Reger, Max - die Kammermusik

  • Der Unterschied ist eben, dass in der Chor- und erst recht Orgelmusik Reger kein Nischendasein fristet. Er dürfte für Organisten im deutschsprachigen Raum nach Bach der wichtigste Komponist sein und in der (spät)romantischen Chormusik zusammen mit Brahms, Mendelssohn... ebenfalls ein Standardkomponist. Daher kann man von der relativen Bekanntheit Regerscher Werke auf diesen Gebieten nicht auf das der Kammermusik schließen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Daher kann man von der relativen Bekanntheit Regerscher Werke auf diesen Gebieten nicht auf das der Kammermusik schließen.

    Das ist schon richtig. Meine Bemerkung ist ja auch eher ein Ausdruck von Hoffnung als eine Vermutung bzw. Prognose. Regers Kammermusik - soweit mir bekannt (etwa durch die erwähnten MDG-Aufnahmen) - verdient jedenfalls m. E. eindeutig mehr Beachtung!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Er dürfte für Organisten im deutschsprachigen Raum nach Bach der wichtigste Komponist sein und in der (spät)romantischen Chormusik zusammen mit Brahms, Mendelssohn... ebenfalls ein Standardkomponist.

    Meines Erachtens ist die Wahrnehmung Regers sehr selektiv, und zwar in noch stärkerem Maße als z. B. bei Beethovens Klaviersonaten. Dort sind bspw. op. 53 und op. 57 Kernrepertoire im engsten Sinne und op. 54 - na ja, kommt in Gesamtaufnahmen halt vor.

    Ähnlich bei Regers Orgelmusik. Dort dominieren wohl B-A-C-H, die Morgenstern- und die "Wachet auf"-Fantasie sowie die 2. Sonate d-Moll. Die "Symphonische Phantasie und Fuge und Fuge d-Moll op. 57" habe ich in den vergangenen Jahren häufiger auf Konzertprogrammen gesehen, das Werk scheint im Kommen zu sein. Dann gibt es noch die Schlager aus op. 59, Toccata d-Moll und Fuge D-Dur sowie Kyrie, Gloria und Benedictus. Und dann? Die genannten Stücke passen locker auf zwei CDs, aber GAn Regerscher Orgelmusik sind so zwischen 12 und 16 CDs.

    Bei Regers Chormusik ist es m. E. nicht wirklich anders. Op. 138 (Acht geistliche Gesänge) ist ziemlich prominent, dann wird es dunkel. Im vergangenen Jahr erschien die erste GA der Regerschen Choralkantaten seit (gefühlt) Jahrzehnten ...

    Außerdem wollte ich nochmal die m. E. sehr hörenswerte und zudem günstige GA der Streichquartett mit dem Berner Streichquartett bei cpo empfehlen:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • aber GAn Regerscher Orgelmusik sind so zwischen 12 und 16 CDs.

    .. und davon gibt es schon einige: Rosalinde Haas, Bernhard Bultmann, Kurt Rapf, diverse bei Naxos, Roberto Marini (noch nicht ganz komplett, bis Vol9). Von Rheinberger gibt es meines Wissens erst 2 Gesamtaufnahmen (MDG und Naxos). Auch die Franzosen, von Franck mal abgesehen (war ja auch Belgier, wie Hercule Poirot), sind nicht so häufig komplett aufgenommen worden. Die Organisten kümmer sich also schon recht gut um Reger.

    Übrigens bin ich bei Bultmann jetzt eingestiegen, nachdem mich die Naxos Serie nicht überzeugt hat. Eine sehr gute Einspielung zu einem fairen Preis.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Übrigens bin ich bei Bultmann jetzt eingestiegen, nachdem mich die Naxos Serie nicht überzeugt hat.

    Ich glaube, MB hat sich bei Bultmann schon kritischer geäußert. Würde mich freuen, etwa dort (Max Regers Orgelwerk — Bach 2.0) Genaueres zu lesen, vielleicht zieht's mich ja auch mal zur Anschaffung von Reger-Orgel-CDs.

    Doch vorerst würde ich lieber meinen Reger-Kammermusik-Horizont erweitern. Der Kerl hat ja - dort wie hier - so viel hinterlassen... :schwitz1:

    :)

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Übrigens bin ich bei Bultmann jetzt eingestiegen,

    "Bultmann" heißt ein prominenter Theologe, der gerne als Antipode zu Karl Barth gesehen wurde und wird. ;)

    Gemeint ist wohl Bernhard Buttmann:

    Gruß
    MB

    :wink:

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  • Auch diese Aufnahme des Klaviertrios e-moll op. 102 wurde noch nicht erwähnt. Die Aufnahme mit dem Hyperion-Trio, das auch noch zwei hübsche Largo-Stücke anfügt, finde ich recht gelungen, kenne allerdings keine Alternativeinspielungen:

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Von der Orgelmusik gibt es aber immerhin einige Gesamtaufnahmen. Von der Klaviermusik eine, von der Kammermusik nur die alte "Da camera magna" aus den 70ern.
    Bei der Klaviermusik gilt noch viel stärker, dass nur zwei Werke (die beiden Solovariationen) einigermaßen bekannt sind, wenn auch sicher kein einziges davon ein Standardwerk für Pianisten wie etliche Reger-Werke für Organisten. Bei der Kammermusik dürfte das einzige "Standardwerk" das Klarinettenquintett sein, was nicht nur an der relativen Zugänglichkeit, sondern sicher noch mehr daran liegt, dass nur noch drei weitere Werke dieser Gattung wirklich bekannt sind (obwohl es sowohl aus Früh- wie auch aus Spätromantik/Moderne eine ganze Reihe weiterer gibt).

    Das Oeuvre ist riesig für einen Komponisten, der nur 43 Jahre alt wurde und um 1900 lebte: etwa so viel Kammermusik und beinahe so viele Klavierwerke wie Beethoven, beinahe so viele Orgelmusik wie Bach usw. Wenn davon ein größerer Teil geschätzt würde, müssten wir Reger wohl erheblich höher schätzen, als wir es letztlich tun, nämlich als einen Giganten, mindestens im Range Brahms'.

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    (B. Pascal)

  • Kleine Nebeninfo: Guido Schiefen und Jacob Leuschner haben bereits die komplette Kammermusik Regers für Cello und Klavier (ich meine 4 Sonaten und ein paar Einzelsätze) eingespielt, die Aufnahme soll im August bei Oehms Classics erscheinen.

  • Das Oeuvre ist riesig für einen Komponisten, der nur 43 Jahre alt wurde und um 1900 lebte: etwa so viel Kammermusik und beinahe so viele Klavierwerke wie Beethoven, beinahe so viele Orgelmusik wie Bach usw. Wenn davon ein größerer Teil geschätzt würde, müssten wir Reger wohl erheblich höher schätzen, als wir es letztlich tun, nämlich als einen Giganten, mindestens im Range Brahms'.

    Das kann man nur unterschreiben. Na, ob er wirklich eventuell im Range Brahms' war, sei mal dahingestellt. Schwierige Sache, das mit den Rängen. Aber dass Konzertprogrammanteile (außer bei deutschen Organisten - die Franzosen meiden Reger ...) und Aufnahmezahlen der kompositorischen Leistung nicht annähernd Rechnung tragen, ist wohl kaum zu bezweifeln.

    Bei Reger kommt halt erschwerend hinzu, dass er in den renommiertesten Gattungen nichts vorgelegt hat - keine Oper, keine Sinfonie.

    Gruß
    MB

    :wink:

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  • Max Reger - Werke für Violoncello - Konzert in Bern am 18.6.2016 (Teil 1)

    Der Duft von heiss gebrühten Weisswürsten zieht verführerisch durch die Arkaden der malerischen Altstadt des (asiatisch-touristisch durchwaberten) UNESCO-Weltkulturerbes Bern und wirbt (vergeblich) für einen Anlass, welcher demjenigen Tonwurstler gewidmet ist, von dem kolportiert wird, dass er im Stande gewesen sei, an einem einzigen Abend ganze 40 Stück dieser weissen Leckerschläuche zu vertilgen. (Ob er sich allerdings nach dieser Kulturtat noch regen konnte, wird nicht überliefert...)

    Kulturerbe hin oder her: die durchaus unbernischen Duftschwaden vermochten höchstens zwei Dutzend eingefleischte RegerianerInnen in die Musikhalle des Konservatoriums zu entführen, wo letzten Samstag nachmittag und abend sämtliche Werke für Violoncello zur Aufführung kamen.

    Diese schlechte Resonanz spiegelt das Mass der Relevanz des musikalischen Kulturerbes Europa`s wider, welches natürlich auch keine chinesischen Touri`s hinter ihren Selfiesticks hervorlocken konnte, zumal die Gehetzten Townhoppers auf ihrem obligaten Europatrip vielleicht bereits tags zuvor in München in ähnlich duftende Schwaden eingehüllt worden sind, wodurch deren europäische Sightseeingtour in der Erinnerung noch mehr zusammengewurstelt wird. (I`m kidding - denn letztlich ist Bern angewiesen auf die Touristen, die jeden Sommer die Stadt gleichsam überrennen.)

    Schade, dass so viele Menschen ein exquisites Reger-Fest verpasst haben, da zu allem Überfluss auch noch die (pfostengestoppten) Regungen eines wohlgeformten Ronaldus Maximus die Aufmerksamkeit absorbiert haben mögen (nix dagegen) und der fette Max aus Weiden-München-Meiningen mit seinen steilen Klangpässen in der Rezeption ja ohnehin einen schweren Stand hat (wozu der Weisswurst- und Bierbauch allerdings auch beigetragen haben mag) und deshalb im Ranking der europäischen Spitzentonjongleure nicht allzuweit oben figuriert.

    Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich hier (im EM-Fieber) ziemlich ungebührlich rumkalauere, und ich möchte deshalb gleich vorweg bekennen, dass mir sowohl die Musik, wie auch die Person von Max Reger sehr nahe stehen.

    Zwischen den beiden ehernen Pfosten „Mahler“ und „Schönberg“ könnte Reger doch in der Tat die verbindende Tor-Latte repräsentieren. Das wabernde Netz mag dann ein anderer Verkannter, der Charles Koechlin knüpfen, ein musikalischer Kosmopolit, der ohnehin zwischen allen Maschen hindurchfällt und gleichzeitig alle damaligen musikalischen Strömungen einfängt. Der Erdboden im Torraum möge dann schliesslich dem pazifistische Briten Frank Bridge zustehen.

    So stelle ich mir - zugegebenermassen etwas an den Haaren herbeigezogen - das Tor zur europäischen Musik um die Jahrhundertwende vor, ein Tor, das es auch in gegenwärtigen Umbruchszeiten zu hüten gilt. Aber die Goalies in den Parlamenten und Konzernen haben andere Sorgen. Immerhin wird das vom Untergang bedrohte europäische Jugendorchester EUYO nun wohl doch gerettet werden. Die Einsichten in die wirklichen Notwendigkeiten scheinen zu wachsen, allerdings leider zu spät, um die schändliche Fusion der Orchester von Freiburg und Stuttgart noch zu verhindern.

    Dass man in Zeiten der europäischen Desintegration überhaupt auf den Gedanken kommen kann, das famose und exemplarisch integrative EUYO fallen zu lassen, beweist die Ignoranz und mangelnde Weitsicht der TorhüterInnen, die nur durch die Brille eines massiven Engagements namhafte Musiker (u.a. Simon Rattle, der ein Konzert unterbrochen haben soll zur Durchsage seines Protests!) korrigiert werden konnte.

    Als warnendes Fanal möge uns der Umstand dienen, dass der sensible Max völlig zerbrochen ist, als sein ehemaliges Orchester in Meiningen (die Hofkapelle war das damalige Eliteorchester Europa`s) nach dem Tod seines Mäzens, dem Theaterherzog Georg II im Jahr 1914, quasi dem Krieg geopfert und aufgelöst wurde, um dann erst 1921 wieder zum Leben erweckt zu werden.

    Zeiten, wo Orchester geopfert werden, sind gefährliche Zeiten. Wenn etwas Europa einen könnte, dann ist es doch die starke Musiktradition in allen assoziierten Ländern. MusikliebhaberInnen aller Länder: wehrt euch gegen fatale Tendenzen!

    Doch zurück zum Anlass von Samstag. Reger ist mir wie gesagt ein guter Begleiter.
    Dessen sechs Streichquartette - als Lokalpatriot präferiere ich natürlich die cpo-Aufnahme mit dem Berner Streichquartett - gehören zu meiner regelmässig konsumierten Survival-Kost. Der nahrhafte Kosmos dieser „Streichersymphonien“ ist nachhaltig und langweilt mich nie, da ich in diesen tiefgründigen Werken immer wieder ungehörte Nebenstimmen entdecken kann. Reger gehört also durchaus zu meinen Favoriten. Nicht von ungefähr hat er das gleiche Geburtsjahr wie Rachmaninoff (mein absoluter Liebling) und ist damit nur ein Jahr älter als Schönberg (mein relativer Liebling).

    Umsomehr war ich hocherfreut, als mich gestern eine Mail erreichte mit einer persönlichen Einladung an die löbliche Veranstaltung mit Werken, die mir bisher kaum bekannt waren. Die Nachricht war ein Buschklopfer für mich. Das wollte ich einfach einmal erleben: vier Stunden voll die Reger-Dröhnung!

    Es war mehr als nur auszuhalten, zumal - wie anfangs erwähnt - in den Pausen zwischen den drei Konzertsequenzen mit Brezeln und Wurst und passenden Getränken auch für das leibliche Wohl gesorgt wurde, grosszügig spendiert von der Musihochschule, deren Honoratioren allerdings auch durch Abwesenheit glänzten. Selbst schuld, sie haben etwas Grosses verpasst. Aber man kann es der gestressten Lehrerschaft ja auch nicht wirklich verargen in der prüfungsintensiven Zeit gegen Ende des Studienjahrs... und dann auch noch ausgerechnet (und ausschliesslich!) Reger ... nee! Das ist auch für gestandene Musiker oft schlicht too much.

    Mit Reger ist nach wie vor kein Staat zu machen. Die Vorurteile der Schwülstigkeit seiner Produkte hält sich immer noch zäh, sogar auch bei den Musikern, von denen sich die Wenigsten wirklich die Mühe machen, aufmerksam in die Partituren reinzuschauen, um dann angesichts der kunstvoll verwobenen Chromatik in schieres Staunen zu geraten ob der unglaublichen Handfertigkeit des deutschen Meisters (... und nein, ich meine nicht den ...), die ihn längst von der kleinmeisterlichen Bande ins Zentrum des musikalischen Spielfelds in Europa rücken müsste.

    Es war ein beglückendes und hochsinnliches Reger-Gedenkfest zu dessen hundertstem Todestag. Zum Glück habe ich mich aus meinem stillen Kämmerlein aufraffen können. Noch lange wird das Erlebnis in mir nachklingen und auch mein durchaus herausgeforderter Verdauungstrakt wird sich hoffentlich bald einmal beruhigt haben...

    Kammermusik scheint ja nun nicht gerade der adaequate Begriff zu sein für Reger`s opulente Werke für kleine Besetzung, wird in ihnen meines Erachtens doch oft geradezu ein symphonischer Kosmos beschworen. Es braucht allerdings grosse Könnerschaft um trotz der Notendichte auch in den „kleinen“ Besetzungen eine gewisse Transparenz zu erhalten.

    Die hervorragende Akustik im Konzertsaal des Konservatoriums Bern (eine holzgetäfelte Schuhschachtel, in welcher einst Pollini seine ersten Aufnahmen realisierte) garantiert eine erstaunliche Durchhörberkeit der komplexen Partituren. In dieser Hinsicht muss an erster Stelle die phänomenale Korrepetitorin Tamara Chitadze erwähnt werden: ihr gelang das Kunststück, nicht nur die Partituren in kürzester Zeit neu einzustudieren, sondern sie dann auch noch mühelos und mit stupender Virtuosität zu realisieren, ohne es dabei an Kraft und Dringlichkeit mangeln zu lassen. Die jungen Cellotalente wissen diese souveräne Unterstützung und CoCreation (von Begleitung zu reden wäre geradezu unverschämt) sicherlich zu schätzen.

    Womit nun auch die MusikerInnen namentlich erwähnt werden sollen, die ohne Fehl und Tadel auf einem hervorragenden Niveau sich der grossen Aufgabe gestellt haben.
    Es sind dies: Eric Abeijon, Nikolaus Böhm, Sarah Kim, Eros Jaca, Matthieu Gutbub und Anna Minten, allesamt bestens vorbereitete und hoch motivierte StudentInnen des eminenten Violoncello-Paedagogen Prof. Conradin Brotbek (Stuttgart/Bern).

    Brotbek war Student bei William Pleeth, und dieser war Schüler von Piatigorsky, der seinerseits beim Reger-Schüler Julius Klengel sein Rüstzeug geholt hat. In diesem Sinne war durchaus ein roter paedagogischer Faden bis zurück zu Reger knüpfbar, und damit auch zur deutschen Celloschule, deren Primat nach dem ersten Weltkrieg wohl aus politischen Gründen von der französischen und der russischen Ebensolchen abgelöst wurde. Auch wenn es sicherlich zahlreiche Piatigorsky-Pleeth-Adepten gibt, darf Conradin Brotbek eine gewisse Authentizität in der paedagogischen Animation in Sachen Reger durchaus zugestanden werden. Das gestrige Hörerlebnis war jedenfalls gleichsam der Beweis dafür.

    Teil 2 folgt.

  • Reger: Werke für Violoncello - Konzert in Bern am 18.6.2016 (Teil 2)

    Um die Bedeutung des Anlasses zu untermauern, war sich der neue Hochschuldozent für Violoncello in Bern, der junge Kanadier David Eggert nicht zu schade, für einen krankheitshalber verhinderten Protagonisten des Cellofestivals kurzfristig einzuspringen: Und was für ein Sprung war das denn?! Ein jump over the moon! Er hat sich innert kürzester Zeit in das Werk eingearbeitet und lieferte eine fulinante Deutung der G-Dur Suite op 131c, mit einer Art von Cellospiel, die ich in dieser Intensität (notabene ohne Stachel unter dem Korpus und ohne Schuhe unter den Füssen) kaum je live erlebt habe. Ganz grossartig!

    Aber die StudentInnen standen dieser Leistung kaum nach. Das Niveau war enorm hoch.
    Jeder und jede MusikerIn war seiner/ihrer Partitur absolut gewachsen, für mich vielleicht am Eindrücklichsten Anna Minten mit der vierten Sonate a-moll, op 116 aus dem Jahre 1914, ein Werk aus einer Lebensphase, wo Reger nach seinem Zusammenbruch am Pult der meininger Hofkapelle und nach Beginn des ersten Weltkrieges (leichtsinnig und fatal provoziert von „Schlafwandlern“ und „Hasardeuren“, wie sie fatalerweise auch heutzutage wieder herumgeistern) mehr resigniert als abgeklärt der Neutönigkeit abschwört und zurückblickt auf Beethoven. Es war eine hochkonzentrierte und überaus reife Deutung der jungen Cellistin und ein würdiger Abschluss der ganzen Veranstaltung.

    Aber wenn man schon Anna Minten erwähnt, muss man unbedingt auch Eric Abeijon nennen, der den Anlass eröffnet hat und zwar mit einer fabelhaften Interpretation des wilden Jugendwerks op 5, technisch ohne Fehl und Tadel, mit der nötigen Prise an Leichtsinn und Sturmunddrang.

    Und wenn ich denn schon am Benennen bin, darf doch auch Nikolaus Böhm nicht fehlen: er wagte sich an das wohl „verrückteste“ Werk des Abends, nämlich an die 2. Sonate in g-moll, op 28, welche Reger im Jahr 1898, gleichsam in elterlicher Gefangenschaft in Weiden schrieb, verbannt (vom Bier und gesellschaftlichen Ablenkungen) ins einsame Kämmerle, das wohl explodiert ist ob all der unterdrückten musikalischen Energie des depressiven Max. (Depression ist ganz oft unterdrückte kreative Energie). Es war jene Lebensphase, als der junge Reger gegen aussen nur mit Karl Straube im Kontakt war, welcher die Orgelwerke des jungen Wilden unter die verwunderten Zeitgenossen brachte, die solche verorgelten Klangmassen seit Julius Reubke`s 94. Psalm (1858) nicht mehr gehört hatten und sicherlich damals auch noch kaum verstehen konnten.

    Die Koreanerin Sarah Kim berührte mit einer sehr musikantischen und auswendig vorgetragenen Exegese der zweiten Solo-Suite in d-moll. Ein grosses Talent!
    Die drei Suiten wuren geschöpft im Jahr 1915, als Reger sich nach dem Zusammenbruch aus eigenen Stücken wieder ins stille Kämmerlein zurückgezogen hatte und quasi als Kontrapunkt zum tobenden Weltkrieg seinem Idol Johann Sebastian Bach huldigte. Sarah Kim hat diese Stimmung wunderschön getroffen, mit luzidem und aetherischem Ton, aber auch mit beherztem Zugriff.

    Eros Janca widmete sich mit Kompetenz und Fulminanz dem Reifewerk op.78, dessen Klangmassen er so souverän und hemmungslos in den Saal wuchtete, dass es eine wahre Freude war. Und einmal mehr grossartig: Tamara Chitadze am Klavier.

    Last but not least sei Matthieu Gutbub erwähnt, der mit Souveränität die gelegentlichen Längen des dritten Werkes für Solocello mit Spannung füllen konnte. Der ausführliche Variationensatz ist ja nun wirklich ganz schwierig zusammenzuhalten. Das ist ihm allemal gelungen und das vorangehende Scherzo hat er mit Witz und Chuzpe gemeistert.

    Diese paar dürren Worte können den Leistungen der MusikerInnen mitnichten gerecht werden. Ein Niveauunterschied war ohnehin kaum zu vernehmen und jeder Exeget und jede Auslegerin war in der Lage ihre/seine Persönlichkeit hörbar zu machen.

    Deshalb soll auch noch einmal die famose Tamara Chitadze am Klavier erwähnt werden, die sich ja auf jede dieser verschiedenen Persönlichkeiten einlassen musste. Auch wenn Solches sicherlich zum täglichen Brot von KorrepetitorInnen gehören mag, erweckt eine solche Flexibilität immer wieder von Neuem meine Bewunderung. Wiederholt sei auf ihre technischen Fähigkeiten hingewiesen: diese vier hochkomplexen und pianistisch vertrackten Sonaten sind wohl das Schwierigste, was eine Klavierstimme in der Sonatenliteratur je darstellen muss. (Die technisch sicherlich auch anspruchsvolle aber pianistisch äusserst wohlgesetzte Rachmaninoff-Sonate ist ein Nasenwasser dagegen) und es ist eine Parforceleistung sondergleichen, alle Viere am gleichen Abend zu bewältigrn und dies erst noch in Weltklassequalität! Ein Himalaja-Trip! Die Hochschule Bern darf sich glücklich schätzen, eine solche Kapazität unter ihren Dozenten zu wissen. Mit ihr und Conradin Brotbek würde ich mir im Reger-Gedenkjahr eine Gesamtaufnahme der Cellosonaten wünschen.

    Die kenntnisreichen biographischen Notizen trug der profunde Reger-Kenner Prof. Dr. Roman Brotbeck bei. Seine anektotisch gefärbten Bemerkungen zu den Werken waren ungemein hilfreich für deren Verständnis. Sehr warm legte er übrigens dem Publikum die kürzlich erschienene Reger-Biographie „Werk statt Leben“ von Susanne Popp ans Herz, die in diesem Forum auch schon lobend Erwähnung fand. Brotbecks angenehm vorgetragenen Worte waren eine Bereicherung für den Anlass, und als souveräner Würstelkoch liess er zudem sein Talent als uomo universale aufblitzen...

    Die MusikerInnen und Dozenten offenbarten mir gestern in verdankenswerter Weise sieben mir bis anhin fast unbekannte Werke, in die ich mich sehr gerne noch tiefer versenken möchte. Zu diesem Zweck werde ich mir demnächst die Hyperion-Aufnahme mit Alban Gerhardt und Markus Becker anschaffen: Gerhardt traue ich es zu, das Niveau von Brotbek`s StudentInnen zu erreichen... (smile)

    Meine Begeisterung über den Anlass, die mich zu diesem Bericht nötigt, möge die werten ForianerInnen anregen, sich mit den ungemein reichhaltigen und vieldimensionalen Cellosonaten von Reger zu beschäftigen: es wartet ein Eldorado an goldenen Klangnuggets auf sie. Ein Goldrausch auf dem regerschen Kontinent lohnt sich allemal.

    Irgendwann werden ihn auch die Menschen auf dem asiatischen Kontinent entdecken: seinen Duft haben sie immerhin gestern in den überfüllten Arkaden der Berner Altstadt schon einmal gerochen. Vielleicht sind sogar einige wenige regersche Klangballungen (via das Seitengässchen, an welches der Musikaal grenzt) an oder gar in deren Ohrtor gedrungen. Die überaus regen Fernöstlichen - insbesondere die klassikfanatischen Chinesen - werden ohnehin dereinst unsere europäische Musikkultur retten, mit Sicherheit auch den missverstandenen und unterschätzten Max Legel.

    PS: Am Mittwoch, den 6. Juli, von 17h bis 23h findet an der Musikhochschule Stuttgart eine vergleichbare Veranstaltung statt, diesmal mit den Brotbek-StudentInnen aus Stuttgart, als da wären: Hugo Rannou, Lev Sivkov, Rustem Khamidullin, Sarah Kim, Mathias Johansen, Armand Fauchere und Stephan Buchmiller, zusammen mit ihren Klavier-Partnerinnen Hazel Beh, Izabela Melkonyan, Erika Tajima und Yukie Takai. Auch in Stuttgart wird Prof. Dr. Roman Brotbeck in einem Vortrag über Reger referieren.

    Ob in der Pause ebenfalls Tranksame und Magenlabung gereicht wird, ist dem Veranstaltungskalender nicht zu entnehmen. Aber so, wie ich den fürsorglichen Paedagogen Conradin Brotbek (notabene vormals der hochgeschätzte Lehrer meines Sohnes Raphael) und seinen Bruder Roman Brotbeck kenne, ist das nicht ganz auszuschliessen...

    Herzlich grüsst aus Bern der

    Walter

  • Herzlichen Dank, lieber Walter, für Deinen eindrucksvollen, ausführlichen Bericht aus Bern: Für mich, der Max Reger ohnehin zu seinen Favoriten zählt, gerade was die Kammermusik betrifft, eine starke Motivation, mich demnächst mal mit Regers Cello-Musik zu beschäftigen!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ja, die Beschäftigung mit Reger lohnt sich allemal, lieber Gurnemanz.
    Aber man muss schon dranbleiben an diesem dichtgewobenen Zeugs. Die Werke wollen dutzendemale zu Gemüte geführt werden. Gestern habe ich mir dreimal nacheinander das Klavierquartett op.133 angehört (eine wirklich tolle, klanglich sehr ausgewogene Naxos-Scheibe mit dem Aperto-Quartett, welche sicherlich schon 20mal im Player lag) und ich habe das Ding - ausser das spooky Scherzo - immer noch nicht ganz gepackt.

    Um das Statement von dir, lieber Micha, aufzunehmen, kann ich Dich versichern, dass auch mir bewusst ist, welch ein schwieriges Berufsleben auf alle diese vielen jungen, jetzt noch begeisterungsfähigen MusikerInnen wartet. Ich meine, Reger hat sich ja wirklich auch zu Tode gerackert, um mit seiner Musik leben zu können. Ich hoffe halt, dass sich die gesellschaftliche Wertschätzung gegenüber den musikalischen TraditionsträgerInnen nicht total verdünnisiert. Und ich bin eigentlich ganz zuversichtlich, da gerade in Krisenzeiten der Wert der Musik wieder eher erkannt und geschätzt wird. Jedenfalls wünsche ich allen hochengagierten Reger-ProtagonistInnen vom letzten Samstag eine befriedigende Zukunft mit ihrer Gabe (und etwas mehr dankbare ZuhörerInnen...)

    Ich sehe auch die pure Gnade, als unbelasteter Liebhaber mich in eine solche Klangorgie stürzen zu können, notabene bei freiem Eintritt, ohne Stress, einfach nur so zum Genuss... nun ja, ich kenne auch den Schmerz auf einem unbequemen Holzstuhl im Auditorium... und erlebe das Pieksen des Tinnitusteufelchens, welches seinen Dreizack irritierend in die regerschen Klangmassen steckt... dennoch empfand ich mich als reich beschenkt und hatte deswegen das grosse Bedürfnis - und fühlte mich geradezu verpflichtet - wenigstens ein geschriftstellertes Feedback auf den Anlass zu geben, wenn das Forum schon so eine feine Plattform für solche Ansinnen bietet.

    Ich wünsche mir sehr, lieber Micha, dass Du ob all den vielen Diensten, die Dich plagen und auslaugen, nicht vergessen mögest, welch eminent wichtiges „Heilungswerk“ Du mit Deinem anstrengenden Musikbeitrag doch leistest. Ein diesbezügliches Feedback wird dir zwar nicht unmittelbar zuteil, aber auf irgendeine verborgene Art und Weise wird es Dir mit Sicherheit irgendwie und irgendwann offenbart und Dir als "Mitschöpferlichkeit" verdankt werden!

    Jedenfalls schätze ich Deine Beiträge, die schriftlichen, wie auch die (grosszügig mit uns geteilten) musikalischen ungemein.
    Möge deine gelegentliche Mulmigkeit ab und an dem prallen Leben weichen, und ich bin fast sicher, dass das zwischendurch der Fall sein kann.

    Mit Gruss aus Bern
    Walter

  • Aber man muss schon dranbleiben an diesem dichtgewobenen Zeugs. Die Werke wollen dutzendemale zu Gemüte geführt werden. Gestern habe ich mir dreimal nacheinander das Klavierquartett op.133 angehört (eine wirklich tolle, klanglich sehr ausgewogene Naxos-Scheibe mit dem Aperto-Quartett, welche sicherlich schon 20mal im Player lag) und ich habe das Ding - ausser das spooky Scherzo - immer noch nicht ganz gepackt.

    Die Aufnahme mit dem Aperto-Quartett kenne ich nicht. Wärmstens empfehlen kann ich allerdings die Einspielung durch Claudius Tanski, Klavier, mit Mitgliedern des Mannheimer Streichquartetts, z. B. in dieser Kopplung (die beiden CDs gibt's auch einzeln):

    Das Klavierquartett a-moll op. 133 finde ich deutlich zugänglicher als das Klavierquartett d-moll op. 113. Letzteres hat einen tief-pathetischen Charakter, sehr ernst und mit viel tragischem Wollen. Jenes dagegen ist deutlich leichter, transparenter, musikantischer, dabei durchaus mit einiger Melancholie.

    Beim Mannheimer Streichquartett gefällt mir (auch und gerade in ihren Reger-Quartettaufnahmen), daß die Vier recht durchsichtig, überhaupt nich dick spielen, ohne es an dramatischer Verve fehlen zu lassen. Wenn man wie hier bei Reger die dichtgearbeitete kontrapunktische Struktur so fein durchscheinen läßt, wirkt seine Musik gar nicht mehr so dickflüssig und massiv, wie es Reger ja gern zugeschrieben wird.

    Wie bereits geschrieben: Für mich gehört Regers Kammermusik, soweit mir bislang bekannt, zum Schönsten und Berührendsten, das es auf diesem Gebiet gibt! Gerade das Klavierquartett op. 133 ist ein bedeutendes Beispiel seiner Kunst.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Auch von mir ganz herzlichen Dank an Walter für seinen wundervoll athmosphärisch dichten Konzertbericht,
    der mir gestern Abend ein intensives Hören der Reger'schen Cellosonaten bescherte - "ziemliches Neuland" für mich.
    Bis jetzt befanden sich in meinem Cello-Archiv nur die drei Solosuiten und die beiden "Zugaben-Miniaturen" "Caprice a-moll" und "kleine Romanze op. 79e".

    Ja, man müsste viel mehr Zeit für Musik haben und vor allem für "echte" live Erfahrungen ...
    Aber woher nehmen, wenn nicht "stehlen" -
    aus dem Etat für zwischenmenschliche Beziehungen, für berufliche Fortbildung, für sportliche Aktivitäten usw. ???

    Liebe Grüße,
    Berenice

    Colors are like music using a short cut to our senses to awake our emotions.

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