Paul Hindemiths zweimalige Vertreibung aus dem deutschen Musikleben

  • Zu der Rolle Hindemiths im Nachkriegsdeustchland hat Dibelius in seinem ersten Band Moderne Musik ein paar sehr erhellende Worte geschrieben. Kann ich nur empfehlen. :yes:

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • BTW.: Ich sehe grade, dass die Hindemith-Oper "Neues vom Tage" z. Zt. in Münster aufgeführt wird.

    "Neues vom Tage" ist die Oper mit der weiter oben erwähnten Badewannen-Arie. Darüber hinaus ists meines Wissens die einzige Oper, die im Jahr ihrer Uraufführung (1928) spielt.

    Preview.:

    :L:

    Michael Schlechtriem spielt - wie ich gerade erfuhr - auch mit (im Orchester).

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Ich habe mich jetzt seit einenhalb Jahren recht intensiv mit Hindemiths Instrumentalmusik beschäftigt (nur durch Zuhören allerdings), und langsam aber sicher kann ich die Skepsis vieler Musikliebhaber gegenüber Hindemith nachvollziehen. Anfangs war dies anders, da ich mich zuerst auf die Streichquartette (3 -5!) und die Kammermusiken gestürzt habe. Das sind für mich weiterhin absolut erstklassige, richtungsweisende (für Janacek, Bartok, Schostakowitsch) Werke, die viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Auch die frühen Klaviersuiten finde ich wirklich toll. Dann lässt meine Begeisterung aber schnell stark nach. Die Webervariationen und ein paar andere symphonische Werke finde ich noch ganz ok, aber die Klavierkonzerte und die meisten Duosonaten finde ich unfassbar langweilig. Geradezu tödlich sind die Passacaglien und andere kontrapunktische Monströsitäten, die Hindemith ab den 1930ern schrieb. Dieser Musik scheint jegliche Sinnlichkeit und jedes Klanggefühl abzugehen. In diesem Sinne, wundert es mich nicht, dass diese Musik weiterhin unbeliebt ist. Bei den frühen Werken finde ich es schade. "Hindemith begann als Genie und endete als Talent...." :hide:

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Was den späten Hindemith betrifft:

    Mal die (von mir zugegebenermaßen schon öfters empfohlene) Sonate für 2 Klaviere gehört? - Die ragt für mich mit ihrer harmonischen Farbigkeit und Klanggewalt aus dem sonstigen (auch für mich oft auch eher mittelmäßigen) Spätwerk von Hindemith ziemlich heraus.

    Sehr empfehlen kann ich diese Aufnahme (für "Reinhörer": es sind die letzten 5 Tracks).

    die beiden anderen mir bekannten Einspielungen (Roberts/Strong, Rosi und Toni Grünschlag) fallen dagegen stark ab.

    Gruß,

    Normann

    zwischen nichtton und weißem rauschen


  • Die Werke kannte ich tatsächlich noch nicht einmal dem Namen nach. Danke für den Tipp! Ansonsten gibt es bei mir mal Hindemith-Kaufsperre. Der Mann hat ja unglaublich viel geschrieben...

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Die mittleren Werke sind doch die schönsten ... z.B. die Klaviersonaten (Mitte 30er).

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die mittleren Werke sind doch die schönsten ... z.B. die Klaviersonaten (Mitte 30er).


    Ich kenne nur die dritte, welche auch mir gut gefällt. Aber als überragendes Meisterwerk - im Gegensatz zu vielen Dingen aus den 1920ern - empfinde ich sie nicht. Es ist aber sicher ein schönes Werk.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Empfehlen kann ich auch noch das Konzert für Orchester von 1925 (übrigens das einzige Orchesterwerk von Hindemith, das mir wirklich gefällt):


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    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • In diesem Thread wurde ja auch über die Sinfonie Mathis der Maler hergezogen - kann ich nicht nachvollziehen, Hindemiths Wende in den 30ern zu einem repräsentativeren Stil finde ich sehr gelungen und die Mathis-Sinfonie kann man schon auch heute noch für ein Hauptwerk halten, vergleichbar mit Prokofieffs Romeo und Julia.
    Ich bin überrascht, dass ich hier mal einen allgemeinen Hindemith-Thread eröffnet habe:
    Paul Hindemith
    Dieser hier hat ja Hindemiths Vertreibung zum Thema.

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  • Was? Schulhoff und K.A. Hartmann würde ich aber weit über den gesamten Hindemith stellen.

    Verglichen mit Hindemith sind die beiden aber immer noch Fußnoten ...
    8+)
    In Lexika/Musikgeschichten auf jeden Fall, im Konzertleben scheinen sie mir Hindemith noch nicht eingeholt zu haben:
    Im Musikverein habe ich 1 Veranstaltung mit Hindemith, 1 Hartmann, keine Schulhoff gefunden. Im Konzerthaus 5 Veranstaltungen mit Hindemith, 1 Schulhoff, keine Hartmann.
    Das beruhigt mich etwas ... die extreme Hindemith-Unterschätzung scheint eine Art Forenvirus zu sein.

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  • Wie definiert man "Hauptwerke"? Wieso sollten gerade die gefälligsten Partituren die Hauptwerke sein? Bei Hindemith kann man definitiv sagen, dass die frühen Sachen einflussreicher waren.
    Bei Prokofjew fielen mir auch andere Werke zuerst ein.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Jedenfalls definiert man es nicht nur mittels Einfluss, denn sonst wäre Charles Ives ganz unwichtig.
    Wenn ich von Hindemith und Prokofieff je ein Werk wählen müsste, würde ich wohl Mathis und Romeo nehmen. Bei Schönberg Pierrot Lunaire, also keine Sorge, ich nehme nicht immer die Kleine Nachtmusik.
    ;+)

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  • Meiner bescheidenen Meinung nach erreicht Prokofjew nirgends das Niveau von Hindemiths Spitzenwerken. Dementsprechend kann man da wählen, was man will (ich selbst bevorzuge sehr stark die frühen Konzerte und Symphonien). Bei Hindemith hingegen verstehe ich nicht, was an der Mathissymphonie so epochal sein soll - Im Gegensatz zu den Streichquartetten und den Kammermusiken.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Echt? Das hat mich jetzt sehr gewundert ... ich dachte, Du bist Prokofieff-Fan.
    :wink:

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  • Die mittleren Werke sind doch die schönsten ... z.B. die Klaviersonaten (Mitte 30er).

    Dem pflichte ich bei! Die zweite Sonate ist wahrlich schön.

    Habe mich immer wieder mal da durchgewurschtelt, dafür haben meine limitierten pianistischen Fertigkeiten gerade ausgereicht.

    Insgesamt bin ich aber noch viel zu wenig vertraut mit Hindemiths Schaffen. Die sehr interessant zu verfolgenden Threads, die nun hier wieder aufgetaucht sind, regen mich aber an, mich wieder mit ihm zu beschäftigen...

  • Da garcia und ich uns gerade in "Eben gehört" über Hindemith unterhalten haben, könnte man damit vielleicht diesen 2011 eröffneten und 2015 eingeschlafenen Thread wiederbeleben.

    Na, sag' ich doch :D

    Paul Hindemith war in den 20er- und frühen 30er-Jahren im Vergleich zu anderen Komponisten viel zu modern bzw. radikal. Deshalb bekam er damals nicht das ihm gebührende Maß an Anerkennung. Er galt als "Bürgerschreck". Dann kam die Nazizeit, in der Hindemiths Werk am Pranger stand. Nach der heftigen öffentliche Debatte um die von Wilhelm Furtwängler 1934 uraufgeführte Sinfonie "Mathis der Maler" und den Querelen um die bevorstehende Uraufführung der gleichnamigen Oper kam es zum sog. "Fall Hindemith": Wilhelm Furtwängler trat im Dezember 1934 aus Solidarität mit Hindemith von allen seinen Ämtern zurück (auch von dem des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, was oft vergessen wird). Hindemith ersuchte den Direktor der Berliner Musikhochschule ebenfalls im Dezember 1934 um Beurlaubung, nachdem Joseph Goebels ihn in einer Rede vor der Reichskulturkammer als "atonalen Geräuschemacher" diffamiert hatte. In Deutschland galt nun ein generelles Aufführungsverbot der Werke Hindemiths. Nach der Nazizeit war aber plötzlich Hindemith den Leuten, die dann das Sagen hatten (insbesondere Adorno), nicht modern und radikal genug. Adorno verunglimpfte Hindemiths Musik als "geduckt spießige Musikantenmusik". Sein Werk galt insbesondere jüngeren Komponisten wie z.B. Boulez als nicht zeitgemäß. Dies wirkt - leider - bis heute nach.

    Tja, Adorno... Er war sicherlich ein sehr kluger Kopf, der viel Intelligentes über Musik geschrieben hat :pop:


    Um den Übergang zu dem vorliegenden Thread zu schaffen: Edwin schrieb am 26. November 2011

    Adorno hat, wenn es um Musik ging, die nicht dem Schönberg'schen Denken entsprach, ziemlich viel Blödsinn von sich gegeben. Deshalb ist für mich seine Meinung im Fall Hindemith ebenso irrelevant wie seine Meinung zu Schostakowitsch und Britten.

    Und Kater Murr schrieb am selben Tag über Hindemiths Musik

    Vielen "Modernen" war sie recht bald nicht "modern" genug und den "konservativen" Hörern (für die bis in die 1960er Mahler noch ein Exot war, man muss nur in ein anderes Forum gucken, um Hörer zu finden, denen Schumann oder Wagner zu "modern" sind) zu sperrig und unattraktiv.

    Beiden Meinungen schließe ich mich an.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Zu den Kammermusiken hatten wir vor einiger Zeit dort (Paul Hindemith) schon etwas: Da ging es um den Komponisten generell, hier, wenn ich es richtig sehe, vor allem um den ins Exil vertriebenen Komponisten, und die Kammermusiken stammen ja noch aus der Zeit vor 1933. Möglicherweise würde die Diskussion der Werkreihe also dort besser passen.

    Dies nur als höfliche Anregung. ;)

    Dank übrigens an EinTon für den Hinweis auf die Einspielung mit dem Ensemble Modern! Ich glaube ohne weiteres, daß die ganz vorzüglich sein dürfte.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zu den Kammermusiken hatten wir vor einiger Zeit dort (Paul Hindemith) schon etwas:

    Die Kammermusiken wurden auch in diesem Thread diskutiert:
    Hindemith: Orchesterwerke
    Dort hatte EinTon schon 2011 die Einspielung mit dem Ensemble Modern empfohlen:

    Das ist eins meiner persönlichen Lieblingsstücke überhaupt!

    Als Aufnahme empfehle ich aber diese hier:

    ich habe mal in den hier genannten Aufnahmen in den Schlusssatz der 1. hineingehört (die kurzen Probeschnipsel, zugegebenermaßen), aber weder Abbado noch Chailly schaffen das mit der Präzision und dem "Groove" wie das Ensemble Modern, was der Musik mE erst den eigentlichen Reiz gibt!


    In meinem Beitrag #77 ging es mir aber nicht um die Kammermusiken, auch wenn deren CD-Anschaffung durch garcia der Aufhänger unseres Gesprächs war, sondern um die von garcia aufgeworfene Frage, warum der Komponist Hindemith heute so am Rande der Aufmerksamkeit steht. Und diese allgemeine Frage dürfte in den vorliegenden Thread gut passen.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

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