Turiner Rundfunkaufnahme 1953, Cantus Classics 2004
Irgendwie habe ich das Gefühl, daß viele - nicht alle - "Martha"-Liebhaber um diese Aufnahme einen großen Bogen machen, weil "deutsche Oper" und "französischer Einschlag" sich mit italienischem Gusto nicht immer zu vertragen scheinen. In manchen Fällen sicher, aber hier ist das anders. Francesco Molinari Pradelli packt die Sache zwar nicht von der "volkstümlich-schlichten" Seite an, sondern er gestaltet donizettihafte, beinahe möchte ich sagen große Oper - und es funktioniert begeisternd, perfekt, großartig. Nicht von ungefähr ist "Martha" bis heute südlich der Alpen fast beliebter als in unseren Landen. Ich frage mich sogar, ob diese in jeder Hinsicht italianisierte Fassung (die übrigens vollständiger ist als das, was man üblicherweise in den "Martha"-Gesamtaufnahmen zu hören bekommt) nicht sogar authentischer ist als die bieder-liebenswürdige Herz-Schmerz-Fassung (ich sage es absichtlich übertrieben). Natürlich muß man dazu wie hier eine traumhafte Besetzung zur Verfügung haben. Nicht zu vergessen auch die für 1953 hervorragende Tonqualität, an der höchstens die dem Zeitstil geschuldete leichte Halligkeit manche stören könnte (mich nicht!).
Elena Rizzieri als Lady Enrichetta besitzt nicht nur eine wunderschöne Stimme, sondern vermag auch durch ihre Wandlungsfähigkeit staunen zu machen. Sie schafft es anfangs, wirklich wie ein verzogenes Kind zu klingen, wechselt mühelos in einen soubrettigen Ton und beeindruckt dann wieder als lyrisch-dramatischer Sopran, dem man beinahe sogar Hochdramatisches zutrauen könnte. Die 1922 geborene Sängerin ist leider viel zu wenig bekannt, nicht einmal Wikipedia gönnt ihr bis jetzt eine eigene Biographie.
Ihr Lionello ist Francesco Tagliavini in Höchstform. Wie er "M'appari" singt, läßt andere Tenöre dagegen beinahe wirklich als Wirtshausvokalisten erscheinen. Bei ihm wird große musikalische Geste trotz aller Sentimentalität nie zum Schmalzbrei - das ist die große Kunst der italienischen Oper (bevor jemand jetzt protestschreit: Natürlich gibt es auch bei den Italienern Kitsch in jeder Form, doch Kitsch und große Kunst sind oft nahe benachbart und doch grundverschieden; hier bei dieser Aufnahme bin ich keinen Augenblick im Zweifel an der Sternstunde).
Tagliavinis Ehefrau Pia Tassinari ist die Nancy und was für eine! Stimmgewaltig, toll timbriert, vielfältig im Ausdruck, einfach super. Als Plumkett stellt Carlo Tagliabue eine Idealbesetzung dar. Die Stimme erinnert in dieser Rolle am ehesten an einen Kavalierbariton. Das paßt, das paßt ausgezeichnet. Plumkett ist dadurch weder zu alt noch zu komisch, sondern das was er ist: ein attraktives Mitglied der Gentry, das sich keineswegs zu verstecken braucht und den zum Freund zu haben, sowohl der Lady wie dem nunmehr gräflichen Lionello wohl ansteht. Bruno Carmassi legt den Mickleford nicht so sehr als Karikatur an, sondern bleibt Gentiluomo, was mir sehr gefällt. Auch die kleineren Rollen sind tadellos besetzt.
Das Gesamturteil: :spock:
Liebe Grüße
Waldi