George Crumb - Geheimnis, Nacht und Numerologie
Das 20. Jahrhundert hat zwei Komponisten hervorgebracht, die ich als Mystiker bezeichne: Olivier Messiaen und George Crumb. Wie der Franzose, so verwurzelt freilich auch der US-Amerikaner seine Mystik in völlig rationalen Überlegungen. Sein extrem skrupulöses Arbeiten und die fast ausschließliche Beschränkung auf kleine Besetzungen verursachen jedoch, daß Crumb niemals so stark ins Bewußtsein gedrungen ist wie Messiaen.
Crumbs Leben verläuft denkbar unspektakulär: Er wird am 24. Oktober 1929 in Charleston, West Virginia, geboren und beginnt sehr früh zu komponieren. Er absolviert sein Kompositionsstudium in den USA und in Berlin, nimmt diverse Lehraufträge amerikanischer Universitäten an. 1968 erhält er den Pulitzer Preis für sein Orchesterwerk "Echoes of Times and Rivers".
Crumbs Tochter Ann ist erfolgreich als Sängerin und Schauspielerin tätig, sein Sohn David arbeitet ebenfalls als Komponist. Mehr ist biographisch nicht zu sagen, und Crumb hat sein Privatleben auch nie öffentlich gemacht.
Crumb ist eines der originellsten und geschlossensten Oeuvres zu verdanken, das die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts besitzt. Drei Mal, und nur in Frühwerken, läßt sich Crumb von der Zwölftontechnik Webern'scher Prägung beeinflussen: "Gethsemane" (1947), "Dyptich" (1955) und, am strengsten komponiert, "Variazioni" (1959).
Danach beginnt Crumb eine Reise in den Klang - und eine Reise in die Nacht. Zahlreiche seiner Werke nämlich sind Nachtmusiken, manche expressis verbis, manche durch ein eindeutiges Klangvokabular. In nahezu allen Werken gibt es Geheimnis und Ritual. Crumb nützt dabei neuartige Spieltechniken ebenso, wie er seinen Instrumentalisten und Vokalisten Ungewöhnliches abverlangt. So müssen seine Instrumentalisten auch singen und flüstern, Pianisten spielen nicht nur auf den Tasten sondern zupfen auch die Saiten des Klaviers an, die Musiker des Streichquartetts "Black Angels" spielen auch Schlaginstrumente - und ihre Streichinstrumente sind elektronisch verstärkt.
Überhaupt ist "Black Angels - Thirteen Images from the Dark Land" ein Höhepunkt im Schaffen Crumbs und ein Meilenstein der Quartett-Literatur. Das Werk basiert auf der Numerologie, die Strukturen entwickelt Crumb aus den Zahlen 7 und 13. Dazu kommen Zitate und Anspielungen, etwa Schuberts "Tod und das Mädchen", Tartinis "Teufelstriller" und Beethovens "Les Adieux"-Sonate. Crumbs Musik kümmert sich dabei nicht um stilistische Reinheit, er läßt Atonales ebenso zu wie Tonales. Geistig ist das Werk, geschrieben laut Partitur "in tempore belli" (in einer Zeit des Krieges), eine Auseinandersetzung zwischen Kräften des Guten und des Bösen, und zwar in einem durchaus religiösen, sogar apokalyptischen Kontext.
Ähnlich bedeutend ist der vierteilige Zyklus "Makrokosmos". Die Teile eins und zwei sind für Klavier zu zwei Händen geschrieben, der Teil drei für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger, der Teil vier für zwei Klaviere. Abermals spielt die Numerologie eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Strukturen, wobei vor allem aus der Astronomie abgeleitete Zahlen prägend wirken.
Das wichtigste Vokalwerk Crumbs ist wohl "Ancient Voices of Children" (1970) für Mezzosopran, Knabensopran, Oboe, Mandoline, Harfe, elektronisch verstärktes Klavier, Spielzeugklavier und drei Schlagzeuger. Die Texte stammen von Federico Garcia Lorca. Die Musik scheint von Geheimnissen und alten Ritualen zu künden, die Atmosphäre ist spannungsgeladen, sogar unheimlich. Die Beschreibung der Nacht wird zur Beschwörung menschlicher Abgründe.
Auch "A Haunted Landscape" für Orchester verschreibt sich dieser Nachtmusik. Tonale Akkordfolgen in den Streichern, kaum je zuvor gehörte Schlagzeugklänge, abrupte Rufe der Bläser, das alles über einem unverändert gehaltenen leisen Baßton, lassen den Zuhörer erschauern. Vordergründige Gruselmusik - oder eben doch der Blick dorthin, wo das Grauen entsteht, nämlich in der menschlichen Seele?
Crumbs Musik ist verletzlich, denn sie ist spekulativ. Sie verteidigt sich nicht durch objektivierbare Systeme, sondern ist völlig subjektiv - und ihr Vokabular ist alles andere als stilistisch rein: Von Bartók abgelauschte melismatische Tonfolgen von engem Umfang gibt es da ebenso wie mahler'sche Melodiegesten, scharf dissonante Akkordfolgen, Cluster - aber auch simple Dreiklänge. Crumb verwendet sein Material wie Vokabular, er versucht, Musik durch akustische Symbole sprechen zu lassen - dem Zuhörer aber bleibt es überlassen, die Schlüssel für die Themen, zusammengesetzt aus Nacht und Geheimnis, zu finden.