VERDI: Otello – Drama und Psychologie

  • Desdemona besitzt vermutlich mehr als ein Taschentuch, auch wenn dieses ein ganz besonderes ist; Otello wird nicht darauf geachtet haben, was ihm Desdemona da genau umbinden will, von Jago wird er dann ja auf dieses spezielle Taschentuch entsprechend aufmerksam gemacht und betrachtet es anders (und genauer). Ich kann mir schon vorstellen, dass Otello einfach nicht merkt, dass es sich um das selbe Taschentuch handelt. Wie genau seht ihr Taschentücher an?

    Das ist natürlich jetzt eine Rationalisierung und daher auch anfechtbar. Aber es kann auch Teil der Charakterzeichnung sein: Otello ist eben ein Recke, der sich nicht mit Taschentüchern abgibt, und er kennt Desdemona nicht gut genug, um zu wissen, was das Taschentuch ihr bedeutet und dass sie immer dieses bewusste Taschentuch mit sich herumschleppt. Die beginnende Verblendung kann natürlich auch eine Rolle spielen.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Das ist natürlich jetzt eine Rationalisierung und daher auch anfechtbar. Aber es kann auch Teil der Charakterzeichnung sein: Otello ist eben ein Recke, der sich nicht mit Taschentüchern abgibt, und er kennt Desdemona nicht gut genug, um zu wissen, was das Taschentuch ihr bedeutet und dass sie immer dieses bewusste Taschentuch mit sich herumschleppt.

    Sowohl bei Shakespeare wie bei Boito hat das Taschentuch gerade auch für Ot(h)ello eine besondere Bedeutung als erstes Geschenk seiner Liebe an Desdemona (bei Shakespeare wird es außerdem als mit einem Erdbeermuster bestickt geschildert).

    Man kann das alles auf einer scheinrationalen Ebene wegerklären, als handele es sich um reale Vorgänge und nicht um einen konstruierten Dramentext. Das führt dann immer dazu, dass ausgerechnet "Wahrscheinlichkeit" als das zentrale Kriterium für solche Texte verabsolutiert wird.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Sowohl bei Shakespeare wie bei Boito hat das Taschentuch gerade auch für Ot(h)ello eine besondere Bedeutung als erstes Geschenk seiner Liebe an Desdemona (bei Shakespeare wird es außerdem als mit einem Erdbeermuster bestickt geschildert).


    Und hat nicht eine Hexe auch noch einen Zauber reingewoben?

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Ich habe heute zum ersten mal Otello von Verdi gehört und zwar in dieser Aufnahme:

    Pavarotti, Kiri te Kanawa und Leo Nucci unter Solti

    Das Dirigat gefiel mir gut, sogar sehr gut. Auch Pavarotti fand ich nicht schlecht.
    Da ich Opernanfänger bin würde mich die Meinung der Experten zu dieser Aufnahme interessieren.
    Auf jeden Fall hat mir die Aufnahme Lust auf mehr Otello gemacht.

    Gruß, HollaD

  • ich habe heute mir einen Othello-Mitschnitt vom 11.05.80 unter Muti (Mailand) reingezogen. Und im 3. Akt, die Szene mit Chor, Orchester + Solisten, die eingeleitet wird mit Desdemona: A terra ! .. si .. nel livido .. Fango .. percossa und die mit dem Wutausbruch und Zusammenbruch Othellos endet, gab es kompositorisch eine erhebliche Abweichung von bisherigen Live-Aufführungen und Mitschnitten, die ich mir reingezogen hatte..
    Frage an Verdi-Junkies und - Spezialisten, gibt es eine 2. Fassung dieser Oper ?

    :wink:


    Lieber Amfortas09!

    Ein paar Jahre sind vergangen - und ich habe das 2009 überlesen. Entschuldige bitte! :faint:

    Es gibt nicht nur eine Verdische / Boiotische Otello Fassung sondern gleich Viere. :yes:

    Zwei sind von Verdi, zwei sind von Boito und Verdi hat dann doch die Letztfassung [eine Mischfassung Verdi und Boito) genommen. Wo jetzt da genau der Unterschied ist das müsste ich nachlesen, habe dann im Spital [im Mai ?] vielleicht dann die Zeit dazu und melde mich wieder.

    Liebe Grüße sendet Dir Peter aus Wien. :wink: :wink:

  • ANDROMEDA 2009

    "Otello" im Studio und "Otello" live sind zwei sehr verschiedene Dinge, und Mario del Monaco im Studio und Mario del Monaco live auch. Das reizt zum vergleichenden Hören. Ich habe mir deshalb den Live-Mitschnitt einer Aufführung in Tokio vom Februar 1959 vorgenommen, aufgenommen noch in Mono, aber vorzüglich in der Tonqualität. Als Kontrast dazu diente anschließend die Toscanini-Einspielung mit Ramon Vinay von 1947 in der "Centurion Classics"-Edition, von der ich leider kein Bild bieten kann. Für 1946 auch eine erstaunlich gute, relativ superbe Tonqualität, wenngleich man natürlich bei den Chorszenen und den hohen Tönen der Desdemona damals noch ein bißchen überfordert war. Beide Aufnahmen sind sehr gut remastered.

    Den "japanischen" "Otello" dirigiert Alberto Erede, der bekanntlich effektvolle Dramatik nicht scheute. Er konnte sich das erlauben, denn abgesehen davon, daß er ein sängerfreundlicher Meister des Pults war, verstand er sich bestens auf die feurige Art der Italianità und wußte die Akzente zündender Leidenschaft sehr wirkungsvoll zu setzen. In Tokio gelang ihm mit dem NHK-Orchester (dem japanischen Rundfunkorchester) ein besonders wirkungsvoller Abend, bei dem ihm eine 5 Sterne-Besetzung seltener Güte zur Verfügung stand. Diese Sänger konnten mit wenigen Tönen eine Welt von Gefühlen ausdrücken, auch im Forte glühen ihre Stimmen von Farben - das Gegenteil einer musikalisch peinlich korrekten, aber quasi akademischen Auffassung.

    Mario del Monaco in der Titelrolle brauchte die Bühne, um ganz aus sich herauszugehen und das Klischee von bloßer vokaler Kraftmeierei zu widerlegen. Natürlich singt er nicht so kultiviert wie Jon Vickers - zum Othello paßt jedoch eine entsprechende Portion Wildheit, aber er entwickelt eine erstaunliche Ausdrucksvielfalt und mit seinem herrlichen Timbre und bemerkenswerten Nuancierungen gibt er einen Othello mit vielen Facetten. Wenn er oben als "Hysteriker" bezeichnet wird, ist das sehr treffend, aber eben nur für eine dieser Facetten. Monacos Othello ist nicht nur Feldherr, Held und Edler, er ist auch ein Emporkömmling, der sich im Grund unsicher fühlt, nicht sehr gebildet ist und sich von seinem Barbarentum eine gewisse Kindlichkeit positiv wie negativ bewahrt hat. Dieses Kind in ihm verliert bei Kränkung leicht die Beherrschung und trotzt dann auch einmal "hysterisch". Aber das Zärtliche liegt ihm ebenso wie das Befehlen; freilich wirkt er gegen Vinay mehr jugendlich.

    Seine Desdemona Gabriella Tucci ist nicht so berühmt wie die Callas oder die Tebaldi, aber diesen ebenbürtig. Sie verfügt über lyrische wie dramatische Qualitäten, legt ihren Part nicht so eindimensional-teenagerhaft an wie andere Interpretinnen. Sie vermittelt nicht nur, daß sie in ihren Gefühlen verletzt und verstört ist, sondern auch in ihrer damenhaften Würde. Sie ist eine stärkere Persönlichkeit, stimmlich voll Wärme und Farbe, eine ideale Partnerin für diesen vielseitigen Othello.

    Tito Gobbi ist erwartungsgemäß ein traumhaft satanischer Iago, der mit jedem Ton seine Lust am Bösen spüren läßt, ein absoluter Teufel in Überform, dem sein naiver Vorgesetzter einfach nicht gewachsen ist.

    Die mitreißende Aufführung (ungut wirkt nur das wiederholt vorzeitig applaudierende Publikum) glänzt auch in den Nebenrollen: Eine bessere Emilia als Anna di Stasio ist für mich kaum vorstellbar, großartig auch Mariano Caruso als Casssio und Plinio Clabasssi als Lodovico.


    5 Sterne gebühren natürlich auch Toscanini und seinem Ensemble. Maestro Toscanini demonstriert, wie man präzise Perfektion ohne Sterilität erreicht. Kunstvoller als Erede, aber nicht so elementar - ich schätze beide Auffasssungen gleich hoch.


    Ramon Vinay ist männlicher als Monaco, mehr heldisch (gar nicht so sehr wild) und läuft ab dem zweiten Akt im Dramatischen zur Höchstform auf. Im Lyrischen bleibt er einiges schuldig, überzeugt als Liebhaber im Duett mit Desdemona nicht so sehr (da fehlt ihm die sinnliche Note, die vor allem Vickers so eindringlich auszeichnet), ist dafür namentlich im letzten Akt beklemmend gut. Ich empfinde ihn stets als Edelmann, der vor allem deshalb ausrastet, weil er sich - jetzt vereinfachend formuliert - primär in seiner Ehre gekränkt glaubt, während bei Monaco die enttäuschte Liebe mindestens ebensoviel ausmacht. Vinay ist ein linearerer Charakter.

    Herva Nelli verfügt über ein viel schlankeres Organ als die Tucci, brilliert im Mädchenhaften und beschränkt sich auch viel mehr auf diese Ausdrucksdimension. Weniger Farbe, dafür mehr Schöngesang (wie es dem älteren Stil enstpricht). Das beherrscht sie aber phantastisch. Höhepunkt im letzten Akt, da zieht sie alle Register ihrer Kunst.

    Giuseppe Valdengo als Iago ist ein viel geschliffenerer Bösewicht als Gobbi, ein im Vergleich kühler, höfischer, exzellenter Intrigant, nicht ohne Eleganz.

    Nicola Moscona gibt einen würdig-patriarchalischen Lodovico.

    Virginio Assandris Cassio überzeugt in seiner naiven Bemühtheit.


    5 Sterne überall.

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Ein paar Jahre sind vergangen - und ich habe das 2009 überlesen. Entschuldige bitte! :faint:

    Es gibt nicht nur eine Verdische / Boiotische Otello Fassung sondern gleich Viere. :yes:

    Zwei sind von Verdi, zwei sind von Boito und Verdi hat dann doch die Letztfassung [eine Mischfassung Verdi und Boito) genommen. Wo jetzt da genau der Unterschied ist das müsste ich nachlesen, habe dann im Spital [im Mai ?] vielleicht dann die Zeit dazu und melde mich wieder.

    jetzt bin ich noch ratloser und verwirrter ?( ?( , weil ich bisher nur mit zwei Fassungen vertraut bin, die sich musikalisch im Chor-Finale vom 3. Akt, also nach dem " A terra!... E piangi!" bis zum "Fuggite!:" des Otello, erheblich von einander unterscheiden...

    Auf alle Fälle vielen Dank für deine Mühe !!

    Eben einen Youtube-String gefunden: vermutlich einer der ersten Otello-Wiedergaben unter der ML von James Levine (28.09.75, Hamburg) in der BRD bzw. Europa; aus NYC existieren spannende Mitschnitte vom 09.12.72 + 09.02.74 (bin allerdings überhaupt kein großer Fan von Domingo, aber vielleicht dennnoch interessante Gestaltung der Titelpartie)

    "http://www.youtube.com/watch?v=J10dDeG19Zo&feature=youtu.be"

    Tonquali vermutlich Inhouse, hat aber den Vorteil, dass das Orchester von den Stimmen nicht völlig zugedeckt wird.

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • ..... Anmerkungen zum Lied von der Weide

    Anlass: Am kommendem Samstag wird vom 3sat Verdis Otello gesendet.

    Der 4. Akt von Verdis Meisterwerk wird in der ersten Hälfte von Desdemona und Emilia geprägt (Lied von der Weide und Ave Maria)

    Die Instrumentation dieser Szene ist sparsam, eigentlich kammermusikalisch gefasst; eine Art Minimalismus, der dabei einzelnen Tönen bzw. kleinsten Motiven, kurze Phrasen sehr vieldeutigen Ausdruck bzw. Relevanz zuweist.

    Desdemona ist sich bewusst, dass sie von Otello getötet werden wird. Die Mucke Verdis und der Text Boitos bieten dazu genügend Hinweise.

    Im Gegensatz zum „O patria mia“ der Aida hat m.E. das Lied von der Weide – obgleich eigentlich auch strophisch organisiert – sehr viel stärker die Tendenz, in Einzelteile auseinander zu driften. Deutet das auf mögliche Brüche hin von Desdemonas Erinnerungen, auf einen psychischen Schock als Folge ihrer entsetzlichen Demütigung durch Otello oder ist es ein Merkmal der späten Mucke Verdis ?

    Vor allem Desdemonas rezitativische Einschübe zersplittern das Lied von der Weide in Bruchstücke:
    „Riponi quest’anello.“

    Wobei folgender verzweifelter Einschub ganz unmissverständlich Desdemonas Todesangst ausdrückt:
    “Ascolta. Odo un lamento.
    (Emilia fa qualche passo.)
    Taci... Chi batte quella porta?”


    http://www.youtube.com/watch?v=J10dDeG19Zo”

    Nach dem 2. gesungenen Salce-Refrain also bei 113:33 spielt ein Englischhorn das Echo.
    Sowie erneut bei 114:44 nach dem gesungenem "Salce! Salce! Salce!”

    117:42 noch einmal der Salce-Refrain durch den Sopran. Der Hörer, eingebunden im musikalischen Verlauf, erwartet erneut das Echo vom Englischhorn. Vergebens.
    Desdemona setzt rezitativisch fort mit:
    “Emilia, addio.
    Come m’ardon le ciglia!
    È presagio di pianto.”

    Und an Stelle des erwarteten Echos folgt (117:51) bloß noch ein lang gezogenes F der Klarinette, wie ein in sich zusammensinkender und ausröchelnder Luftballon: Höchstmaß an Desillusion: Desdemonas Eindenken/Rückzug in Erinnerung/Vergangenheit ist nunmehr versperrt; das Lied der Barbara, an das sie sich versuchte festzuzurren (als Identifikation mit ihrem eigenem Schicksal), verstummt entgültig.

    Ehe tiefe Kontrabässe (ohne weitere Instrumente) als unbarmherziger und fahler Kontrast einsetzen, (124:37), bekräftigt noch einmal eine sehnsuchtsvolle, jedoch abfallende Streicherfigur (nach dem „Ave, Amen“, ab 123:54, vor ihrem Einschlafen) diskret Desdemonas Gebundenheit – bzw. Klammerung - an ihre letzten Lebensmomente. Sie endet mit der Anweisung „morendo“ ......

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Waldi hat oben den Unterschied zwischen del Monaco live und im Studio beschrieben. Positiver als im tradierten Klischee kann man del Monaco auch in dieser Aufnahme erleben, die mit Gobbi zudem einen hervorragenden Jago aufweist.

    Der (nicht gute, aber für ein Hörvergnügen ausreichende) Klang, die Qualität des Orchesters usw. tun nichts zur Sache. In dieser Aufnahme wird Bühne live geboten, wird das Drama gelebt, schmeckt man das Holz des Bühnenbodens und jubeln die Zuschauer lauthals. Sehr unterhaltsam.

  • Positiver als im tradierten Klischee kann man del Monaco auch in dieser Aufnahme erleben

    Nix für mich. Ich habe nur Ausschnitte von Youtube gehört, aber selbst als zirzensisches Vergnügen kann ich das nur in Grenzen goutieren. Am Venere splende des Liebesduetts sind ja schon einige Tenöre gescheitert, aber mit dem Klang und der Lautstärke einer Kreissäge hab ich's noch nicht gehört. Dio, mi potevi scagliar im dritten Akt: was auch immer Verdi sich unter einer voce soffocata im vierfachen piano vorgestellt hat - das sicher nicht. Zudem wechselt del Monaco dabei ins Sprechtheater und lässt Tondauern und -höhen einen guten Mann sein. Beeindruckend am Ende dieser Szene das gefühlt zwanzig Sekunden lang ausgehaltene hohe b auf gioia, zu Recht mit spontanem Szenenapplaus gewürdigt. Gobbi beeindruckend, klar, aber auch sehr auf Effekt singend. Am besten gefällt mir Ilva Ligabue, die ich bisher nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Buona notte!

    :wink:

    .

  • Auf Effekt singend, ja, ohne Zweifel. Das lässt mich fragen, ob es einen Unterschied der Maßstäbe zwischen einer Bühnen-Live-Aufführung gibt und einer, tja, "richtigeren" Studio-Aufführung. Ich bejahe diese Frage. In einer Live-Aufführung möchte ich lebendiges Theater erfahren. Oft verbunden ist damit das Hineingezogen-werden in die Aufführung, das Unterhalten-werden. Musikalische Fragen (Stimmtechnik, gesungene Noten, Transponieren, Fassungen) sind für mich in diesem Kontext deutlich nachrangig.

    Die Palermo-Aufnahme bietet in diesem Sinne lebendiges Theater. In ihr erfahre ich die Akteure und durch sie das Drama nahezu körperlich, bin ich quasi hautnah dabei. Niemals würde ich hingegen auf diese Aufnahme zurückgreifen, wenn es um die beste Aufnahme von xy etc. ginge. Ist aber auch ein anderes Paar Schuhe. Demgemäß meine ich, dass dem Mitschnitt nicht mit dem auszugsweisen Hören der typischen Stellen beizukommen ist. Verloren geht dabei die Atmosphäre, die sich eben langsam aufbaut und auf der die Sänger/Schauspieler in ihren späteren Übertreibungen bewusst und publikumswirksam ("auf Effekt") segeln.

  • Das lässt mich fragen, ob es einen Unterschied der Maßstäbe zwischen einer Bühnen-Live-Aufführung gibt und einer, tja, "richtigeren" Studio-Aufführung. Ich bejahe diese Frage. In einer Live-Aufführung möchte ich lebendiges Theater erfahren. Oft verbunden ist damit das Hineingezogen-werden in die Aufführung, das Unterhalten-werden.


    Da gehe ich prinzipiell mit. Genau deshalb habe ich aber geschrieben: "selbst als zirzensisches Vergnügen kann ich das nur in Grenzen goutieren". Manchmal ist der Mitschnitt ja ganz amüsant, manchmal auch musikalisch solide bis gut. Aber ich finde del Monacos Stimme mit ihrem metallisch-starren Timbre, ihrer Unfähigkeit, differenzierte Gefühlsregungen zum Ausdruck zu bringen, so scheußlich, dass ich schon deswegen nicht "hineingezogen", sondern abgestoßen werde. Hinzu kommt dieses Freistilsingen ohne größere Rücksicht auf das Notierte. Das ist für mich allenfalls noch als Dokument einer vergangenen Vokalpraxis interessant, die Faszination theatralischer Präsenz spüre ich nicht im mindesten. Eher eine karikatureske Wirkung.

    :wink:

    .

  • Beeindruckend am Ende dieser Szene das gefühlt zwanzig Sekunden lang ausgehaltene hohe b auf gioia, zu Recht mit spontanem Szenenapplaus gewürdigt.

    hab mir eben auch mal Monolog "Dio mi potevi" vom Mitschnitt reingezogen. Hab aber viel Bauschmerzen in den Applaus vom Auditorium über Monacos hohes b einzustimmen. Das b zwar eine vom Wert her ganz Note (jedenfalls im Klavierauszug), aber m.E. zu lange ausgehalten. So kackt diese Chose mir ab zum bloßen Effekt. Und das versemmelt mir Monolog und frisst auch Monacos "dolce" gesungenes "l'anima acqueto." an, weils halt rückwirkend gleichfalls sich als bloßer Effekt entpuppt...

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Buenos Aires - Teatro Colon 19.05.1963

    Angeregt durch einen Schauspielbesuch des Othello (in Stuttgart) habe ich mir mal wieder einen Verdi gegönnt. Wien / Solti / DECCA war meine erste Gesamtaufnahme (LP - immer noch sehr gerne gehört). Heute jedoch live aus dem Colon:

    mit Jon Vickers, Louis Quilico, Eugenio Valori, Virgilio Tavini, Raina Kabaivanska, Hector Barbieri
    Orchestra del Teatro Colon, Berislav Klobucar

    Wilde Bühnengeräusche und viel Dramatik. Insgesamt gut zu hören und Vickers immer wieder klasse!

  • Manchmal ist der Mitschnitt ja ganz amüsant, manchmal auch musikalisch solide bis gut. Aber ich finde del Monacos Stimme mit ihrem metallisch-starren Timbre, ihrer Unfähigkeit, differenzierte Gefühlsregungen zum Ausdruck zu bringen, so scheußlich, dass ich schon deswegen nicht "hineingezogen", sondern abgestoßen werde.

    Das kann ich so gut verstehen. Del Monaco, so sehr ich die schiere physische Kraft solch einer Stimme heute gerne schlichtweg mal höre möchte, hat mich nie angesprochen. Er hatte für mich immer etwas von einem Schlachter, etwas Brutales, dem gerade als Otello jede Empfindsamkeit, jeder Sinn für Zwischentöne abging. Wobei ich, aus eigener Erfahrung, immer einen Unterschied machen würde zwischen dem persönlichen Erlebnis einer Opernaufführung und dem Konservierten einer Schallplatte. Ich habe Otellos erlebt, die ich mir kaum anhören würde, die ich aber auf der Bühne faszinierend fand.

    mit Jon Vickers,

    Wie ist denn Vickers live als Konserve. Mit Sicherheit nichts im Vergleich zur wirklichen Aufführung, aber trotzdem - wie kommt er rüber? Ich kenne ihn nur in der Studioproduktion. Da fand ich ihn schon toll, aber live ist ja noch mal eine andere Sache.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Vickers im Colón 1963

    Wie ist denn Vickers live als Konserve. Mit Sicherheit nichts im Vergleich zur wirklichen Aufführung, aber trotzdem - wie kommt er rüber?

    Also nachdem ich mich in die zeittypische Klangwelt (live 1963) eingehört hatte, war alles sehr stimmig. Vickers überzeugt bis zum Ende. Der vierte Akt ist wirklich hörenswert. Aus meiner Sicht eine überzeugende Rollengestaltung vom Beginn bis zum tragischen Ende mit Selbtszweifel und Selbsterkenntnis.

    Wie der Besuch einer "wirklichen Aufführung" gewirkt haben mag, kann ich nicht beurteilen; die Konserve vermittelt zumindest eine Idee davon. Und das hat mir gefallen. Auch die Kabaivanska fällt da nicht ab!

  • Dank dir für deinen Eindruck.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Gibt es Meinungen zu dieser Aufnahme?

    Ich bin befangen, mag Kaufmanns Stimmtechnik einfach nicht bzw. höre ihm grundsätzlich nicht gern zu (klar, es gibt Ausnahmen, aber wenige). Vor einigen Tagen hat mich diese Aufnahme denn auch kalt gelassen. Das lag aber nicht nur an Kaufmann, sondern es gab mir insgesamt zu wenig Drama.

    Mir fällt das ein, weil ich gerade einen Mitschnitt mit Del Monaco höre: 1958 unter Cleva aus New York mit Warren und los Angeles (bei Myto Records, nicht der oben gezeigte). Hier gibt es schiefe Töne ohne Ende und ich kann diese Aufnahme nicht empfehlen. Was es aber gibt, ist Drama (man vergleiche nur die Anfangsszene. Das mag man als ungenügend abtun und da bin ich dabei, aber sind umgekehrt schöne Stimmen ohne Drama im Otella am richtigen Ort?

  • Offenbar mögt ihr Kaufmann auch nicht oder kennt die CD nicht oder er langweilt einfach. :sleeping:

    Viel interessanter als die neue Pappano-Aufnahme ist es dann auch, in den Archiven der Gesangskunst den Helden von einst nachzuhören, z. B. Zenatello:

    Zenatello war der Otello seiner Zeit. "He performed this extremely taxing role more than 300 times, beginning in 1908, and recorded highly acclaimed extracts from the work on 78-rpm discs", heißt es bei Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Zenatello).

    Tatsächlich nimmt er mich trotz der tontechnischen Zeitumstände (ich bin solch alte Aufnahmen gewohnt) immer wieder für sich ein. An manchen Stellen denke ich aber auch, dass er heute womöglich gar nicht engagiert wüde. Ein weiteres Beispiel für persönliche Gestalung außerhalb des heute Tolerierten?

  • Gibt es Meinungen zu dieser Aufnahme?

    Ich bin befangen, mag Kaufmanns Stimmtechnik einfach nicht bzw. höre ihm grundsätzlich nicht gern zu (klar, es gibt Ausnahmen, aber wenige). Vor einigen Tagen hat mich diese Aufnahme denn auch kalt gelassen. Das lag aber nicht nur an Kaufmann, sondern es gab mir insgesamt zu wenig Drama.

    Mir fällt das ein, weil ich gerade einen Mitschnitt mit Del Monaco höre: 1958 unter Cleva aus New York mit Warren und los Angeles (bei Myto Records, nicht der oben gezeigte). Hier gibt es schiefe Töne ohne Ende und ich kann diese Aufnahme nicht empfehlen. Was es aber gibt, ist Drama (man vergleiche nur die Anfangsszene. Das mag man als ungenügend abtun und da bin ich dabei, aber sind umgekehrt schöne Stimmen ohne Drama im Otella am richtigen Ort?

    Siehe hier !

    LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

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