemlich mühsame Es-Dur-Sinfonie ist von Roy Harris nicht so weit entfernt; andererseits haben US-Komponisten begonnen wie Hindemith zu schreiben, auch wenn sie keine direkten Schüler waren - etwa Walter Piston.

    Schreker setzte bei seinen Schülern eine genaue Kenntnis des Kontrapunkts und der Harmonielehre voraus, verlangte darüber hinaus aber auch den "originellen Einfall", während Hindemith das handwerkliche Zurechtzimmern von Musik ins Zentrum stellte. Dementsprechend klingen die meisten Schreker-Schüler nicht nach Schreker - wer würde vermuten, daß so unterschiedliche Komponisten wie Ernst Krenek, Paul Amadeus Pisk, Karol Rathaus, Alois Hába, Max Brand, Berthold Goldschmidt, Grete von Zieritz, Mark Lothar oder Wladyslaw Szpilman Schüler ein und desselben Komponisten waren, der selbst Musik einer völlig anderen stilistischen Sphäre komponierte? Schreker unterrichtete eben kein System, sondern versuchte, die Persönlichkeitsmerkmale seiner Schüler zu verstärken - das machte ja auch Schönberg, wodurch beide zu guten Lehrern werden, während Hindemith seinen Schülern sein eigenes System und seine eigene Ästhetik aufdrängte.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • ...sondern versuchte, die Persönlichkeitsmerkmale seiner Schüler zu verstärken - das machte ja auch Schönberg, wodurch beide zu guten Lehrern werden....

    z.B. John Cage, der ca. 2 Jahre lang Schüler von Schönberg gewesen ist, aber ganz eigene Wege gegangen ist....
    Einschränkung: Cage fühlte sich zeitlebens an sein Versprechen an Schönberg gekettet, sein Leben ganz der Musik zu widmen...
    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Bis auf von Einem (der ihn allerdings als schlechten Lehrer ansah) kenne ich keinen einzigen der Hindemith-Schüler.


    Am bekanntesten ist wohl Harald Genzmer. Dessen Sinfonietta habe ich seinerzeit im Schulorchester mitgespielt, und es hat mir damals - ohne Übertreibung - gefallen wie nichts anderes, was wir spielten!

    Überhaupt halte ich manches von Genzmer dem späten Hindemith für deutlich überlegen.

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Wenn man einräumt, dass das damals eine Überpräsenz war und Hindemith an Rang eben nicht Bartok, Stravinsky oder Berg nahekommt, sondern eher Schulhoff oder K.A. Hartmann

    Was? Schulhoff und K.A. Hartmann würde ich aber weit über den gesamten Hindemith stellen. Dabei mag ich gelegentlich Einiges von Hindemith.

    kann man sich eigentlich nicht über einen Mangel an Aufnahmen beschweren. Selbst wenn naturgemäß einzelne Werke beliebter und präsenter sind als andere.

    Wie gesagt glaube ich, dass der Einfluss einzelner Kritiker oder "Ideologen" tendenziell überschätzt wird. Die Wirksamkeit der Wiener Schule auf andere Komponisten (und ihre lange weitgehende Ablehung durch das Publikum) liegt ebensowenig an Adorno wie er die fortgesetzte Beliebtheit Tschaikowskys durch Polemik verhindern konnte usw.

    Da kann ich nun aber voll zustimmen.

    Was Hindemiths versuchtes, aber gescheitertes Arrangement mit dem deutschen Faschismus angeht, so erscheint mir die Literatur, die eher in Edwins Interpretationsrichtung geht, auch plausibler, wenn Paul Hindemith dabei wohl auch nie so weit gehen wollte wie sein Bruder, der Cellist und Komponist Rudolf Hindemith, der es zu einer Art Hofkomponist und Hofdirigent beim Generalgouverneur Hans Frank brachte. Insbesondere Antisemitismus ist bei Paul Hindemith wohl nicht zu finden, jedoch die zeitweilige Bereitschaft, über den Antisemitismus der anderen Deutschtümler hinwegzusehen. Hat Paul Hindemith den Mathis womöglich doppelt codiert kalkuliert, um sich beide Optionen offenzuhalten? Legt man das Selbstverständnis in den Musik-Diskursen der deutschnationalen Musikbetriebler der 30er zugrunde, ist der Mathis schon anschlußfähig, auch einiges Anderes: Der Rückgriff auf 'urteutsche' Themen etwa aus deutschen Volksliedern, die Betonung des Kontrapunkts als die besondere, überlegene Leistung des 'Deutschen' in der Musik, bei Ausgrenzung der Avantgarde als 'undeutsch' u. ä. Damit konnten seine deutschen Schüler auch über den Bann gegen Hindemith wegen der 'kulturbolschewistischen' Nacktszene hinaus im faschistischen Deutschland sich erfolgreich etablieren, besonders im Umkreis der Musikbewegung der HJ. Nach 45 waren die alle noch in einflußreichen Stellen im Musikbetrieb, verwiesen auf ihre Schülerschaft zum Emigranten, an dessen Lehre sie festgehalten hätten, also alle quasi 'Widerständler' und wurden bis weit in die 60er, wie ihr Lehrer Hindemith, viel gespielt. Wenn man sich die Spielpläne oder Regionalpresse anschaut, erscheint der Einfluß Adornos oder gar der Darmstädter heute weit überschätzt. Dass Hindemiths Schüler praktisch gar nicht mehr, Hindemith immer weniger gespielt wird, ist dann schon zu einer Zeit, in der das Adorno- und Serialismus-Bashing bereits weit verbreitet ist (ab Mitte 70er). Kurz, Hindemith als Opfer von Adorno ist Quatsch. Adornos Hindemith-Texte sind zwar in erheblichen Teilen ziemlich daneben (siehe das Hindemith-Heft der Musik-Konzepte), aber mit 'Hindemiths Abstieg' im Öffentlichkeitsranking hat das wenig zu tun. Dabei finde ich das vor allem um die expressionistischen Werke, vieles der Kammermusik oder Noblissima Visione auch sehr schade. Ich höre sogar manchmal die Mathis-Symphonie und einiges andere spätere ganz gerne, aber für "Meisterwerke des 20. Jahrhunderts" halte ich diese deswegen nicht. Mir gefällt, wenn Hindemith auf Basis von solidem Handwerk 'dem Musikantischen' Zucker gibt. Er war ein Top-Bratscher, aber konnte nahezu alle Instrumente, für die er Sonaten schrieb, zumindest leidlich beherrschen. Wo die sympathische Lust, die Möglichkeiten des Instruments/der Instrumente auszuprobieren und auszuspielen, Freiraum hat oder sich gegen den zunehmend einengenden und konservativer werdenden Formwillen durchsetzten kann, da finde ich ihn meist viel besser, als bei den meisten Großwerken, die mir meist etwas mühsam Gedrechseltes haben.

    :wink: Matthias


  • Was Hindemiths versuchtes, aber gescheitertes Arrangement mit dem deutschen Faschismus angeht, so erscheint mir die Literatur, die eher in Edwins Interpretationsrichtung geht, auch plausibler, wenn Paul Hindemith dabei wohl auch nie so weit gehen wollte wie sein Bruder, der Cellist und Komponist Rudolf Hindemith, der es zu einer Art Hofkomponist und Hofdirigent beim Generalgouverneur Hans Frank brachte.


    ... was ihm Paul übrigens nie verziehen hat - er bat seinen Bruder um eine Erklärung, bekam aber nie eine.

    Zitat

    Insbesondere Antisemitismus ist bei Paul Hindemith wohl nicht zu finden, jedoch die zeitweilige Bereitschaft, über den Antisemitismus der anderen Deutschtümler hinwegzusehen. Hat Paul Hindemith den Mathis womöglich doppelt codiert kalkuliert, um sich beide Optionen offenzuhalten? Legt man das Selbstverständnis in den Musik-Diskursen der deutschnationalen Musikbetriebler der 30er zugrunde, ist der Mathis schon anschlußfähig, auch einiges Anderes:


    Ich habe mich mit dem Mathis Hindemiths noch nicht genug beschäftigt, um hier mitreden zu können, denke aber, das hier eher zuviel hineininterpretiert wird. Ein auch nur leichtes Anbiedern ans System kann ich bei all dem, was ich von Hindemith weiß und kenne, beim besten Willen nicht erkennen.

  • Hindemiths versuchtes, aber gescheitertes Arrangement mit dem deutschen Faschismus

    Hätte Hindemith sich wirklich arrangieren wollen, wäre es vermutlich 1934 doch durchaus noch möglich gewesen, zu Kreuze zu kriechen, sich von der Oper "Neues vom Tage", deren nackte Protagonistin Hitler angeblich so missfallen hat, und von anderen vergangenen expressionistischen 'Abwegen' reuevoll zu distanzieren und fortan genehme Musik zu schreiben. Er hat aber offenbar keinen Versuch dazu unternommen, auch auf dem Höhepunkt der Kontroverse nicht, als er mit Furtwängler einen gewichtigen Fürsprecher hatte.
    Und dass die Uraufführung von "Mathis der Maler" nicht wegen "Mathis der Maler", sondern ausschließlich wegen des Führers persönlicher Abneigung gegen eine Szene aus einer fünf Jahre älteren anderen Oper des gleichen Komponisten verboten worden sei, scheint mir nicht sehr plausibel - insbesondere vor dem Hintergrund der Bücherverbrennungsszene, aber auch der generellen Tendenz des "Mathis". Hatten wir oben schon.

    Was Hindemith von solchen hielt, die sich abzubiedern versuchten, erzählt u.a. ein Brief, den er im Mai 1933 an seine Frau schrieb - also noch vor der Kampagne gegen ihn. Hindemith geht darin auf Gottfrieds Benns wenige Wochen zuvor gehaltene Rundfunkrede "Der neue Staat und die Intellektuellen" ein:

    "Zur Unterhaltung schicke ich Dir hier die neue Rede unseres Heimchen am Herd Jottfried. Den scheint's ja wirklich ganz arg gepackt zu haben. Es ist halt wie mit den eingewickelten Kindern, die sich erkälten, wenn sie an die Luft kommen: er scheint die ganzen Jahre auf dem Mond gelebt zu haben und ist nun ganz verwundert, dass es noch Welt gibt. Ganz schön, aber von hier bis zum Bruderkuß hätte er eine etwas langsamere Windeseile einschalten können. Seine Enttäuschung nach ein paar Monaten möchte ich mal sehen. Vielleicht bringt er's auch noch so weit wie Backhaus, der plötzlich aus Amerika und dort William Bachhaus geheißen habend auftaucht und auf seinen Klavierabendplakaten mitteilt: 'Auf besonderen Wunsch des Herrn Reichskanzlers. Der Herr Reichskanzler hat sein Erscheinen zugesagt.' Leibhautundharnpoet."

    In zwei Briefen an seine Frau im Februar und März 1939 blickt er auf die Entscheidung zur Emigration zurück - Anlass sind beide Male Nachrichten aus Deutschland, beim ersten die vom Auftrittsverbot für den Kabarettisten Werner Finck. Aus beiden Stellen wird auch deutlich, dass er sich im Nachhinein vorwirft, die Situation eigentlich unterschätzt zu haben:

    "Mich packt noch nachträglich immer ein leichtes Grausen, wenn ich solche Berichte höre (...) - ich denke mir, wie schrecklich es geworden wäre, wenn man auch in diesem kastrierten Zustand von machtlosem Geschehenlassen und allzu fein versteckter Auflehnung versunken wäre!"

    "Ich komme mir immer vor wie die Maus, die leichtsinnig vor der Fallentür tanzte und auch hineinging; zufällig, als sie gerade mal draußen war, klappte die Türe zu!"

    Insbesondere Antisemitismus ist bei Paul Hindemith wohl nicht zu finden


    Da wäre ich mir freilich nicht so sicher. Einerseits: er war mit einer Halbjüdin verheiratet, musizierte mit jüdischen Kollegen im Amar-Quartett und in anderen Zusammenhängen und verschaffte 1935/36 im Rahmen seiner Tätigkeit für die türkische Regierung dutzenden, vielleicht hunderten deutschjüdischer Musiker eine Arbeits- und Lebensmöglichkeit als Musikschul- und -hochschullehrer in der Türkei - einige blieben bis an ihr Lebensende dort. Andererseits verwendet er in seinen Briefen immer wieder antisemitische Klischees, wenn es um jüdische Kollegen (insbesondere um solche, die er nicht mochte) geht, und auch andere Äußerungen legen nahe, dass ihm Juden unsympathisch und unangenehm waren. Als er 1939 (die Hindemiths waren damals in die Schweiz ausgewandert und dachten bereits darüber nach, im Falle eines Kriegsausbruches in die USA überzusiedeln) zu einer Konzerttournee nach Amerika reiste, schrieb er nach Hause:

    "Das Schiff ist knallvoll, beladen mit einer Bewohnerschaft - zum Abgewöhnen. Die beiden einzigen nichthebräischen Fahrgäste sitzen an meinem Mittagstisch. (...) Zwischen Albersheim und Zachariassohn finden sich hier sämtliche Abarten von Orts- und Tiernamen. (...) Keinesfalls hat man das Gefühl, dass die meisten der Leute aus einer Hölle kommen und in eine wenigstens zeitweilige Ungewissheit fahren. Sie sehen alle aus, als machten sie eine Vergnügungsreise und man fragt sich immer, was man mehr bewundern soll: Das blinde Vertrauen auf die Freunderl in Amerika und auf die wahrscheinlich gar nicht so menschenfreundliche Regierung dort, oder aber den Mangel an Übersicht, der die Leute alle in dieses eine Land strömen lässt, wo der Effekt doch nur der sein kann, dass sie über kurz oder lang gründlich verhaßt sein werden."

    Diese Sätze sind in ihrer Mitleidlosigkeit schon ziemlich erschreckend.

    Grüße
    vom Don

  • Der Brief findet sich in "Das private Logbuch". Briefe an seine Frau Gertrud. München/Mainz 1995, S 289 ff. (Serie Musik Piper/Schott SP8355) (bei amazon)

    Hindemith zeigt in seinen Beschreibungen aller Zeitgenossen, gleich welcher Herkunft, einen Zug, den man, je nach Wohlwollen oder Perspektive, als zynisch, sarkastisch, spöttisch bezeichnen kann - oder aber als Schutzfassade vor dem täglichen menschlichen und musikalischen Betrieb, der ihn öfter ziemlich genervt haben muss. Seine deutschen Mitmenschen beschreibt er genauso schonungslos ...

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